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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887.

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sagen- und mythenhaften Überlieferung nimmt, in unserer Dichtung so pba_265.002
unzureichende Behandlung gefunden hat. Der Grund ist keineswegs pba_265.003
der, daß, wie behauptet worden ist, die Gattung an sich unpoetisch wäre pba_265.004
-- wie käme es denn, daß fremden Religionen entnommene Stoffe pba_265.005
der höchsten dichterischen Wirkung dienstbar gemacht werden konnten, pba_265.006
wie das in Goethes herrlichem Gedichte "Der Gott und die Bajadere" pba_265.007
und in der "Paria-Legende" geschehen ist --, sondern der, daß man die pba_265.008
christliche Legende fast ausnahmslos mit christlich-moralischer oder pba_265.009
dogmatisch-mystischer Tendenz, also unpoetisch, behandelt hat.

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Als das klassische Muster der Gattung kann Goethes "Der Gott pba_265.011
und die Bajadere" gelten, und eine nähere Betrachtung des Gedichtes pba_265.012
eröffnet nach vielen Seiten sehr interessante Perspektiven. Die ethische pba_265.013
Umwandlung, die in dem Magdalenenmotiv enthalten ist, wird hier pba_265.014
auf rein pathetische Weise hervorgebracht, durch die bloße Nachahmung pba_265.015
der Empfindung. Das allgewaltige Pathos reiner Liebe, die stärker ist pba_265.016
als der Tod, bewirkt die Heiligung, welche so, statt dem Hörer nur pba_265.017
äußerlich als durch ein Wunder vollbracht mitgeteilt zu werden, in sein pba_265.018
eigenes Empfinden übergeht:

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Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder; pba_265.020
Unsterbliche heben verlorene Kinder pba_265.021
Mit feurigen Armen zum Himmel empor.

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Es ist derselbe Gedanke hier in epischer Gestaltung vorgeführt, wie pba_265.023
er im Faust II, 5, 876 lyrisch ausgesprochen ist:

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Gerettet ist das edle Glied pba_265.025
Der Geisterwelt vom Bösen: pba_265.026
.......... pba_265.027
Und hat an ihm die Liebe gar pba_265.028
Von oben teilgenommen, pba_265.029
Begegnet ihm die selige Schar pba_265.030
Mit herzlichem Willkommen.

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Der Hauptgrund, warum die spezifisch christliche Legende so leicht pba_265.032
mit den Gesetzen der Poesie in Widerstreit gerät, liegt offenbar darin, pba_265.033
daß, während ethnische Religionsgestaltungen fast immer das schon an pba_265.034
sich poetische Bestreben aufweisen, die geistigen Vorgänge durch sinnliche pba_265.035
Verkörperung dem Verständnis sowohl als der Empfindung näher pba_265.036
zu rücken, die christliche Lehre gerade dagegen mit schärfster Entschiedenheit pba_265.037
ankämpft und mit vollstem Recht das rein geistige Gebiet der pba_265.038
spezifisch religiösen und moralischen Empfindungen und Gedanken von pba_265.039
dem Gebiet der sinnlich-poetischen Empfindungen scheidet. Was der

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sagen- und mythenhaften Überlieferung nimmt, in unserer Dichtung so pba_265.002
unzureichende Behandlung gefunden hat. Der Grund ist keineswegs pba_265.003
der, daß, wie behauptet worden ist, die Gattung an sich unpoetisch wäre pba_265.004
— wie käme es denn, daß fremden Religionen entnommene Stoffe pba_265.005
der höchsten dichterischen Wirkung dienstbar gemacht werden konnten, pba_265.006
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und in der „Paria-Legende“ geschehen ist —, sondern der, daß man die pba_265.008
christliche Legende fast ausnahmslos mit christlich-moralischer oder pba_265.009
dogmatisch-mystischer Tendenz, also unpoetisch, behandelt hat.

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Als das klassische Muster der Gattung kann Goethes „Der Gott pba_265.011
und die Bajadere“ gelten, und eine nähere Betrachtung des Gedichtes pba_265.012
eröffnet nach vielen Seiten sehr interessante Perspektiven. Die ethische pba_265.013
Umwandlung, die in dem Magdalenenmotiv enthalten ist, wird hier pba_265.014
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als der Tod, bewirkt die Heiligung, welche so, statt dem Hörer nur pba_265.017
äußerlich als durch ein Wunder vollbracht mitgeteilt zu werden, in sein pba_265.018
eigenes Empfinden übergeht:

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Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder; pba_265.020
Unsterbliche heben verlorene Kinder pba_265.021
Mit feurigen Armen zum Himmel empor.

