Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite

einen hämischen Rückblick auf unerreichbare spirituelle
Ideale zeitlebens nicht verkneifen. Aber auch eine harmlose
Bejahung der Sinne, wie sie der italienischen Renaissance
geläufig war, und das gute Gewissen physischen und seelischen
Wohlgefühls blieb ihm versagt. Daher das Misstrauen gegen
Hutten, den Mann des offenen Paniers, und das Misstrauen
gegen Erasmus, den ironischen aufgeklärten Humanisten.
Daher jene intellektuelle Unsicherheit und die abergläubische
Angst, mit der Luther sich an den Bibeltext als den Kompass
in allen Fährnissen und Problemen der Zeit anklammerte.
Daher auch die pogromistische Voreingenommenheit gegen
das Ueberhandnehmen des welschen Renaissancegeistes in
Deutschland, trotzdem man ihm huldigte 24).

Luther wurde der Prophet eines Bürgertums, das sich
sein wohlbestalltes Schlaraffentum nicht verkümmern zu
lassen gewillt war, und doch in geheuchelter Angst vor
Gerichtstag und Abrechnung sich tiefe Verworfenheit und
sündige Inferiorität suggerierte. Aller Pharisäismus des
Protestanten und eine gewisse banausische Instinktverlogen-
heit zeigen auf den Mönch von Wittenberg zurück. Der
Erfolg seiner zweifelhaften Lehre schuf jene unsichere Be-
gehrlichkeit, deren politischer Ausdruck das heutige offizielle
Deutschland ist; jene Unredlichkeit des Gewissens, die keine
klaren Prinzipien schätzt; die ein beständiges Schwanken
zwischen Moral und Appetit, zwischen Verboten und Er-
laubt, zwischen Wahrheit und Heuchelei darstellt; eine
Gesinnung, die Wilhelm Raabe vortrefflich, wenn auch mit
mehr goldenem Humor, als sie verträgt, in seinem "Hunger-
pastor" gekennzeichnet hat: "Mit dem Hunger nach der
Unendlichkeit wird der Mensch geboren; er spürt ihn
früh; aber wenn er in die Jahre des Verstandes kommt,
erstickt er ihn meistens leicht und schnell. Es gibt so
angenehme und nahrhafte Sachen auf der Erde, es gibt
so vieles, was man gerne in den Mund oder in die Tasche
schiebt".

einen hämischen Rückblick auf unerreichbare spirituelle
Ideale zeitlebens nicht verkneifen. Aber auch eine harmlose
Bejahung der Sinne, wie sie der italienischen Renaissance
geläufig war, und das gute Gewissen physischen und seelischen
Wohlgefühls blieb ihm versagt. Daher das Misstrauen gegen
Hutten, den Mann des offenen Paniers, und das Misstrauen
gegen Erasmus, den ironischen aufgeklärten Humanisten.
Daher jene intellektuelle Unsicherheit und die abergläubische
Angst, mit der Luther sich an den Bibeltext als den Kompass
in allen Fährnissen und Problemen der Zeit anklammerte.
Daher auch die pogromistische Voreingenommenheit gegen
das Ueberhandnehmen des welschen Renaissancegeistes in
Deutschland, trotzdem man ihm huldigte 24).

