pba_175.001 gorie wird entweder geradezu, sei es als Monolog, sei es als Gespräch, pba_175.002 irgend welchen einigermaßen dazu qualifizierten Tieren, mitunter auch pba_175.003 unbelebten Dingen in den Mund gelegt, oder sie wird durch dieselben pba_175.004 gewissermaßen als lebendes Bild oder auch als kleine Scene vorgeführt. pba_175.005 Merops, "mit dem Schwanz voraus, den Kopf gegen die Erde gekehrt, pba_175.006 in die Luft steigend" -- eine Allegorie "des Menschen, der gar zu gern pba_175.007 den Himmel erfliegen möchte, ohne die Erde auch nur einen Augenblick pba_175.008 aus dem Gesichte zu verlieren": das Bild beschreibt ein Adler, ein Uhu pba_175.009 gibt die Deutung (I, 24). Eine Allegorie auf "die heutigen Jtaliener, pba_175.010 die sich nichts Geringeres als Abkömmlinge der alten unsterblichen Römer pba_175.011 zu sein einbilden, weil sie auf ihren Gräbern geboren wurden", wird pba_175.012 durch einen Wespenschwarm in Scene gesetzt, der aus einem verwesten pba_175.013 Rosse hervordringt und sich seines hohen Ursprungs rühmt (I, 16). Der pba_175.014 mit ausgespannten Fittigen am Boden dahinlaufende Strauß: "Ein pba_175.015 poetisches Bild jener unpoetischen Köpfe, die in den ersten Zeilen ihrer pba_175.016 ungeheuren Oden mit stolzen Schwingen prahlen, sich über Wolken und pba_175.017 Sterne zu erheben drohen und dem Staube doch immer getreu bleiben" pba_175.018 (I, 18).
pba_175.019 Eine Reihe vortrefflicher Allegorien, aber keine Fabeln! Vortrefflicherpba_175.020 Allegorien! Das will sagen, lebensvoller Erfindungen, nicht toter pba_175.021 Schildereien. Auch die Allegorie ist eine poetische Darstellung, und zwar pba_175.022 ihrem Namen entsprechend durch das Mittel der Erzählung; selten pba_175.023 hat es Lessing versäumt -- freilich immer im Widerspruch zu seiner pba_175.024 Theorie -- durch Erdichtung innerer Handlung seinen Allegorien das pba_175.025 poetische Leben zu verleihen. Mit welcher skrupulösen Sorgfalt, mit pba_175.026 welchem meisterlichen Geschick ist er überall zu Werke gegangen! Der pba_175.027 mit ausgespannten Flügeln laufende Strauß wäre freilich nur ein Bildpba_175.028 gewesen, aber Lessing gibt dem Bilde das innere Leben, indem er seinen pba_175.029 Strauß handeln läßt: er leiht ihm die Absicht zu fliegen und läßt pba_175.030 ihn diese Absicht feierlich und wiederholt ankündigen -- "das ganze pba_175.031 Volk der Vögel stand in ernster Erwartung um ihn versammelt" -- pba_175.032 und er läßt ihn dann "gleich einem Schiff mit ausgespannten Segeln pba_175.033 auf dem Boden dahinschießen, ohne ihn mit einem Tritt zu verlieren". pba_175.034 Eine treffende und höchst lebendige Allegorie, aber alles Leben der Handlung pba_175.035 ist auf Veranlassung der vorschwebenden Deutung in sie hineingelegt:pba_175.036 eigenes, episches Leben, wodurch die tierische Handlung durch pba_175.037 sich selbst ergriffe, besitzt sie keines.
pba_175.038 Die Allegorie vermag in den unscheinbarsten Vorgang den tiefsten pba_175.039 Sinn zu legen. Eine alte Kirche wird ausgebessert, die Sperlinge finden pba_175.040 ihre Nester vermauert und fliegen davon: durch die Gesinnungsweise,
pba_175.001 gorie wird entweder geradezu, sei es als Monolog, sei es als Gespräch, pba_175.002 irgend welchen einigermaßen dazu qualifizierten Tieren, mitunter auch pba_175.003 unbelebten Dingen in den Mund gelegt, oder sie wird durch dieselben pba_175.004 gewissermaßen als lebendes Bild oder auch als kleine Scene vorgeführt. pba_175.005 Merops, „mit dem Schwanz voraus, den Kopf gegen die Erde gekehrt, pba_175.006 in die Luft steigend“ — eine Allegorie „des Menschen, der gar zu gern pba_175.007 den Himmel erfliegen möchte, ohne die Erde auch nur einen Augenblick pba_175.008 aus dem Gesichte zu verlieren“: das Bild beschreibt ein Adler, ein Uhu pba_175.009 gibt die Deutung (I, 24). Eine Allegorie auf „die heutigen Jtaliener, pba_175.010 die sich nichts Geringeres als Abkömmlinge der alten unsterblichen Römer pba_175.011 zu sein einbilden, weil sie auf ihren Gräbern geboren wurden“, wird pba_175.012 durch einen Wespenschwarm in Scene gesetzt, der aus einem verwesten pba_175.013 Rosse hervordringt und sich seines hohen Ursprungs rühmt (I, 16). Der pba_175.014 mit ausgespannten Fittigen am Boden dahinlaufende Strauß: „Ein pba_175.015 poetisches Bild jener unpoetischen Köpfe, die in den ersten Zeilen ihrer pba_175.016 ungeheuren Oden mit stolzen Schwingen prahlen, sich über Wolken und pba_175.017 Sterne zu erheben drohen und dem Staube doch immer getreu bleiben“ pba_175.018 (I, 18).
pba_175.019 Eine Reihe vortrefflicher Allegorien, aber keine Fabeln! Vortrefflicherpba_175.020 Allegorien! Das will sagen, lebensvoller Erfindungen, nicht toter pba_175.021 Schildereien. Auch die Allegorie ist eine poetische Darstellung, und zwar pba_175.022 ihrem Namen entsprechend durch das Mittel der Erzählung; selten pba_175.023 hat es Lessing versäumt — freilich immer im Widerspruch zu seiner pba_175.024 Theorie — durch Erdichtung innerer Handlung seinen Allegorien das pba_175.025 poetische Leben zu verleihen. Mit welcher skrupulösen Sorgfalt, mit pba_175.026 welchem meisterlichen Geschick ist er überall zu Werke gegangen! Der pba_175.027 mit ausgespannten Flügeln laufende Strauß wäre freilich nur ein Bildpba_175.028 gewesen, aber Lessing gibt dem Bilde das innere Leben, indem er seinen pba_175.029 Strauß handeln läßt: er leiht ihm die Absicht zu fliegen und läßt pba_175.030 ihn diese Absicht feierlich und wiederholt ankündigen — „das ganze pba_175.031 Volk der Vögel stand in ernster Erwartung um ihn versammelt“ — pba_175.032 und er läßt ihn dann „gleich einem Schiff mit ausgespannten Segeln pba_175.033 auf dem Boden dahinschießen, ohne ihn mit einem Tritt zu verlieren“. pba_175.034 Eine treffende und höchst lebendige Allegorie, aber alles Leben der Handlung pba_175.035 ist auf Veranlassung der vorschwebenden Deutung in sie hineingelegt:pba_175.036 eigenes, episches Leben, wodurch die tierische Handlung durch pba_175.037 sich selbst ergriffe, besitzt sie keines.
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Baumgart, Hermann: Handbuch der Poetik. Eine kritisch-theoretische Darstellung der Theorie der Dichtkunst. Stuttgart, 1887, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baumgart_poetik_1887/193>, abgerufen am 25.11.2024.
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