pba_466.001 Die "Anagnorisis", die Erkennung von Personen oder pba_466.002 Sachumständen, die einen für das Glück der Beteiligten entscheidenden pba_466.003 Umschwung herbeiführt, und die "Peripetie", ein pba_466.004 Umschlag des Glückes in Unglück, den der Handelnde gerade pba_466.005 dadurch über sich hereinzieht, daß er mit aller Kraft auf das pba_466.006 entgegengesetzte Ziel hinarbeitet, beide Formen der tragischen pba_466.007 Verwickelung, d. h. also die beiden Hauptkennzeichen eines für tragische pba_466.008 Handlung geeigneten komplizierten Stoffes, sind in der Ödipussagepba_466.009 vereinigt vorhanden und zwar in einer nirgends so wiederzufindenden pba_466.010 Reinheit: typische Musterbeispiele. Jede dieser Formen würde pba_466.011 für sich die Brauchbarkeit eines Stoffes für die tragische Komposition pba_466.012 entscheiden, beide zusammen machen diesen Stoff im denkbar höchsten pba_466.013 Grade dazu geeignet.
pba_466.014 Die Anagnorisis ist deswegen in so typischer Reinheit dem Stoffe pba_466.015 eigen, weil schon mit dem Beginne der Handlung, ohne ein Verschulden pba_466.016 des Helden, und ohne daß durch die Handlung weiterhin das Geringste pba_466.017 dazu gethan werden braucht, das furchtbarste Schicksal unwiderruflich pba_466.018 besiegelt ist, so daß die Handlung selbst nur in der Herbeiführung eben pba_466.019 der "Erkennung" besteht.
pba_466.020 Diese Herbeiführung selbst aber schließt wiederum die Peripetiepba_466.021 in sich ein; und zwar so, daß die dem Handelnden unausweichlich angewiesene pba_466.022 Richtung seines eifrigsten Bestrebens mit Notwendigkeit auf pba_466.023 den entsetzlichen Umschlag seines glänzenden Glückes in das jammervollste pba_466.024 Elend hinauslaufen muß. Der Umstand, daß hier jede Möglichkeit pba_466.025 einer andern Handlungsweise, jede Wahl, jedes Schwanken oder pba_466.026 Zweifeln des Helden ausgeschlossen ist, macht ebenso die Peripetie der pba_466.027 Ödipussage zur reinsten ihrer Gattung.
pba_466.028 Es ist klar, daß die vermöge der Nachahmung durch Handelnde pba_466.029 der Vorstellungskraft in unmittelbarste Nähe gebrachte Wirkung eines pba_466.030 solchen Handlungsstoffes gleich excessiv in Mitleids- und Furchtempfindungpba_466.031 sein muß. Alle stärksten Pathemata des Mitleids bis pba_466.032 zum schmerzlichen Jammer (oiktos) müssen hier aufgeregt werden, ebenso pba_466.033 die Pathemata der Furcht bis zum Schauder (phrittein). Aber während pba_466.034 in den Händen eines mittelmäßigen Dichters aus solchem Stoff eine pba_466.035 Schauer-Tragödie oder ein Jammer- und Rührstück werden würde oder pba_466.036 auch eine widrige Mischung von beiden, ist es die Sache des Meisters, pba_466.037 durch kunstvolle Behandlung ihm die Kraft zu erteilen, aus dem Sturm pba_466.038 der Affekte zum in sich gehaltenen Gleichmaß der tragischen Empfindungen pba_466.039 zu führen, die schwer belastenden Dissonanzen zur beruhigten pba_466.040 Harmonie aufzulösen, durch die siegende Macht der ewig gültigen Em-
pba_466.001 Die „Anagnorisis“, die Erkennung von Personen oder pba_466.002 Sachumständen, die einen für das Glück der Beteiligten entscheidenden pba_466.003 Umschwung herbeiführt, und die „Peripetie“, ein pba_466.004 Umschlag des Glückes in Unglück, den der Handelnde gerade pba_466.005 dadurch über sich hereinzieht, daß er mit aller Kraft auf das pba_466.006 entgegengesetzte Ziel hinarbeitet, beide Formen der tragischen pba_466.007 Verwickelung, d. h. also die beiden Hauptkennzeichen eines für tragische pba_466.008 Handlung geeigneten komplizierten Stoffes, sind in der Ödipussagepba_466.009 vereinigt vorhanden und zwar in einer nirgends so wiederzufindenden pba_466.010 Reinheit: typische Musterbeispiele. Jede dieser Formen würde pba_466.011 für sich die Brauchbarkeit eines Stoffes für die tragische Komposition pba_466.012 entscheiden, beide zusammen machen diesen Stoff im denkbar höchsten pba_466.013 Grade dazu geeignet.
pba_466.014 Die Anagnorisis ist deswegen in so typischer Reinheit dem Stoffe pba_466.015 eigen, weil schon mit dem Beginne der Handlung, ohne ein Verschulden pba_466.016 des Helden, und ohne daß durch die Handlung weiterhin das Geringste pba_466.017 dazu gethan werden braucht, das furchtbarste Schicksal unwiderruflich pba_466.018 besiegelt ist, so daß die Handlung selbst nur in der Herbeiführung eben pba_466.019 der „Erkennung“ besteht.
pba_466.020 Diese Herbeiführung selbst aber schließt wiederum die Peripetiepba_466.021 in sich ein; und zwar so, daß die dem Handelnden unausweichlich angewiesene pba_466.022 Richtung seines eifrigsten Bestrebens mit Notwendigkeit auf pba_466.023 den entsetzlichen Umschlag seines glänzenden Glückes in das jammervollste pba_466.024 Elend hinauslaufen muß. Der Umstand, daß hier jede Möglichkeit pba_466.025 einer andern Handlungsweise, jede Wahl, jedes Schwanken oder pba_466.026 Zweifeln des Helden ausgeschlossen ist, macht ebenso die Peripetie der pba_466.027 Ödipussage zur reinsten ihrer Gattung.
pba_466.028 Es ist klar, daß die vermöge der Nachahmung durch Handelnde pba_466.029 der Vorstellungskraft in unmittelbarste Nähe gebrachte Wirkung eines pba_466.030 solchen Handlungsstoffes gleich excessiv in Mitleids- und Furchtempfindungpba_466.031 sein muß. Alle stärksten Pathemata des Mitleids bis pba_466.032 zum schmerzlichen Jammer (οἶκτος) müssen hier aufgeregt werden, ebenso pba_466.033 die Pathemata der Furcht bis zum Schauder (φρίττειν). Aber während pba_466.034 in den Händen eines mittelmäßigen Dichters aus solchem Stoff eine pba_466.035 Schauer-Tragödie oder ein Jammer- und Rührstück werden würde oder pba_466.036 auch eine widrige Mischung von beiden, ist es die Sache des Meisters, pba_466.037 durch kunstvolle Behandlung ihm die Kraft zu erteilen, aus dem Sturm pba_466.038 der Affekte zum in sich gehaltenen Gleichmaß der tragischen Empfindungen pba_466.039 zu führen, die schwer belastenden Dissonanzen zur beruhigten pba_466.040 Harmonie aufzulösen, durch die siegende Macht der ewig gültigen Em-
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pba_466.001
Die „Anagnorisis“, die Erkennung von Personen oder pba_466.002
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Diese Herbeiführung selbst aber schließt wiederum die Peripetie pba_466.021
in sich ein; und zwar so, daß die dem Handelnden unausweichlich angewiesene pba_466.022
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/484>, abgerufen am 22.11.2024.
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