im Widerspruch mit dem bestehenden Irrwisch; das ist ihr Leiden, ihr Witz, ihre Tragik. Sie treten hervor, und alle Pseudologie ist gerichtet. Franz von Baader und Schopen- hauer waren von dieser Art. Ganze Generationen von Dunkel- männern sind nötig, um dem panischen Schreck zu begegnen, der sich des Alltags bemächtigt. Die Tragik liegt nicht im persönlichen Schicksal derer, die das Erlebnis bringen, sondern im plötzlichen Aufleuchten einer Vernunft, die von sich selber am tiefsten erschüttert ist. Die kathedralische Ordnung der Dinge verlangt ans Licht. Pessimismus ist nur ein Wort für den Zwiespalt des Möglichen mit dem Er- schauten. Prophet sein heisst um den Grundriss wissen, den kommende Völker zum Dombau vollenden.
Münzer war ein Prophet. Ganz Russland nahm er voraus und die Aufklärung, die er geheiligt hat vor ihrem Erstehen. Er hatte keinen glücklichen Biographen. Melanch- thon, der Freund Luthers, sinistrer Verfasser der Augs- burgischen Konfession, der bald zwei, bald sieben, bald neun Sakramente annahm, war nicht geboren, das Leben dieses Mannes zu erfassen, in dem sich ein glühender Phantasieschwung paarte mit eiserner Energie, unbändige Freiheitslust mit demütigster Liebe zur leidenden Kreatur. Noch fand sich niemand, der alle Aeusserungen, Briefe und Schriften Münzers vorurteilslos gesammelt hat in Archiven und Urkunden seiner Zeit. Gleichwohl ist so viel überliefert, dass wir ein Bild haben seiner Persönlichkeit.
Das Studium der Bibel, mystischer und apokalyptischer Schriften erzog ihn. Er soll keine profanen Bücher gelesen haben mit Ausnahme der Schriften Luthers. Als seinen Lehrer nennt er den calabresischen Abt Joachim, einen Propheten des 12. Jahrhunderts, der da lehrte, "es werde das Zeitalter des Geistes kommen und mit ihm die Liebe, die Freude und die Freiheit. Alle Buchstabengelehrsamkeit werde untergehen und der Geist frei hervortreten aus der Hülle des Buchstabens. Das Evangelium des Buchstabens
im Widerspruch mit dem bestehenden Irrwisch; das ist ihr Leiden, ihr Witz, ihre Tragik. Sie treten hervor, und alle Pseudologie ist gerichtet. Franz von Baader und Schopen- hauer waren von dieser Art. Ganze Generationen von Dunkel- männern sind nötig, um dem panischen Schreck zu begegnen, der sich des Alltags bemächtigt. Die Tragik liegt nicht im persönlichen Schicksal derer, die das Erlebnis bringen, sondern im plötzlichen Aufleuchten einer Vernunft, die von sich selber am tiefsten erschüttert ist. Die kathedralische Ordnung der Dinge verlangt ans Licht. Pessimismus ist nur ein Wort für den Zwiespalt des Möglichen mit dem Er- schauten. Prophet sein heisst um den Grundriss wissen, den kommende Völker zum Dombau vollenden.
Münzer war ein Prophet. Ganz Russland nahm er voraus und die Aufklärung, die er geheiligt hat vor ihrem Erstehen. Er hatte keinen glücklichen Biographen. Melanch- thon, der Freund Luthers, sinistrer Verfasser der Augs- burgischen Konfession, der bald zwei, bald sieben, bald neun Sakramente annahm, war nicht geboren, das Leben dieses Mannes zu erfassen, in dem sich ein glühender Phantasieschwung paarte mit eiserner Energie, unbändige Freiheitslust mit demütigster Liebe zur leidenden Kreatur. Noch fand sich niemand, der alle Aeusserungen, Briefe und Schriften Münzers vorurteilslos gesammelt hat in Archiven und Urkunden seiner Zeit. Gleichwohl ist so viel überliefert, dass wir ein Bild haben seiner Persönlichkeit.
Das Studium der Bibel, mystischer und apokalyptischer Schriften erzog ihn. Er soll keine profanen Bücher gelesen haben mit Ausnahme der Schriften Luthers. Als seinen Lehrer nennt er den calabresischen Abt Joachim, einen Propheten des 12. Jahrhunderts, der da lehrte, „es werde das Zeitalter des Geistes kommen und mit ihm die Liebe, die Freude und die Freiheit. Alle Buchstabengelehrsamkeit werde untergehen und der Geist frei hervortreten aus der Hülle des Buchstabens. Das Evangelium des Buchstabens
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im Widerspruch mit dem bestehenden Irrwisch; das ist
ihr Leiden, ihr Witz, ihre Tragik. Sie treten hervor, und
alle Pseudologie ist gerichtet. Franz von Baader und Schopen-
hauer waren von dieser Art. Ganze Generationen von Dunkel-
männern sind nötig, um dem panischen Schreck zu begegnen,
der sich des Alltags bemächtigt. Die Tragik liegt nicht im
persönlichen Schicksal derer, die das Erlebnis bringen,
sondern im plötzlichen Aufleuchten einer Vernunft, die
von sich selber am tiefsten erschüttert ist. Die kathedralische
Ordnung der Dinge verlangt ans Licht. Pessimismus ist nur
ein Wort für den Zwiespalt des Möglichen mit dem Er-
schauten. Prophet sein heisst um den Grundriss wissen,
den kommende Völker zum Dombau vollenden.
Münzer war ein Prophet. Ganz Russland nahm er
voraus und die Aufklärung, die er geheiligt hat vor ihrem
Erstehen. Er hatte keinen glücklichen Biographen. Melanch-
thon, der Freund Luthers, sinistrer Verfasser der Augs-
burgischen Konfession, der bald zwei, bald sieben, bald
neun Sakramente annahm, war nicht geboren, das Leben
dieses Mannes zu erfassen, in dem sich ein glühender
Phantasieschwung paarte mit eiserner Energie, unbändige
Freiheitslust mit demütigster Liebe zur leidenden Kreatur.
Noch fand sich niemand, der alle Aeusserungen, Briefe
und Schriften Münzers vorurteilslos gesammelt hat in
Archiven und Urkunden seiner Zeit. Gleichwohl ist so viel
überliefert, dass wir ein Bild haben seiner Persönlichkeit.
Das Studium der Bibel, mystischer und apokalyptischer
Schriften erzog ihn. Er soll keine profanen Bücher gelesen
haben mit Ausnahme der Schriften Luthers. Als seinen
Lehrer nennt er den calabresischen Abt Joachim, einen
Propheten des 12. Jahrhunderts, der da lehrte, „es werde
das Zeitalter des Geistes kommen und mit ihm die Liebe,
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werde untergehen und der Geist frei hervortreten aus der
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/47>, abgerufen am 21.11.2024.
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