zerfolterten Menschen gibt Gott Zeichen. Wer mit Kühnheit, Ungestüm und Ernst diese Zeichen fordere, dem gebe sie Gott. Die christliche Kirche geht auf Christus, nicht auf Paulus zurück. Man muss auf den inwendigen Christus dringen. Luther habe nur halb reformiert: es muss eine ganz reine Kirche von lauter echten Kindern Gottes gesammelt werden, die mit dem Geiste Gottes begabt und von ihm selbst regiert werden, ein Reich der Heiligen auf Erden. Gottlos sei, nicht durch Leiden Christus ähnlich werden zu wollen. Alles Böse, alles die freie Entfaltung jedes Einzelnen Hemmende solle abgetan werden. "Der Sohn Gottes sagte: die Schrift gibt Zeugnis. Diese Schrift- gelehrten aber sagen, sie gibt den Glauben". Jeglicher Mensch, auch ein Heide, ohne alle Bibel, könne den Glauben haben 43).
Er greift Luthers Rechtfertigungslehre an: Eine tote Glaubenslehre sei dem Evangelium schädlicher als die Lehre der Päpste. "Des Ziels wird weit gefehlt, so man predigt, der Glaube mache rechtfertig und nicht die Werke". Der Himmel, in den der Mensch versetzt werden soll, sei in diesem Leben noch zu suchen und zu finden. Den heiligen Geist hat jeder Mensch, denn er ist nichts anderes als unsere Vernunft und unser Verstand. Es gibt keine Hölle oder Verdammnis und sündigen kann nur, wer den heiligen Geist, das heisst Vernunft hat. Die Natur wolle, dass man dem Nächsten tun soll, was man sich selbst wolle getan haben. Solches Wollen sei der Glaube 44).
Er verwirft die "wollüstige Lehre", dass Christus für alle Sünden genug getan habe; verwirft den Heiligenkult, die Lehre vom Fegfeuer und die Fürbitte für die Toten. Christus sei nicht Gott, sondern allein ein Prophet und Lehrer. Münzer ass "die Herrgötter", wie er die Hostien nannte, un- geweiht, und erregte damit sogar Carlstadts Entsetzen, der ihm schrieb: "Ut autem cesses hostiam sustollere, et hortor et obsecro, quod blasphemia est in Christum cruzifixum" 45).
zerfolterten Menschen gibt Gott Zeichen. Wer mit Kühnheit, Ungestüm und Ernst diese Zeichen fordere, dem gebe sie Gott. Die christliche Kirche geht auf Christus, nicht auf Paulus zurück. Man muss auf den inwendigen Christus dringen. Luther habe nur halb reformiert: es muss eine ganz reine Kirche von lauter echten Kindern Gottes gesammelt werden, die mit dem Geiste Gottes begabt und von ihm selbst regiert werden, ein Reich der Heiligen auf Erden. Gottlos sei, nicht durch Leiden Christus ähnlich werden zu wollen. Alles Böse, alles die freie Entfaltung jedes Einzelnen Hemmende solle abgetan werden. „Der Sohn Gottes sagte: die Schrift gibt Zeugnis. Diese Schrift- gelehrten aber sagen, sie gibt den Glauben“. Jeglicher Mensch, auch ein Heide, ohne alle Bibel, könne den Glauben haben 43).
Er greift Luthers Rechtfertigungslehre an: Eine tote Glaubenslehre sei dem Evangelium schädlicher als die Lehre der Päpste. „Des Ziels wird weit gefehlt, so man predigt, der Glaube mache rechtfertig und nicht die Werke“. Der Himmel, in den der Mensch versetzt werden soll, sei in diesem Leben noch zu suchen und zu finden. Den heiligen Geist hat jeder Mensch, denn er ist nichts anderes als unsere Vernunft und unser Verstand. Es gibt keine Hölle oder Verdammnis und sündigen kann nur, wer den heiligen Geist, das heisst Vernunft hat. Die Natur wolle, dass man dem Nächsten tun soll, was man sich selbst wolle getan haben. Solches Wollen sei der Glaube 44).
Er verwirft die „wollüstige Lehre“, dass Christus für alle Sünden genug getan habe; verwirft den Heiligenkult, die Lehre vom Fegfeuer und die Fürbitte für die Toten. Christus sei nicht Gott, sondern allein ein Prophet und Lehrer. Münzer ass „die Herrgötter“, wie er die Hostien nannte, un- geweiht, und erregte damit sogar Carlstadts Entsetzen, der ihm schrieb: „Ut autem cesses hostiam sustollere, et hortor et obsecro, quod blasphemia est in Christum cruzifixum“ 45).
