Der erste, der sich jener That erdreistet;pba_587.002 Sie ist gethan, und er hat es geleistet.pba_587.003 Dann muß fortan nach magischem Behandelnpba_587.004 Der Weihrauchsnebel sich in Götter wandeln.
pba_587.005 Nichts Geringeres hat Aristoteles mit der Enthüllung des Geheimnisses pba_587.006 der tragischen Kunstform gethan und nichts Geringeres pba_587.007 Lessing, daß er sie aus "dem tiefsten, allertiefsten Grund" wieder ans pba_587.008 Licht brachte.
pba_587.009 Kein Zweifel, daß wenn Schiller die aristotelisch-lessingsche Lehre pba_587.010 von dieser Kunstform richtig erkannt hätte, seine tragische Dichtung noch pba_587.011 früher zu ihrer vollen Größe gelangt wäre, ja, daß wir ihm noch Herrlicheres pba_587.012 zu danken haben würden. Dafür ist ein vollgültiges Zeugnis, pba_587.013 daß auch ohne diese Erkenntnis er durch sein Genie auf den Weg der pba_587.014 Alten geführt wurde: in seiner "Braut von Messina". Die Lektüre pba_587.015 der antiken Tragiker und sein Umgang mit Goethe brachten ihn auf pba_587.016 diesen Weg. Jn einem nachgelassenen Fragmente untersucht er, welche pba_587.017 von beiden Dichtungsgattungen höher stehe, die Komödie oder die pba_587.018 Tragödie, und entscheidet: "Die Komödie setzt uns in einen höhern pba_587.019 Zustand, die Tragödie in eine höhere Thätigkeit. Unser Zustand pba_587.020 in der Komödie ist ruhig, klar, frei, heiter, wir fühlen uns weder thätig pba_587.021 noch leidend, wir schauen an, und alles bleibt außer uns; dies ist der pba_587.022 Zustand der Götter, die sich um nichts Menschliches bekümmern, die pba_587.023 über allem schweben, die kein Schicksal berührt, die kein Gesetz zwingt. pba_587.024 Aber wir sind Menschen, wir stehen unter dem Schicksal, wir sind unter pba_587.025 dem Zwang von Gesetzen. Es muß also eine höhere, rüstigere Kraft pba_587.026 in uns aufgeweckt und geübt werden, damit wir uns wiederherstellen pba_587.027 können, wenn jenes glückliche Gleichgewicht, worin die Komödie uns pba_587.028 fand, aufgehoben ist. Dort brauchten wir diese Kraft nicht, weil wir pba_587.029 mit nichts zu kämpfen hatten; aber hier müssen wir siegen und bedürfen pba_587.030 also der Kraft. Die Tragödie macht uns nicht zu Göttern, pba_587.031 weil Götter nicht leiden können; sie macht uns zu Heroen, d. i. zu pba_587.032 göttlichen Menschen oder, wenn man will, zu leidenden Göttern, pba_587.033 zu Titanen. Prometheus, der Held einer der schönsten pba_587.034 Tragödien, ist gewissermaßen ein Sinnbild der Tragödie pba_587.035 selbst."
pba_587.036 Jmmer freilich bleibt der Grundpfeiler seiner Theorie des Tragischen pba_587.037 unerschüttert, daß die sinnenfällige Vorführung des Leidens bestimmt pba_587.038 sei, der Jdee der Vernunftfreiheit zur siegenden Geltung zu verhelfen. pba_587.039 Hier wurzelt sein mächtiges Bestreben die entartete Bühne zu veredeln, pba_587.040 von der er in der Abhandlung "Über naive und sentimentalische
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Der erste, der sich jener That erdreistet;pba_587.002 Sie ist gethan, und er hat es geleistet.pba_587.003 Dann muß fortan nach magischem Behandelnpba_587.004 Der Weihrauchsnebel sich in Götter wandeln.
pba_587.005 Nichts Geringeres hat Aristoteles mit der Enthüllung des Geheimnisses pba_587.006 der tragischen Kunstform gethan und nichts Geringeres pba_587.007 Lessing, daß er sie aus „dem tiefsten, allertiefsten Grund“ wieder ans pba_587.008 Licht brachte.
pba_587.009 Kein Zweifel, daß wenn Schiller die aristotelisch-lessingsche Lehre pba_587.010 von dieser Kunstform richtig erkannt hätte, seine tragische Dichtung noch pba_587.011 früher zu ihrer vollen Größe gelangt wäre, ja, daß wir ihm noch Herrlicheres pba_587.012 zu danken haben würden. Dafür ist ein vollgültiges Zeugnis, pba_587.013 daß auch ohne diese Erkenntnis er durch sein Genie auf den Weg der pba_587.014 Alten geführt wurde: in seiner „Braut von Messina“. Die Lektüre pba_587.015 der antiken Tragiker und sein Umgang mit Goethe brachten ihn auf pba_587.016 diesen Weg. Jn einem nachgelassenen Fragmente untersucht er, welche pba_587.017 von beiden Dichtungsgattungen höher stehe, die Komödie oder die pba_587.018 Tragödie, und entscheidet: „Die Komödie setzt uns in einen höhern pba_587.019 Zustand, die Tragödie in eine höhere Thätigkeit. Unser Zustand pba_587.020 in der Komödie ist ruhig, klar, frei, heiter, wir fühlen uns weder thätig pba_587.021 noch leidend, wir schauen an, und alles bleibt außer uns; dies ist der pba_587.022 Zustand der Götter, die sich um nichts Menschliches bekümmern, die pba_587.023 über allem schweben, die kein Schicksal berührt, die kein Gesetz zwingt. pba_587.024 Aber wir sind Menschen, wir stehen unter dem Schicksal, wir sind unter pba_587.025 dem Zwang von Gesetzen. Es muß also eine höhere, rüstigere Kraft pba_587.026 in uns aufgeweckt und geübt werden, damit wir uns wiederherstellen pba_587.027 können, wenn jenes glückliche Gleichgewicht, worin die Komödie uns pba_587.028 fand, aufgehoben ist. Dort brauchten wir diese Kraft nicht, weil wir pba_587.029 mit nichts zu kämpfen hatten; aber hier müssen wir siegen und bedürfen pba_587.030 also der Kraft. Die Tragödie macht uns nicht zu Göttern, pba_587.031 weil Götter nicht leiden können; sie macht uns zu Heroen, d. i. zu pba_587.032 göttlichen Menschen oder, wenn man will, zu leidenden Göttern, pba_587.033 zu Titanen. Prometheus, der Held einer der schönsten pba_587.034 Tragödien, ist gewissermaßen ein Sinnbild der Tragödie pba_587.035 selbst.“
pba_587.036 Jmmer freilich bleibt der Grundpfeiler seiner Theorie des Tragischen pba_587.037 unerschüttert, daß die sinnenfällige Vorführung des Leidens bestimmt pba_587.038 sei, der Jdee der Vernunftfreiheit zur siegenden Geltung zu verhelfen. pba_587.039 Hier wurzelt sein mächtiges Bestreben die entartete Bühne zu veredeln, pba_587.040 von der er in der Abhandlung „Über naive und sentimentalische
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 587. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/605>, abgerufen am 23.11.2024.
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