scheiten Monarchen, den Philisterstaat auf seiner eigenen Basis aufzuheben, einen Versuch, der scheiterte und zum alten Diener- und Sklavenstaat zurückführte. Aber er glaubte dann, das Philistertum bestehe nur im Besitz, und die Säku- larisation der Privilegien durch das Proletariat beseitige auch das Philistertum, und diese rein ökonomische Auf- fassung des "Bourgeois", die die Ideologie unterschätzte, die übersah, dass nur der Verzicht auf den Besitz die mo- ralische Macht hat, das Philistertum aufzuheben, wurde sein Evangelium. So trieb er die Analyse der Bourgeoisiemacht, des Kapitals, bis zur Auflösung, und rührte doch im geringsten nicht an jenen "Schlaf der Welt", vor dem Hebbels Kan- daules Jahrzehnte später noch warnte; nicht im geringsten an die eigentlichen, ideologischen Ursachen des deutsch- österreichischen Philisterstaates, dessen tausendjährige Dorn- röschentradition sich keineswegs dem Besitz, sondern den spezifisch deutschen Lastern der geistigen Trägheit und Trunkenheit, und dem moralischen Quietismus mittelalter- licher Dogmen verdankte, unter denen das heilige römische Reich deutscher Nation seit Olims Zeiten verwahrlost und brach lag. Wie konnte man ernsthaft von einer politischen oder sozialen Revolution sprechen, ehe das religiöse Phi- listerium zu Bewusstsein gebracht war? Ehe das Märchen vom toten, gekreuzigten Gotte beseitigt war, und die gött- liche Aktivität wieder aufstand? Erst Schopenhauer und Nietzsche haben bei uns die Kritik des Moral-Philisteriums zu schreiben versucht. Ein Programm aber wie das da- malige Marxens: "Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche" musste notwendig an der Oberfläche bleiben, solange es unter "Kämpfen" nur die wirtschaft- lichen Klassenkämpfe und unter "Wünschen" nur die Auf- teilung der Genüsse verstand. Es bedurfte ganz anderer als kritischer Mächte, die gesamte Welt aus dem Schlafe zu rütteln, ehe heute an ihre Aenderung geschritten werden kann, und dies ist der Grund, weshalb nur ein Lärmen
scheiten Monarchen, den Philisterstaat auf seiner eigenen Basis aufzuheben, einen Versuch, der scheiterte und zum alten Diener- und Sklavenstaat zurückführte. Aber er glaubte dann, das Philistertum bestehe nur im Besitz, und die Säku- larisation der Privilegien durch das Proletariat beseitige auch das Philistertum, und diese rein ökonomische Auf- fassung des „Bourgeois“, die die Ideologie unterschätzte, die übersah, dass nur der Verzicht auf den Besitz die mo- ralische Macht hat, das Philistertum aufzuheben, wurde sein Evangelium. So trieb er die Analyse der Bourgeoisiemacht, des Kapitals, bis zur Auflösung, und rührte doch im geringsten nicht an jenen „Schlaf der Welt“, vor dem Hebbels Kan- daules Jahrzehnte später noch warnte; nicht im geringsten an die eigentlichen, ideologischen Ursachen des deutsch- österreichischen Philisterstaates, dessen tausendjährige Dorn- röschentradition sich keineswegs dem Besitz, sondern den spezifisch deutschen Lastern der geistigen Trägheit und Trunkenheit, und dem moralischen Quietismus mittelalter- licher Dogmen verdankte, unter denen das heilige römische Reich deutscher Nation seit Olims Zeiten verwahrlost und brach lag. Wie konnte man ernsthaft von einer politischen oder sozialen Revolution sprechen, ehe das religiöse Phi- listerium zu Bewusstsein gebracht war? Ehe das Märchen vom toten, gekreuzigten Gotte beseitigt war, und die gött- liche Aktivität wieder aufstand? Erst Schopenhauer und Nietzsche haben bei uns die Kritik des Moral-Philisteriums zu schreiben versucht. Ein Programm aber wie das da- malige Marxens: „Selbstverständigung der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche“ musste notwendig an der Oberfläche bleiben, solange es unter „Kämpfen“ nur die wirtschaft- lichen Klassenkämpfe und unter „Wünschen“ nur die Auf- teilung der Genüsse verstand. Es bedurfte ganz anderer als kritischer Mächte, die gesamte Welt aus dem Schlafe zu rütteln, ehe heute an ihre Aenderung geschritten werden kann, und dies ist der Grund, weshalb nur ein Lärmen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0189"n="181"/>
scheiten Monarchen, den Philisterstaat auf seiner eigenen<lb/>
Basis aufzuheben, einen Versuch, der scheiterte und zum<lb/>
alten Diener- und Sklavenstaat zurückführte. Aber er glaubte<lb/>
