gestorben, der Säugling ruhe an der erstarrten Brust, die Knaben schrieen vor Verzweiflung und Hunger, die ältere Tochter sei heute ohnmächtig zusammengesunken -- kein Feuer, kein Brod, kein Geld ... Da sei er fort¬ gestürzt, die deutsche Kollegin aufzusuchen und ihr sein Leid zu klagen ... "Was ist zu thun? Der arme Mann verliert noch den Verstand."
Wir führten Brede in's Wohnzimmer, erquickten ihn mit Kaffee und suchten ihn zu trösten und zu be¬ ruhigen. Eiligst wurde Wein, Thee, Brod, Zucker in ein Körbchen gepackt. Louis suchte einen Schlitten auf¬ zutreiben und fuhr mit dem Unglücklichen nach der Woh¬ nung des Jammers, uns baldige Rückkehr versprechend.
Ich hielt mit der Mutter Kriegsrath, was zu thun sei, denn oberflächliche Hülfe konnte Brede nicht retten. Der Mann mußte die Mittel erhalten, um nach Deutsch¬ land zurückreisen zu können. Da erfaßte mich der Ge¬ danke, unserm lieben deutschen Pastor Muralt, an den sich jeder Hülfsbedürftige vertrauensvoll wenden durfte, dem Schutzengel der Ausländer, Alles mitzutheilen. "Thu' es, Lina," rief die Mutter, "man weiß ja, daß Muralt zu jeder Stunde bei den höchsten Herrschaften und den ersten Familien wie beim Bürgerstande als Fürsprecher willkommen ist. Er ist überdies unser Freund, er steht uns gewiß bei, nur rasch an ihn geschrieben!"
Mit wenig Worten schilderte ich die Lage der Fa¬ milie. Ich schrieb, wie mein Herz es mir diktirte, und trotz der Kälte trug unser Mädchen den Brief zum
geſtorben, der Säugling ruhe an der erſtarrten Bruſt, die Knaben ſchrieen vor Verzweiflung und Hunger, die ältere Tochter ſei heute ohnmächtig zuſammengeſunken — kein Feuer, kein Brod, kein Geld … Da ſei er fort¬ geſtürzt, die deutſche Kollegin aufzuſuchen und ihr ſein Leid zu klagen … »Was iſt zu thun? Der arme Mann verliert noch den Verſtand.«
Wir führten Brede in's Wohnzimmer, erquickten ihn mit Kaffee und ſuchten ihn zu tröſten und zu be¬ ruhigen. Eiligſt wurde Wein, Thee, Brod, Zucker in ein Körbchen gepackt. Louis ſuchte einen Schlitten auf¬ zutreiben und fuhr mit dem Unglücklichen nach der Woh¬ nung des Jammers, uns baldige Rückkehr verſprechend.
Ich hielt mit der Mutter Kriegsrath, was zu thun ſei, denn oberflächliche Hülfe konnte Brede nicht retten. Der Mann mußte die Mittel erhalten, um nach Deutſch¬ land zurückreiſen zu können. Da erfaßte mich der Ge¬ danke, unſerm lieben deutſchen Paſtor Muralt, an den ſich jeder Hülfsbedürftige vertrauensvoll wenden durfte, dem Schutzengel der Ausländer, Alles mitzutheilen. »Thu' es, Lina,« rief die Mutter, »man weiß ja, daß Muralt zu jeder Stunde bei den höchſten Herrſchaften und den erſten Familien wie beim Bürgerſtande als Fürſprecher willkommen iſt. Er iſt überdies unſer Freund, er ſteht uns gewiß bei, nur raſch an ihn geſchrieben!«
Mit wenig Worten ſchilderte ich die Lage der Fa¬ milie. Ich ſchrieb, wie mein Herz es mir diktirte, und trotz der Kälte trug unſer Mädchen den Brief zum
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geſtorben, der Säugling ruhe an der erſtarrten Bruſt,
die Knaben ſchrieen vor Verzweiflung und Hunger, die
ältere Tochter ſei heute ohnmächtig zuſammengeſunken —
kein Feuer, kein Brod, kein Geld … Da ſei er fort¬
geſtürzt, die deutſche Kollegin aufzuſuchen und ihr ſein
Leid zu klagen … »Was iſt zu thun? Der arme
Mann verliert noch den Verſtand.«
Wir führten Brede in's Wohnzimmer, erquickten
ihn mit Kaffee und ſuchten ihn zu tröſten und zu be¬
ruhigen. Eiligſt wurde Wein, Thee, Brod, Zucker in
ein Körbchen gepackt. Louis ſuchte einen Schlitten auf¬
zutreiben und fuhr mit dem Unglücklichen nach der Woh¬
nung des Jammers, uns baldige Rückkehr verſprechend.
Ich hielt mit der Mutter Kriegsrath, was zu thun
ſei, denn oberflächliche Hülfe konnte Brede nicht retten.
Der Mann mußte die Mittel erhalten, um nach Deutſch¬
land zurückreiſen zu können. Da erfaßte mich der Ge¬
danke, unſerm lieben deutſchen Paſtor Muralt, an den
ſich jeder Hülfsbedürftige vertrauensvoll wenden durfte,
dem Schutzengel der Ausländer, Alles mitzutheilen.
»Thu' es, Lina,« rief die Mutter, »man weiß ja, daß
Muralt zu jeder Stunde bei den höchſten Herrſchaften
und den erſten Familien wie beim Bürgerſtande als
Fürſprecher willkommen iſt. Er iſt überdies unſer Freund,
er ſteht uns gewiß bei, nur raſch an ihn geſchrieben!«
Mit wenig Worten ſchilderte ich die Lage der Fa¬
milie. Ich ſchrieb, wie mein Herz es mir diktirte, und
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Bauer, Karoline: Aus meinem Bühnenleben. Berlin, 1871, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bauer_buehnenleben_1871/262>, abgerufen am 22.11.2024.
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