in wievielen andern sie sich ihr leider entzogen 6). Man könnte aber noch weitergehen. Nicht nur direkt war Kant von Locke und Hume geführt; auf dem Wege über Rousseau, der die Idee seines Gesellschaftsvertrages England verdankt, berührten ihn auch die Ideen Sidneys. Und nächst Kant sind die beiden grössten deutschen Philosophen jener Zeit in die englische Schule gegangen: Franz von Baader, die flammende Pyramide der deutschen Philosophie, und Georg Christoph Lichtenberg, ihr einziger Humorist. Beide verlebten wichtigste Jahre ihrer intellektuellen Entwicklung in Eng- land7). Die aber zuerst eine neue Wirklichkeit aufzubauen versuchten nach dem moralischen Chaos, in dem Ludwig XIV. die Welt hinterliess, waren Franzosen: Rousseau und Voltaire.
In Deutschland wurde noch um die theologische Metaphysik gestritten zu einem Zeitpunkt, da englische Philosophen schon alle Moral aus den Leistungen und Taten ableiteten, die die Gesellschaft fördern 8); als in Frank- reich Rousseau die gütigen Instinkte zu erlösen und Voltaire den religiösen Fanatismus zu bezwingen versuchten. Nicolai zeigte an einem fiktiven Gespräch zwischen dem englischen Botschafter Goschen und dem deutschen Reichskanzler Bethmann-Hollweg, wie 1914 sich englische "Nützlichkeits- philosophie" und wie sich der "kategorische Imperativ" bewährten 9): Der deutsche Generalstab brach die belgische Neutralität, das englische Volk aber fühlte sich zum Schutz eines Vertrages verpflichtet, der Belgiens Neutralität garan- tierte. Die Barockkonstruktionen weltfremder deutscher Universitätsprofessoren hielten nicht stand. Sie hatten das Volk nicht erreicht, das von Pfaffen und Fürsten zerschmettert war. Das moralische Gesetz in der Brust, das sich dem Sternenhimmel verwandt fühlte, vergass seine nächste Um- gebung, und die "moralische Weltordnung", auf die der deutsche Professor so stolz ist, existierte nur für ihn.
Kants Leistung ist gross und unsterblich. Er hat nicht
in wievielen andern sie sich ihr leider entzogen 6). Man könnte aber noch weitergehen. Nicht nur direkt war Kant von Locke und Hume geführt; auf dem Wege über Rousseau, der die Idee seines Gesellschaftsvertrages England verdankt, berührten ihn auch die Ideen Sidneys. Und nächst Kant sind die beiden grössten deutschen Philosophen jener Zeit in die englische Schule gegangen: Franz von Baader, die flammende Pyramide der deutschen Philosophie, und Georg Christoph Lichtenberg, ihr einziger Humorist. Beide verlebten wichtigste Jahre ihrer intellektuellen Entwicklung in Eng- land7). Die aber zuerst eine neue Wirklichkeit aufzubauen versuchten nach dem moralischen Chaos, in dem Ludwig XIV. die Welt hinterliess, waren Franzosen: Rousseau und Voltaire.
In Deutschland wurde noch um die theologische Metaphysik gestritten zu einem Zeitpunkt, da englische Philosophen schon alle Moral aus den Leistungen und Taten ableiteten, die die Gesellschaft fördern 8); als in Frank- reich Rousseau die gütigen Instinkte zu erlösen und Voltaire den religiösen Fanatismus zu bezwingen versuchten. Nicolai zeigte an einem fiktiven Gespräch zwischen dem englischen Botschafter Goschen und dem deutschen Reichskanzler Bethmann-Hollweg, wie 1914 sich englische „Nützlichkeits- philosophie“ und wie sich der „kategorische Imperativ“ bewährten 9): Der deutsche Generalstab brach die belgische Neutralität, das englische Volk aber fühlte sich zum Schutz eines Vertrages verpflichtet, der Belgiens Neutralität garan- tierte. Die Barockkonstruktionen weltfremder deutscher Universitätsprofessoren hielten nicht stand. Sie hatten das Volk nicht erreicht, das von Pfaffen und Fürsten zerschmettert war. Das moralische Gesetz in der Brust, das sich dem Sternenhimmel verwandt fühlte, vergass seine nächste Um- gebung, und die „moralische Weltordnung“, auf die der deutsche Professor so stolz ist, existierte nur für ihn.
Kants Leistung ist gross und unsterblich. Er hat nicht
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aber noch weitergehen. Nicht nur direkt war Kant von
Locke und Hume geführt; auf dem Wege über Rousseau,
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berührten ihn auch die Ideen Sidneys. Und nächst Kant
sind die beiden grössten deutschen Philosophen jener Zeit
in die englische Schule gegangen: Franz von Baader, die
flammende Pyramide der deutschen Philosophie, und Georg
Christoph Lichtenberg, ihr einziger Humorist. Beide verlebten
wichtigste Jahre ihrer intellektuellen Entwicklung in Eng-
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. Die aber zuerst eine neue Wirklichkeit aufzubauen
versuchten nach dem moralischen Chaos, in dem Ludwig
XIV. die Welt hinterliess, waren Franzosen: Rousseau und
Voltaire.
In Deutschland wurde noch um die theologische
Metaphysik gestritten zu einem Zeitpunkt, da englische
Philosophen schon alle Moral aus den Leistungen und
Taten ableiteten, die die Gesellschaft fördern
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; als in Frank-
reich Rousseau die gütigen Instinkte zu erlösen und Voltaire
den religiösen Fanatismus zu bezwingen versuchten. Nicolai
zeigte an einem fiktiven Gespräch zwischen dem englischen
Botschafter Goschen und dem deutschen Reichskanzler
Bethmann-Hollweg, wie 1914 sich englische „Nützlichkeits-
philosophie“ und wie sich der „kategorische Imperativ“
bewährten
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: Der deutsche Generalstab brach die belgische
Neutralität, das englische Volk aber fühlte sich zum Schutz
eines Vertrages verpflichtet, der Belgiens Neutralität garan-
tierte. Die Barockkonstruktionen weltfremder deutscher
Universitätsprofessoren hielten nicht stand. Sie hatten das
Volk nicht erreicht, das von Pfaffen und Fürsten zerschmettert
war. Das moralische Gesetz in der Brust, das sich dem
Sternenhimmel verwandt fühlte, vergass seine nächste Um-
gebung, und die „moralische Weltordnung“, auf die der
deutsche Professor so stolz ist, existierte nur für ihn.
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/62>, abgerufen am 18.12.2024.
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