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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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Empfindungen zurufen, die sich diesem Entzücken beeinträchtigend in den pba_029.002
Weg stellen, und mögen es die uns teuersten sein! Dann wäre es dem pba_029.003
Maler gelungen das Ethos der Naturwirkung nachahmend hervorzubringen; pba_029.004
der Dichter mußte den direkten Ausdruck desselben seinem Bilde pba_029.005
hinzufügen und ebenso von der überwiegenden Gewalt des Naturgefühls pba_029.006
über die stärkste individuelle Regung konnte er nur durch die direkte pba_029.007
Vorführung jenes Streites uns überzeugen.

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Mit Evidenz ergibt sich aus diesem Beispiel, bis zu welchem Grade pba_029.009
es als ein Fehlgriff zu bezeichnen ist, welcher in der Praxis notwendig pba_029.010
in die Jrre führen muß, wenn man der Poesie generell als ihren Gegenstand pba_029.011
"Handlungen" zuweist.

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Mit Evidenz zeigt sich aber auch daran, in welchem Sinne Lessings pba_029.013
Gesetz seine ganz unbestreitbare Richtigkeit hat; immer bleibt das Mittel pba_029.014
der Dichtung die Bezeichnung von Bewegungen, Vorgängen, ihr pba_029.015
Element ist das Successive; immer das Mittel der Malerei die Darstellung pba_029.016
von Körpern, Situationen, ihr Element ist das Koexistente; pba_029.017
die Gegenstände können beiden Künsten gemeinsam sein.

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Mit dem Takte des Genies hat Goethe dies erkannt, und in dieser pba_029.019
Beschränkung, aber eben auch nur so weit, läßt sich die Befolgung des pba_029.020
Lessingschen Gesetzes durch die gesamte Goethesche Dichtung als eines pba_029.021
der wirksamsten Mittel seiner Kunst nachweisen.

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Jeden Teil des koexistierenden Gesamtbildes, zu welchem der Maler pba_029.023
eine gesonderte Gruppe von Körpern in sorgfältigst ausgewählter Haltung pba_029.024
zueinander und in fein erwogener Beleuchtung gebraucht, zaubert er in pba_029.025
souveräner Beherrschung der Sprachmittel durch die lebhafteste Bezeichnung pba_029.026
des Bewegungsvorganges, welchem der eine Moment, den pba_029.027
das Bild allein aufzufassen vermag, als Mittelpunkt angehört, vor unser pba_029.028
geistiges Auge; ja, wo eine solche Bewegung fehlt, weiß er die ruhende pba_029.029
Situation
dennoch als das Resultat einer bewußten Energie des beseelten, pba_029.030
thätigen Waltens, als welches ihm überall die Naturerscheinungen pba_029.031
entgegentreten, aufzufassen und darzustellen. So, wenn es heißt: "Wie pba_029.032
ist Natur so hold und gut, die mich am Busen hält;" "weiche Nebel pba_029.033
trinken rings die türmende Ferne;" oder in "Willkommen und Abschied:" pba_029.034
"Der Abend wiegte schon die Erde, und an den Bergen hing pba_029.035
die Nacht;" "Schon stand im Nebelkleid die Eiche Ein aufgetürmter pba_029.036
Riese da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen pba_029.037
Augen sah;" ebenso schon in dem ganz frühen Jugendliede "Die schöne pba_029.038
Nacht:
" "Luna bricht durch Busch und Eichen, Zephyr meldet ihren pba_029.039
Lauf, Und die Birken streun mit Neigen Jhr den süßten Weihrauch pba_029.040
auf." Ein kontinuierliches Beispiel und ein wahres Kabinettstück dieser

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Empfindungen zurufen, die sich diesem Entzücken beeinträchtigend in den pba_029.002
Weg stellen, und mögen es die uns teuersten sein! Dann wäre es dem pba_029.003
Maler gelungen das Ethos der Naturwirkung nachahmend hervorzubringen; pba_029.004
der Dichter mußte den direkten Ausdruck desselben seinem Bilde pba_029.005
hinzufügen und ebenso von der überwiegenden Gewalt des Naturgefühls pba_029.006
über die stärkste individuelle Regung konnte er nur durch die direkte pba_029.007
Vorführung jenes Streites uns überzeugen.

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Mit Evidenz ergibt sich aus diesem Beispiel, bis zu welchem Grade pba_029.009
es als ein Fehlgriff zu bezeichnen ist, welcher in der Praxis notwendig pba_029.010
in die Jrre führen muß, wenn man der Poesie generell als ihren Gegenstand pba_029.011
„Handlungen“ zuweist.

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Mit Evidenz zeigt sich aber auch daran, in welchem Sinne Lessings pba_029.013
Gesetz seine ganz unbestreitbare Richtigkeit hat; immer bleibt das Mittel pba_029.014
der Dichtung die Bezeichnung von Bewegungen, Vorgängen, ihr pba_029.015
Element ist das Successive; immer das Mittel der Malerei die Darstellung pba_029.016
von Körpern, Situationen, ihr Element ist das Koexistente; pba_029.017
die Gegenstände können beiden Künsten gemeinsam sein.

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Mit dem Takte des Genies hat Goethe dies erkannt, und in dieser pba_029.019
Beschränkung, aber eben auch nur so weit, läßt sich die Befolgung des pba_029.020
Lessingschen Gesetzes durch die gesamte Goethesche Dichtung als eines pba_029.021
der wirksamsten Mittel seiner Kunst nachweisen.

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Jeden Teil des koexistierenden Gesamtbildes, zu welchem der Maler pba_029.023
eine gesonderte Gruppe von Körpern in sorgfältigst ausgewählter Haltung pba_029.024
zueinander und in fein erwogener Beleuchtung gebraucht, zaubert er in pba_029.025
souveräner Beherrschung der Sprachmittel durch die lebhafteste Bezeichnung pba_029.026
des Bewegungsvorganges, welchem der eine Moment, den pba_029.027
das Bild allein aufzufassen vermag, als Mittelpunkt angehört, vor unser pba_029.028
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Situation
dennoch als das Resultat einer bewußten Energie des beseelten, pba_029.030
thätigen Waltens, als welches ihm überall die Naturerscheinungen pba_029.031
entgegentreten, aufzufassen und darzustellen. So, wenn es heißt: „Wie pba_029.032
ist Natur so hold und gut, die mich am Busen hält;“ „weiche Nebel pba_029.033
trinken rings die türmende Ferne;“ oder in „Willkommen und Abschied:pba_029.034
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Riese da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen pba_029.037
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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/47>, abgerufen am 21.11.2024.