Luther wurde der Prophet eines Bürgertums, das sich
sein wohlbestalltes Schlaraffentum nicht verkümmern zu
lassen gewillt war, und doch in geheuchelter Angst vor
Gerichtstag und Abrechnung sich tiefe Verworfenheit und
sündige Inferiorität suggerierte. Aller Pharisäismus des
Protestanten und eine gewisse banausische Instinktverlogen-
heit zeigen auf den Mönch von Wittenberg zurück. Der
Erfolg seiner zweifelhaften Lehre schuf jene unsichere Be-
gehrlichkeit, deren politischer Ausdruck das heutige offizielle
Deutschland ist; jene Unredlichkeit des Gewissens, die keine
klaren Prinzipien schätzt; die ein beständiges Schwanken
zwischen Moral und Appetit, zwischen Verboten und Er-
laubt, zwischen Wahrheit und Heuchelei darstellt; eine
Gesinnung, die Wilhelm Raabe vortrefflich, wenn auch mit
mehr goldenem Humor, als sie verträgt, in seinem „Hunger-
pastor“ gekennzeichnet hat: „Mit dem Hunger nach der
Unendlichkeit wird der Mensch geboren; er spürt ihn
früh; aber wenn er in die Jahre des Verstandes kommt,
erstickt er ihn meistens leicht und schnell. Es gibt so
angenehme und nahrhafte Sachen auf der Erde, es gibt
so vieles, was man gerne in den Mund oder in die Tasche
schiebt“.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0037" n="29"/>
einen hämischen Rückblick auf unerreichbare spirituelle<lb/>
Ideale zeitlebens nicht verkneifen. Aber auch eine harmlose<lb/>
Bejahung der Sinne, wie sie der italienischen Renaissance<lb/>
geläufig war, und das gute Gewissen physischen und seelischen<lb/>
Wohlgefühls blieb ihm versagt. Daher das Misstrauen gegen<lb/>
Hutten, den Mann des offenen Paniers, und das Misstrauen<lb/>
gegen Erasmus, den ironischen aufgeklärten Humanisten.<lb/>
Daher jene intellektuelle Unsicherheit und die abergläubische<lb/>
Angst, mit der Luther sich an den Bibeltext als den Kompass<lb/>
in allen Fährnissen und Problemen der Zeit anklammerte.<lb/>
Daher auch die pogromistische Voreingenommenheit gegen<lb/>
das Ueberhandnehmen des welschen Renaissancegeistes in<lb/>
Deutschland, trotzdem man ihm huldigte <note xml:id="id24a" next="id24a24a" place="end" n="24)"/>.</p><lb/>
          <p>Luther wurde der Prophet eines Bürgertums, das sich<lb/>
sein wohlbestalltes Schlaraffentum nicht verkümmern zu<lb/>
lassen gewillt war, und doch in geheuchelter Angst vor<lb/>
Gerichtstag und Abrechnung sich tiefe Verworfenheit und<lb/>
sündige Inferiorität suggerierte. Aller Pharisäismus des<lb/>
Protestanten und eine gewisse banausische Instinktverlogen-<lb/>
heit zeigen auf den Mönch von Wittenberg zurück. Der<lb/>
Erfolg seiner zweifelhaften Lehre schuf jene unsichere Be-<lb/>
gehrlichkeit, deren politischer Ausdruck das heutige offizielle<lb/>
Deutschland ist; jene Unredlichkeit des Gewissens, die keine<lb/>
klaren Prinzipien schätzt; die ein beständiges Schwanken<lb/>
zwischen Moral und Appetit, zwischen Verboten und Er-<lb/>
laubt, zwischen Wahrheit und Heuchelei darstellt; eine<lb/>
Gesinnung, die Wilhelm Raabe vortrefflich, wenn auch mit<lb/>
mehr goldenem Humor, als sie verträgt, in seinem &#x201E;Hunger-<lb/>
pastor&#x201C; gekennzeichnet hat: &#x201E;Mit dem Hunger nach der<lb/>
Unendlichkeit wird der Mensch geboren; er spürt ihn<lb/>
früh; aber wenn er in die Jahre des Verstandes kommt,<lb/>
erstickt er ihn meistens leicht und schnell. Es gibt so<lb/>
angenehme und nahrhafte Sachen auf der Erde, es gibt<lb/>
so vieles, was man gerne in den Mund oder in die Tasche<lb/>
schiebt&#x201C;.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[29/0037] einen hämischen Rückblick auf unerreichbare spirituelle Ideale zeitlebens nicht verkneifen. Aber auch eine harmlose Bejahung der Sinne, wie sie der italienischen Renaissance geläufig war, und das gute Gewissen physischen und seelischen Wohlgefühls blieb ihm versagt. Daher das Misstrauen gegen Hutten, den Mann des offenen Paniers, und das Misstrauen gegen Erasmus, den ironischen aufgeklärten Humanisten. Daher jene intellektuelle Unsicherheit und die abergläubische Angst, mit der Luther sich an den Bibeltext als den Kompass in allen Fährnissen und Problemen der Zeit anklammerte. Daher auch die pogromistische Voreingenommenheit gegen das Ueberhandnehmen des welschen Renaissancegeistes in Deutschland, trotzdem man ihm huldigte ²⁴⁾ . Luther wurde der Prophet eines Bürgertums, das sich sein wohlbestalltes Schlaraffentum nicht verkümmern zu lassen gewillt war, und doch in geheuchelter Angst vor Gerichtstag und Abrechnung sich tiefe Verworfenheit und sündige Inferiorität suggerierte. Aller Pharisäismus des Protestanten und eine gewisse banausische Instinktverlogen- heit zeigen auf den Mönch von Wittenberg zurück. Der Erfolg seiner zweifelhaften Lehre schuf jene unsichere Be- gehrlichkeit, deren politischer Ausdruck das heutige offizielle Deutschland ist; jene Unredlichkeit des Gewissens, die keine klaren Prinzipien schätzt; die ein beständiges Schwanken zwischen Moral und Appetit, zwischen Verboten und Er- laubt, zwischen Wahrheit und Heuchelei darstellt; eine Gesinnung, die Wilhelm Raabe vortrefflich, wenn auch mit mehr goldenem Humor, als sie verträgt, in seinem „Hunger- pastor“ gekennzeichnet hat: „Mit dem Hunger nach der Unendlichkeit wird der Mensch geboren; er spürt ihn früh; aber wenn er in die Jahre des Verstandes kommt, erstickt er ihn meistens leicht und schnell. Es gibt so angenehme und nahrhafte Sachen auf der Erde, es gibt so vieles, was man gerne in den Mund oder in die Tasche schiebt“.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/37
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/37>, abgerufen am 29.03.2024.