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0049"n="41"/>
zerfolterten Menschen gibt Gott Zeichen. Wer mit Kühnheit,<lb/>
Ungestüm und Ernst diese Zeichen fordere, dem gebe sie<lb/>
Gott. Die christliche Kirche geht auf Christus, nicht auf<lb/>
Paulus zurück. Man muss auf den inwendigen Christus<lb/>
dringen. Luther habe nur halb reformiert: es muss eine<lb/>
ganz reine Kirche von lauter echten Kindern Gottes<lb/>
gesammelt werden, die mit dem Geiste Gottes begabt und<lb/>
von ihm selbst regiert werden, ein Reich der Heiligen auf<lb/>
Erden. Gottlos sei, nicht durch Leiden Christus ähnlich<lb/>
werden zu wollen. Alles Böse, alles die freie Entfaltung<lb/>
jedes Einzelnen Hemmende solle abgetan werden. „Der<lb/>
Sohn Gottes sagte: die Schrift gibt Zeugnis. Diese Schrift-<lb/>
gelehrten aber sagen, sie gibt den Glauben“. Jeglicher<lb/>
Mensch, auch ein Heide, ohne alle Bibel, könne den<lb/>
Glauben haben <notexml:id="id43a"next="id43a43a"place="end"n="43)"/>.</p><lb/><p>Er greift Luthers Rechtfertigungslehre an: Eine tote<lb/>
Glaubenslehre sei dem Evangelium schädlicher als die<lb/>
Lehre der Päpste. „Des Ziels wird weit gefehlt, so man<lb/>
predigt, der Glaube mache rechtfertig und nicht die Werke“.<lb/>
Der Himmel, in den der Mensch versetzt werden soll, sei<lb/>
in diesem Leben noch zu suchen und zu finden. Den heiligen<lb/>
Geist hat jeder Mensch, denn er ist nichts anderes als unsere<lb/>
Vernunft und unser Verstand. Es gibt keine Hölle oder<lb/>
Verdammnis und sündigen kann nur, wer den heiligen<lb/>
Geist, das heisst Vernunft hat. Die Natur wolle, dass man<lb/>
dem Nächsten tun soll, was man sich selbst wolle getan<lb/>
haben. Solches Wollen sei der Glaube <notexml:id="id44a"next="id44a44a"place="end"n="44)"/>.</p><lb/><p>Er verwirft die „wollüstige Lehre“, dass Christus für<lb/>
alle Sünden genug getan habe; verwirft den Heiligenkult, die<lb/>
Lehre vom Fegfeuer und die Fürbitte für die Toten. Christus<lb/>
sei nicht Gott, sondern allein ein Prophet und Lehrer.<lb/>
Münzer ass „die Herrgötter“, wie er die Hostien nannte, un-<lb/>
geweiht, und erregte damit sogar Carlstadts Entsetzen, der ihm<lb/>
schrieb: „Ut autem cesses hostiam sustollere, et hortor et<lb/>
obsecro, quod blasphemia est in Christum cruzifixum“<notexml:id="id45a"next="id45a45a"place="end"n="45)"/>.</p><lb/></div></div></body></text></TEI>
[41/0049]
zerfolterten Menschen gibt Gott Zeichen. Wer mit Kühnheit,
Ungestüm und Ernst diese Zeichen fordere, dem gebe sie
Gott. Die christliche Kirche geht auf Christus, nicht auf
Paulus zurück. Man muss auf den inwendigen Christus
dringen. Luther habe nur halb reformiert: es muss eine
ganz reine Kirche von lauter echten Kindern Gottes
gesammelt werden, die mit dem Geiste Gottes begabt und
von ihm selbst regiert werden, ein Reich der Heiligen auf
Erden. Gottlos sei, nicht durch Leiden Christus ähnlich
werden zu wollen. Alles Böse, alles die freie Entfaltung
jedes Einzelnen Hemmende solle abgetan werden. „Der
Sohn Gottes sagte: die Schrift gibt Zeugnis. Diese Schrift-
gelehrten aber sagen, sie gibt den Glauben“. Jeglicher
Mensch, auch ein Heide, ohne alle Bibel, könne den
Glauben haben
⁴³⁾
.
Er greift Luthers Rechtfertigungslehre an: Eine tote
Glaubenslehre sei dem Evangelium schädlicher als die
Lehre der Päpste. „Des Ziels wird weit gefehlt, so man
predigt, der Glaube mache rechtfertig und nicht die Werke“.
Der Himmel, in den der Mensch versetzt werden soll, sei
in diesem Leben noch zu suchen und zu finden. Den heiligen
Geist hat jeder Mensch, denn er ist nichts anderes als unsere
Vernunft und unser Verstand. Es gibt keine Hölle oder
Verdammnis und sündigen kann nur, wer den heiligen
Geist, das heisst Vernunft hat. Die Natur wolle, dass man
dem Nächsten tun soll, was man sich selbst wolle getan
haben. Solches Wollen sei der Glaube
⁴⁴⁾
.
Er verwirft die „wollüstige Lehre“, dass Christus für
alle Sünden genug getan habe; verwirft den Heiligenkult, die
Lehre vom Fegfeuer und die Fürbitte für die Toten. Christus
sei nicht Gott, sondern allein ein Prophet und Lehrer.
Münzer ass „die Herrgötter“, wie er die Hostien nannte, un-
geweiht, und erregte damit sogar Carlstadts Entsetzen, der ihm
schrieb: „Ut autem cesses hostiam sustollere, et hortor et
obsecro, quod blasphemia est in Christum cruzifixum“
⁴⁵⁾
.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 41. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/49>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.