Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

Bild:
<< vorherige Seite
suppen, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt abgestandener wurden.
Für die philosophischen Bedürfnisse der Bourgeoisie aber sorgte
eine Reihe von Modephilosophen, von denen einer den anderen
ablöste, je nach der wechselnden Entwicklung des Kapitalismus.
Von Anfang der fünfziger Jahre bis etwa in die Mitte der sech-
ziger war Schopenhauer der Mann des Tages, (!) der Philosoph
des geängstigten Spiessbürgertums, der wütende Hasser Hegels,
der Leugner jeder historischen Entwicklung, ein Schriftsteller nicht
ohne paradoxen Witz (!), nicht ohne ein reiches, wenn auch
mehr weitläufiges, als eindringendes und umfassendes Wissen,
nicht ohne einen Abglanz der klassischen Literatur, die er zum
Teil noch unter Goethes sonnenhaften Augen mit erlebt hatte,
aber in seiner duckmäuserigen, eigensüchtigen und lästernden Weise
doch recht das geistige Abbild des Bürgertums, das, erschreckt
durch den Lärm der Waffen, sich zitternd wie Espenlaub auf
seine Rente zurückzog und die Ideale seiner grössten Zeit wie
die Pest verschwor." Wahrlich ein klassisches Urteil! Der wütende
Hegelhasser, das ist es! Die Hegel'sche Philosophie mit ihrem
Glauben an die in der Geschichte selbsttätig sich immer mehr
verwirklichende Vernunft, der Hegel-Marx'sche Evolutionismus,
der freilich galt Schopenhauern als "halb verrückt".
116) Volkelt, "Artur Schopenhauer", S. 250: "Dann aber
hören wir plötzlich, dass die Welt an sich einen moralischen
Sinn habe. Die stärksten Ausdrücke sind für Schopenhauer noch
immer kaum stark genug, wenn er die naturalistische Weltan-
schauung brandmarken will. Er hält es für den ,fundamentalen'
und ,verderblichsten Irrtum', ja für ,eigentliche Perversität der
Gesinnung', wenn der Welt ,bloss eine physische, keine mora-
lische Bedeutung' gegeben wird. ,Die Hauptsache des mensch-
lichen Lebens ist sein ethischer, für die Ewigkeit geltender Wert'.
Schon in seiner Jugend bemerkte Schopenhauer gegen Schelling,
dass das Moralische das Allerrealste sei, dem gegenüber alles,
was sonst real erscheint, in Nichtigkeit versinke". -- Man vergleiche
die darauffolgenden Ausführungen über Sünde, Schuld und Busse
(S. 251/56): "Jetzt darf von einer heiligen moralischen Ordnung
der Welt -- freilich ist sie von furchtbarer Art -- die Rede sein.
Das Leiden der Welt rechtfertigt sich durch die zugrunde liegende
Schuld. Mann kann aus Schopenhauer den guten Sinn heraus-
lesen: das Bejahen des Lebens sei eben als gieriges, besinnungs-
loses
Bejahen die Urschuld".
117) In Wagners "Nibelungen" und insbesondere in der Ge-
stalt Wotans (des Kriegs- und Schlachtengottes) kam Schopen-
suppen, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt abgestandener wurden.
Für die philosophischen Bedürfnisse der Bourgeoisie aber sorgte
eine Reihe von Modephilosophen, von denen einer den anderen
ablöste, je nach der wechselnden Entwicklung des Kapitalismus.
Von Anfang der fünfziger Jahre bis etwa in die Mitte der sech-
ziger war Schopenhauer der Mann des Tages, (!) der Philosoph
des geängstigten Spiessbürgertums, der wütende Hasser Hegels,
der Leugner jeder historischen Entwicklung, ein Schriftsteller nicht
ohne paradoxen Witz (!), nicht ohne ein reiches, wenn auch
mehr weitläufiges, als eindringendes und umfassendes Wissen,
nicht ohne einen Abglanz der klassischen Literatur, die er zum
Teil noch unter Goethes sonnenhaften Augen mit erlebt hatte,
aber in seiner duckmäuserigen, eigensüchtigen und lästernden Weise
doch recht das geistige Abbild des Bürgertums, das, erschreckt
durch den Lärm der Waffen, sich zitternd wie Espenlaub auf
seine Rente zurückzog und die Ideale seiner grössten Zeit wie
die Pest verschwor.“ Wahrlich ein klassisches Urteil! Der wütende
Hegelhasser, das ist es! Die Hegel'sche Philosophie mit ihrem
Glauben an die in der Geschichte selbsttätig sich immer mehr
verwirklichende Vernunft, der Hegel-Marx'sche Evolutionismus,
der freilich galt Schopenhauern als „halb verrückt“.