dann, das Philistertum bestehe nur im Besitz, und die Säku-<lb/>
larisation der Privilegien durch das Proletariat beseitige<lb/>
auch das Philistertum, und diese rein ökonomische Auf-<lb/>
fassung des „Bourgeois“, die die Ideologie unterschätzte,<lb/>
die übersah, dass nur der <hirendition="#i">Verzicht</hi> auf den Besitz die mo-<lb/>
ralische Macht hat, das Philistertum aufzuheben, wurde sein<lb/>
Evangelium. So trieb er die Analyse der Bourgeoisiemacht,<lb/>
des Kapitals, bis zur Auflösung, und rührte doch im geringsten<lb/>
nicht an jenen „Schlaf der Welt“, vor dem Hebbels Kan-<lb/>
daules Jahrzehnte später noch warnte; nicht im geringsten<lb/>
an die eigentlichen, ideologischen Ursachen des deutsch-<lb/>
österreichischen Philisterstaates, dessen tausendjährige Dorn-<lb/>
röschentradition sich keineswegs dem Besitz, sondern den<lb/>
spezifisch deutschen Lastern der geistigen Trägheit und<lb/>
Trunkenheit, und dem moralischen Quietismus mittelalter-<lb/>
licher Dogmen verdankte, unter denen das heilige römische<lb/>
Reich deutscher Nation seit Olims Zeiten verwahrlost und<lb/>
brach lag. Wie konnte man ernsthaft von einer politischen<lb/>
oder sozialen Revolution sprechen, ehe das religiöse Phi-<lb/>
listerium zu Bewusstsein gebracht war? Ehe das Märchen<lb/>
vom toten, gekreuzigten Gotte beseitigt war, und die gött-<lb/>
liche Aktivität wieder aufstand? Erst Schopenhauer und<lb/>
Nietzsche haben bei uns die Kritik des Moral-Philisteriums<lb/>
zu schreiben versucht. Ein Programm aber wie das da-<lb/>
malige Marxens: „Selbstverständigung der Zeit über ihre<lb/>
Kämpfe und Wünsche“ musste notwendig an der Oberfläche<lb/>
bleiben, solange es unter „Kämpfen“ nur die wirtschaft-<lb/>
lichen Klassenkämpfe und unter „Wünschen“ nur die Auf-<lb/>
teilung der Genüsse verstand. Es bedurfte ganz anderer<lb/>
als kritischer Mächte, die gesamte Welt aus dem Schlafe<lb/>
zu rütteln, ehe heute an ihre Aenderung geschritten werden<lb/>
kann, und dies ist der Grund, weshalb nur ein Lärmen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[181/0189]
scheiten Monarchen, den Philisterstaat auf seiner eigenen
Basis aufzuheben, einen Versuch, der scheiterte und zum
alten Diener- und Sklavenstaat zurückführte. Aber er glaubte
dann, das Philistertum bestehe nur im Besitz, und die Säku-
larisation der Privilegien durch das Proletariat beseitige
auch das Philistertum, und diese rein ökonomische Auf-
fassung des „Bourgeois“, die die Ideologie unterschätzte,
die übersah, dass nur der Verzicht auf den Besitz die mo-
ralische Macht hat, das Philistertum aufzuheben, wurde sein
Evangelium. So trieb er die Analyse der Bourgeoisiemacht,
des Kapitals, bis zur Auflösung, und rührte doch im geringsten
nicht an jenen „Schlaf der Welt“, vor dem Hebbels Kan-
daules Jahrzehnte später noch warnte; nicht im geringsten
an die eigentlichen, ideologischen Ursachen des deutsch-
österreichischen Philisterstaates, dessen tausendjährige Dorn-
röschentradition sich keineswegs dem Besitz, sondern den
spezifisch deutschen Lastern der geistigen Trägheit und
Trunkenheit, und dem moralischen Quietismus mittelalter-
licher Dogmen verdankte, unter denen das heilige römische
Reich deutscher Nation seit Olims Zeiten verwahrlost und
brach lag. Wie konnte man ernsthaft von einer politischen
oder sozialen Revolution sprechen, ehe das religiöse Phi-
listerium zu Bewusstsein gebracht war? Ehe das Märchen
vom toten, gekreuzigten Gotte beseitigt war, und die gött-
liche Aktivität wieder aufstand? Erst Schopenhauer und
Nietzsche haben bei uns die Kritik des Moral-Philisteriums
zu schreiben versucht. Ein Programm aber wie das da-
malige Marxens: „Selbstverständigung der Zeit über ihre
Kämpfe und Wünsche“ musste notwendig an der Oberfläche
bleiben, solange es unter „Kämpfen“ nur die wirtschaft-
lichen Klassenkämpfe und unter „Wünschen“ nur die Auf-
teilung der Genüsse verstand. Es bedurfte ganz anderer
als kritischer Mächte, die gesamte Welt aus dem Schlafe
zu rütteln, ehe heute an ihre Aenderung geschritten werden
kann, und dies ist der Grund, weshalb nur ein Lärmen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 181. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/189>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.