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Es ist derselbe Gedanke hier in epischer Gestaltung vorgeführt, wie pba_265.023
er im Faust II, 5, 876 lyrisch ausgesprochen ist:

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Gerettet ist das edle Glied pba_265.025
Der Geisterwelt vom Bösen: pba_265.026
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Und hat an ihm die Liebe gar pba_265.028
Von oben teilgenommen, pba_265.029
Begegnet ihm die selige Schar pba_265.030
Mit herzlichem Willkommen.

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Der Hauptgrund, warum die spezifisch christliche Legende so leicht pba_265.032
mit den Gesetzen der Poesie in Widerstreit gerät, liegt offenbar darin, pba_265.033
daß, während ethnische Religionsgestaltungen fast immer das schon an pba_265.034
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Verkörperung dem Verständnis sowohl als der Empfindung näher pba_265.036
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ankämpft und mit vollstem Recht das rein geistige Gebiet der pba_265.038
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[265/0283] pba_265.001 sagen- und mythenhaften Überlieferung nimmt, in unserer Dichtung so pba_265.002 unzureichende Behandlung gefunden hat. Der Grund ist keineswegs pba_265.003 der, daß, wie behauptet worden ist, die Gattung an sich unpoetisch wäre pba_265.004 — wie käme es denn, daß fremden Religionen entnommene Stoffe pba_265.005 der höchsten dichterischen Wirkung dienstbar gemacht werden konnten, pba_265.006 wie das in Goethes herrlichem Gedichte „Der Gott und die Bajadere“ pba_265.007 und in der „Paria-Legende“ geschehen ist —, sondern der, daß man die pba_265.008 christliche Legende fast ausnahmslos mit christlich-moralischer oder pba_265.009 dogmatisch-mystischer Tendenz, also unpoetisch, behandelt hat. pba_265.010 Als das klassische Muster der Gattung kann Goethes „Der Gott pba_265.011 und die Bajadere“ gelten, und eine nähere Betrachtung des Gedichtes pba_265.012 eröffnet nach vielen Seiten sehr interessante Perspektiven. Die ethische pba_265.013 Umwandlung, die in dem Magdalenenmotiv enthalten ist, wird hier pba_265.014 auf rein pathetische Weise hervorgebracht, durch die bloße Nachahmung pba_265.015 der Empfindung. Das allgewaltige Pathos reiner Liebe, die stärker ist pba_265.016 als der Tod, bewirkt die Heiligung, welche so, statt dem Hörer nur pba_265.017 äußerlich als durch ein Wunder vollbracht mitgeteilt zu werden, in sein pba_265.018 eigenes Empfinden übergeht: pba_265.019 Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder; pba_265.020 Unsterbliche heben verlorene Kinder pba_265.021 Mit feurigen Armen zum Himmel empor. pba_265.022 Es ist derselbe Gedanke hier in epischer Gestaltung vorgeführt, wie pba_265.023 er im Faust II, 5, 876 lyrisch ausgesprochen ist: pba_265.024 Gerettet ist das edle Glied pba_265.025 Der Geisterwelt vom Bösen: pba_265.026 .......... pba_265.027 Und hat an ihm die Liebe gar pba_265.028 Von oben teilgenommen, pba_265.029 Begegnet ihm die selige Schar pba_265.030 Mit herzlichem Willkommen. pba_265.031 Der Hauptgrund, warum die spezifisch christliche Legende so leicht pba_265.032 mit den Gesetzen der Poesie in Widerstreit gerät, liegt offenbar darin, pba_265.033 daß, während ethnische Religionsgestaltungen fast immer das schon an pba_265.034 sich poetische Bestreben aufweisen, die geistigen Vorgänge durch sinnliche pba_265.035 Verkörperung dem Verständnis sowohl als der Empfindung näher pba_265.036 zu rücken, die christliche Lehre gerade dagegen mit schärfster Entschiedenheit pba_265.037 ankämpft und mit vollstem Recht das rein geistige Gebiet der pba_265.038 spezifisch religiösen und moralischen Empfindungen und Gedanken von pba_265.039 dem Gebiet der sinnlich-poetischen Empfindungen scheidet. Was der

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Zitationshilfe: Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/283>, abgerufen am 02.05.2024.