116) Volkelt, „Artur Schopenhauer“, S. 250: „Dann aber
hören wir plötzlich, dass die Welt an sich einen moralischen
Sinn habe. Die stärksten Ausdrücke sind für Schopenhauer noch
immer kaum stark genug, wenn er die naturalistische Weltan-
schauung brandmarken will. Er hält es für den ‚fundamentalen‘
und ‚verderblichsten Irrtum‘, ja für ‚eigentliche Perversität der
Gesinnung‘, wenn der Welt ‚bloss eine physische, keine mora-
lische Bedeutung‘ gegeben wird. ‚Die Hauptsache des mensch-
lichen Lebens ist sein ethischer, für die Ewigkeit geltender Wert‘.
Schon in seiner Jugend bemerkte Schopenhauer gegen Schelling,
dass das Moralische das Allerrealste sei, dem gegenüber alles,
was sonst real erscheint, in Nichtigkeit versinke“. — Man vergleiche
die darauffolgenden Ausführungen über Sünde, Schuld und Busse
(S. 251/56): „Jetzt darf von einer heiligen moralischen Ordnung
der Welt — freilich ist sie von furchtbarer Art — die Rede sein.
Das Leiden der Welt rechtfertigt sich durch die zugrunde liegende
Schuld. Mann kann aus Schopenhauer den guten Sinn heraus-
lesen: das Bejahen des Lebens sei eben als gieriges, besinnungs-
loses
Bejahen die Urschuld“.
117) In Wagners „Nibelungen“ und insbesondere in der Ge-
stalt Wotans (des Kriegs- und Schlachtengottes) kam Schopen-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <note xml:id="id115b115d" prev="id115d" place="end" n="115)"><pb facs="#f0328" n="320"/>
suppen, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt abgestandener wurden.<lb/>
Für die philosophischen Bedürfnisse der Bourgeoisie aber sorgte<lb/>
eine Reihe von <hi rendition="#i">Modephilosophen,</hi> von denen einer den anderen<lb/>
ablöste, je nach der wechselnden Entwicklung des Kapitalismus.<lb/>
Von Anfang der fünfziger Jahre bis etwa in die Mitte der sech-<lb/>
ziger war Schopenhauer <hi rendition="#i">der Mann des Tages,</hi> (!) der Philosoph<lb/>
des geängstigten Spiessbürgertums, der wütende Hasser Hegels,<lb/>
der Leugner jeder historischen Entwicklung, ein Schriftsteller nicht<lb/>
ohne paradoxen Witz (!), nicht ohne ein reiches, wenn auch<lb/>
mehr weitläufiges, als eindringendes und umfassendes Wissen,<lb/>
nicht ohne einen Abglanz der klassischen Literatur, die er zum<lb/>
Teil noch unter Goethes sonnenhaften Augen mit erlebt hatte,<lb/>
aber in seiner <hi rendition="#i">duckmäuserigen, eigensüchtigen</hi> und <hi rendition="#i">lästernden Weise</hi><lb/>
doch recht das geistige Abbild des Bürgertums, das, erschreckt<lb/>
durch den Lärm der Waffen, sich zitternd wie Espenlaub auf<lb/>
seine Rente zurückzog und die Ideale seiner grössten Zeit wie<lb/>
die Pest verschwor.&#x201C; Wahrlich ein klassisches Urteil! Der wütende<lb/>
Hegelhasser, das ist es! Die Hegel'sche Philosophie mit ihrem<lb/>
Glauben an die in der Geschichte selbsttätig sich immer mehr<lb/>
verwirklichende Vernunft, der Hegel-Marx'sche Evolutionismus,<lb/>
der freilich galt Schopenhauern als &#x201E;halb verrückt&#x201C;.</note><lb/>
            <note xml:id="id116b116d" prev="id116d" place="end" n="116)"> Volkelt, &#x201E;Artur Schopenhauer&#x201C;, S. 250: &#x201E;Dann aber<lb/>
hören wir plötzlich, dass die Welt an sich einen moralischen<lb/>
Sinn habe. Die stärksten Ausdrücke sind für Schopenhauer noch<lb/>
immer kaum stark genug, wenn er die naturalistische Weltan-<lb/>
schauung brandmarken will. Er hält es für den &#x201A;fundamentalen&#x2018;<lb/>
und &#x201A;verderblichsten Irrtum&#x2018;, ja für &#x201A;eigentliche Perversität der<lb/>
Gesinnung&#x2018;, wenn der Welt &#x201A;bloss eine physische, keine mora-<lb/>
lische Bedeutung&#x2018; gegeben wird. &#x201A;Die Hauptsache des mensch-<lb/>
lichen Lebens ist sein ethischer, für die Ewigkeit geltender Wert&#x2018;.<lb/>
Schon in seiner Jugend bemerkte Schopenhauer gegen Schelling,<lb/>
dass das Moralische das <hi rendition="#i">Allerrealste</hi> sei, dem gegenüber alles,<lb/>
was sonst real erscheint, in Nichtigkeit versinke&#x201C;. &#x2014; Man vergleiche<lb/>
