Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.pba_504.001 Mir scheint hier nichts der Verwunderung wert: pba_504.005 Denn ward mir einige Weisheit auch, pba_504.006 Jst dieses Geschick von den Göttern verhängt, pba_504.007 Brach über ihn ein durch Chryses Zorn; pba_504.008 Auch was er, freundlicher Pflege beraubt, pba_504.009 Jetzt duldet, geschieht nach der Ewigen Rat, pba_504.010 Daß nicht auf Jlions Feste zu früh pba_504.011 Er spanne des Gott's unbezwinglich Geschoß, pba_504.012 Eh' nahte die Zeit, da sie diesem erliegt, pba_504.013 Wie's ihr nach dem Spruche verhängt ist. pba_504.014 Wohl muß er leben, weil ja noch nichts Böses starb. pba_504.017 Mit zarter Sorgfalt hegen das die Himmlischen; pba_504.018 Sie lieben, Tückevolles und Verschlagenes pba_504.019 Zurückzuführen aus des Hades Nacht, und stets pba_504.020 Hinabzusenden, was gerecht und edel ist. pba_504.021 Wie nenn' ich's? Soll ich's loben, wenn ich Götterthun pba_504.022 Bereit zu loben, Götter selbst als schlecht erfand? pba_504.023 Wie drohend alles, voll Gefahr, der Menschen Pfad pba_504.037
Umlagert, hier das Ungemach und dort das Glück. pba_504.038 Wer frei von Leid ist, blicke fürchtend auf das Leid pba_504.039 Und wer das Glück hat, schaue frei mit wachem Blick pba_504.040 Jns Leben, daß nicht ungeahnt der Fluch ihn trifft! pba_504.001 Mir scheint hier nichts der Verwunderung wert: pba_504.005 Denn ward mir einige Weisheit auch, pba_504.006 Jst dieses Geschick von den Göttern verhängt, pba_504.007 Brach über ihn ein durch Chryses Zorn; pba_504.008 Auch was er, freundlicher Pflege beraubt, pba_504.009 Jetzt duldet, geschieht nach der Ewigen Rat, pba_504.010 Daß nicht auf Jlions Feste zu früh pba_504.011 Er spanne des Gott's unbezwinglich Geschoß, pba_504.012 Eh' nahte die Zeit, da sie diesem erliegt, pba_504.013 Wie's ihr nach dem Spruche verhängt ist. pba_504.014 Wohl muß er leben, weil ja noch nichts Böses starb. pba_504.017 Mit zarter Sorgfalt hegen das die Himmlischen; pba_504.018 Sie lieben, Tückevolles und Verschlagenes pba_504.019 Zurückzuführen aus des Hades Nacht, und stets pba_504.020 Hinabzusenden, was gerecht und edel ist. pba_504.021 Wie nenn' ich's? Soll ich's loben, wenn ich Götterthun pba_504.022 Bereit zu loben, Götter selbst als schlecht erfand? pba_504.023 Wie drohend alles, voll Gefahr, der Menschen Pfad pba_504.037
Umlagert, hier das Ungemach und dort das Glück. pba_504.038 Wer frei von Leid ist, blicke fürchtend auf das Leid pba_504.039 Und wer das Glück hat, schaue frei mit wachem Blick pba_504.040 Jns Leben, daß nicht ungeahnt der Fluch ihn trifft! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0522" n="504"/><lb n="pba_504.001"/> Lebens Bedarf. Wie nur, o wie trägt es der Arme nur? Furchtbare <lb n="pba_504.002"/> Götterhand! Weh, unseliges Staubgeschlecht, maßlos duldend im Leben!“ <lb n="pba_504.003"/> Und darauf die Erwiderung des Neoptolemos:</p> <lb n="pba_504.004"/> <lg> <l>Mir scheint hier nichts der Verwunderung wert:</l> <lb n="pba_504.005"/> <l>Denn ward <hi rendition="#g">mir</hi> einige Weisheit auch,</l> <lb n="pba_504.006"/> <l>Jst dieses Geschick von den Göttern verhängt,</l> <lb n="pba_504.007"/> <l>Brach über ihn ein durch Chryses Zorn;</l> <lb n="pba_504.008"/> <l>Auch was er, freundlicher Pflege beraubt,</l> <lb n="pba_504.009"/> <l>Jetzt duldet, geschieht nach der Ewigen Rat,</l> <lb n="pba_504.010"/> <l>Daß nicht auf Jlions Feste zu früh</l> <lb n="pba_504.011"/> <l>Er spanne des Gott's unbezwinglich Geschoß,</l> <lb n="pba_504.012"/> <l>Eh' nahte die Zeit, da sie diesem erliegt,</l> <lb n="pba_504.013"/> <l>Wie's ihr nach dem Spruche verhängt ist.</l> </lg> <p><lb n="pba_504.014"/> Dagegen nun Philoktetes auf die Kunde, daß Patroklos mit den <lb n="pba_504.015"/> Besten dahingerafft ist und Thersites zurückkehrt:</p> <lb n="pba_504.016"/> <lg> <l>Wohl muß er leben, weil ja noch nichts Böses starb.</l> <lb n="pba_504.017"/> <l>Mit zarter Sorgfalt hegen das die Himmlischen;</l> <lb n="pba_504.018"/> <l>Sie lieben, Tückevolles und Verschlagenes</l> <lb n="pba_504.019"/> <l>Zurückzuführen aus des Hades Nacht, und stets</l> <lb n="pba_504.020"/> <l>Hinabzusenden, was gerecht und edel ist.</l> <lb n="pba_504.021"/> <l>Wie nenn' ich's? Soll ich's loben, wenn ich Götterthun</l> <lb n="pba_504.022"/> <l>Bereit zu loben, Götter selbst als schlecht erfand?