die darauffolgenden Ausführungen über Sünde, Schuld und Busse<lb/>
(S. 251/56): &#x201E;Jetzt darf von einer heiligen moralischen Ordnung<lb/>
der Welt &#x2014; freilich ist sie von furchtbarer Art &#x2014; die Rede sein.<lb/>
Das Leiden der Welt rechtfertigt sich durch die zugrunde liegende<lb/>
Schuld. Mann kann aus Schopenhauer den guten Sinn heraus-<lb/>
lesen: das Bejahen des Lebens sei eben als <hi rendition="#i">gieriges, besinnungs-<lb/>
loses</hi> Bejahen die Urschuld&#x201C;.</note><lb/>
            <note xml:id="id117b117d" prev="id117d" place="end" n="117)"> In Wagners &#x201E;Nibelungen&#x201C; und insbesondere in der Ge-<lb/>
stalt Wotans (des Kriegs- und Schlachtengottes) kam Schopen-<lb/></note>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[320/0328] ¹¹⁵⁾ suppen, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt abgestandener wurden. Für die philosophischen Bedürfnisse der Bourgeoisie aber sorgte eine Reihe von Modephilosophen, von denen einer den anderen ablöste, je nach der wechselnden Entwicklung des Kapitalismus. Von Anfang der fünfziger Jahre bis etwa in die Mitte der sech- ziger war Schopenhauer der Mann des Tages, (!) der Philosoph des geängstigten Spiessbürgertums, der wütende Hasser Hegels, der Leugner jeder historischen Entwicklung, ein Schriftsteller nicht ohne paradoxen Witz (!), nicht ohne ein reiches, wenn auch mehr weitläufiges, als eindringendes und umfassendes Wissen, nicht ohne einen Abglanz der klassischen Literatur, die er zum Teil noch unter Goethes sonnenhaften Augen mit erlebt hatte, aber in seiner duckmäuserigen, eigensüchtigen und lästernden Weise doch recht das geistige Abbild des Bürgertums, das, erschreckt durch den Lärm der Waffen, sich zitternd wie Espenlaub auf seine Rente zurückzog und die Ideale seiner grössten Zeit wie die Pest verschwor.“ Wahrlich ein klassisches Urteil! Der wütende Hegelhasser, das ist es! Die Hegel'sche Philosophie mit ihrem Glauben an die in der Geschichte selbsttätig sich immer mehr verwirklichende Vernunft, der Hegel-Marx'sche Evolutionismus, der freilich galt Schopenhauern als „halb verrückt“. ¹¹⁶⁾ Volkelt, „Artur Schopenhauer“, S. 250: „Dann aber hören wir plötzlich, dass die Welt an sich einen moralischen Sinn habe. Die stärksten Ausdrücke sind für Schopenhauer noch immer kaum stark genug, wenn er die naturalistische Weltan- schauung brandmarken will. Er hält es für den ‚fundamentalen‘ und ‚verderblichsten Irrtum‘, ja für ‚eigentliche Perversität der Gesinnung‘, wenn der Welt ‚bloss eine physische, keine mora- lische Bedeutung‘ gegeben wird. ‚Die Hauptsache des mensch- lichen Lebens ist sein ethischer, für die Ewigkeit geltender Wert‘. Schon in seiner Jugend bemerkte Schopenhauer gegen Schelling, dass das Moralische das Allerrealste sei, dem gegenüber alles, was sonst real erscheint, in Nichtigkeit versinke“. — Man vergleiche die darauffolgenden Ausführungen über Sünde, Schuld und Busse (S. 251/56): „Jetzt darf von einer heiligen moralischen Ordnung der Welt — freilich ist sie von furchtbarer Art — die Rede sein. Das Leiden der Welt rechtfertigt sich durch die zugrunde liegende Schuld. Mann kann aus Schopenhauer den guten Sinn heraus- lesen: das Bejahen des Lebens sei eben als gieriges, besinnungs- loses Bejahen die Urschuld“. ¹¹⁷⁾ In Wagners „Nibelungen“ und insbesondere in der Ge- stalt Wotans (des Kriegs- und Schlachtengottes) kam Schopen-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Schulz, Dienstleister (Muttersprachler): Bereitstellung der Texttranskription nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-02-17T09:20:45Z)
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Akademiebibliothek: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-02-17T09:20:45Z)

Weitere Informationen:

  • Nach den Richtlinien des Deutschen Textarchivs (DTA) transkribiert und ausgezeichnet.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/328
Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/328>, abgerufen am 06.05.2024.