</l> </lg> <p><lb n="pba_504.023"/> Also: das jammervolle Geschick, unter dem wir Philoktet leiden <lb n="pba_504.024"/> sehen, beruht auf einer Hamartie, die vor dem Stücke liegt, auf welche <lb n="pba_504.025"/> zwar immer wieder aufs neue hingewiesen wird, die aber nach ihren <lb n="pba_504.026"/> näheren Umständen im Dunkel bleibt. <hi rendition="#g">Tragisch furchtbar</hi> wird <lb n="pba_504.027"/> dieses Geschick allein dadurch, daß es die Seele des Leidenden zu dem <lb n="pba_504.028"/> eisernen Trotze verhärtet hat, der ihn die Fortdauer seiner Qualen der <lb n="pba_504.029"/> doch von den Göttern gebotenen Rettung durch seine Feinde vorziehen <lb n="pba_504.030"/> läßt. Dies ist die eigentliche, im Stücke selbst wirksame <hi rendition="#g">Hamartie</hi> <lb n="pba_504.031"/> des Helden: durch sie wird der entscheidende Ursachsanteil an dem, dadurch <lb n="pba_504.032"/> erst echt tragisch gestalteten, Leiden aus den Händen des dunkeln <lb n="pba_504.033"/> Geschickes in die Brust des Handelnden verlegt: dadurch allein erlangt <lb n="pba_504.034"/> es die Kraft, die Seele des Zuschauers mit der tragischen Furcht zu <lb n="pba_504.035"/> durchbeben, daß er dem gleichen preisgegeben sei, mit der Empfindung:</p> <lb n="pba_504.036"/> <lg> <l>Wie drohend alles, voll Gefahr, der Menschen Pfad</l> <lb n="pba_504.037"/> <l>Umlagert, hier das Ungemach und dort das Glück.</l> <lb n="pba_504.038"/> <l>Wer frei von Leid ist, blicke fürchtend auf das Leid</l> <lb n="pba_504.039"/> <l>Und wer das Glück hat, schaue frei mit wachem Blick</l> <lb n="pba_504.040"/> <l>Jns Leben, daß nicht ungeahnt der Fluch ihn trifft!</l> </lg> </div> </body> </text> </TEI> [504/0522]
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Lebens Bedarf. Wie nur, o wie trägt es der Arme nur? Furchtbare pba_504.002
Götterhand! Weh, unseliges Staubgeschlecht, maßlos duldend im Leben!“ pba_504.003
Und darauf die Erwiderung des Neoptolemos:
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Mir scheint hier nichts der Verwunderung wert: pba_504.005
Denn ward mir einige Weisheit auch, pba_504.006
Jst dieses Geschick von den Göttern verhängt, pba_504.007
Brach über ihn ein durch Chryses Zorn; pba_504.008
Auch was er, freundlicher Pflege beraubt, pba_504.009
Jetzt duldet, geschieht nach der Ewigen Rat, pba_504.010
Daß nicht auf Jlions Feste zu früh pba_504.011
Er spanne des Gott's unbezwinglich Geschoß, pba_504.012
Eh' nahte die Zeit, da sie diesem erliegt, pba_504.013
Wie's ihr nach dem Spruche verhängt ist.
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Dagegen nun Philoktetes auf die Kunde, daß Patroklos mit den pba_504.015
Besten dahingerafft ist und Thersites zurückkehrt:
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Wohl muß er leben, weil ja noch nichts Böses starb. pba_504.017
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Zurückzuführen aus des Hades Nacht, und stets pba_504.020
Hinabzusenden, was gerecht und edel ist. pba_504.021
Wie nenn' ich's? Soll ich's loben, wenn ich Götterthun pba_504.022
Bereit zu loben, Götter selbst als schlecht erfand?
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Also: das jammervolle Geschick, unter dem wir Philoktet leiden pba_504.024
sehen, beruht auf einer Hamartie, die vor dem Stücke liegt, auf welche pba_504.025
zwar immer wieder aufs neue hingewiesen wird, die aber nach ihren pba_504.026
näheren Umständen im Dunkel bleibt. Tragisch furchtbar wird pba_504.027
dieses Geschick allein dadurch, daß es die Seele des Leidenden zu dem pba_504.028
eisernen Trotze verhärtet hat, der ihn die Fortdauer seiner Qualen der pba_504.029
doch von den Göttern gebotenen Rettung durch seine Feinde vorziehen pba_504.030
läßt. Dies ist die eigentliche, im Stücke selbst wirksame Hamartie pba_504.031
des Helden: durch sie wird der entscheidende Ursachsanteil an dem, dadurch pba_504.032
erst echt tragisch gestalteten, Leiden aus den Händen des dunkeln pba_504.033
Geschickes in die Brust des Handelnden verlegt: dadurch allein erlangt pba_504.034
es die Kraft, die Seele des Zuschauers mit der tragischen Furcht zu pba_504.035
durchbeben, daß er dem gleichen preisgegeben sei, mit der Empfindung:
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Wie drohend alles, voll Gefahr, der Menschen Pfad pba_504.037
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Und wer das Glück hat, schaue frei mit wachem Blick pba_504.040
Jns Leben, daß nicht ungeahnt der Fluch ihn trifft!
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