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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919.

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Kreuzzug, zu Bewusstsein gebracht und gebrochen werden
kann.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten von
Napoleon I. angeregt, zwei sehr kühne Temperamente,
Friedrich Nietzsche und Michael Bakunin, gegen sie auf 20).
Friedrich Nietzsche geleitet vom individualistischen Renais-
sance-Ideal; Michael Bakunin als Bannerträger der Revolution,
der Masse, der kollektivistischen Sozietät. Nietzsches Irrtum
war, dass er glaubte, den Kampf gegen die Theologie exaltieren
zu müssen zum Kampf gegen das Christentum selbst. So
geriet er in Feindschaft mit dem italienischen, russischen und
französischen Geiste 21). Und ebenso setzte Bakunin sich
in Widerspruch mit der gesamten christlichen Intelligenz 22),
indem er seinen Sturmlauf gegen den theologischen Staat
ausdehnte auf die Gottesidee und den Idealismus 23). Beide
suchten die lügnerische Autorität samt der heiligen auszu-
rotten und trieben, indem sie nicht nur die Götzen, sondern
auch die Götter bekämpften, dem Abgrund zu.

In keinem anderen Volke hätte Nietzsche die schlimmen
Folgen gehabt, die er in Deutschland haben musste, wenn
er die Moralität auflöste, den Staat aber bestehen liess. Als
echter Pastorensohn lutheranischer Abkunft mehrte er durch
sein Wüten gegen die Prinzipien statt gegen den Missbrauch,
die moralische Verwirrung und damit wider Erwarten die
Staatsomnipotenz 24). Und auch Bakunins konsequenter
Atheismus führte, wenngleich er ein neues Solidaritätsideal
auf der entstaatlichten und enttheologisierten Erde errichten
wollte, am Ende zur Stärkung des rationalistischen Staats-
und Gewaltblocks. Die wirre Donquichotterie seines aben-
teuerlichen Lebens, seine russische Seele und die apostolische
Auffassung seiner Mission widersprechen an mehr als einer
Stelle seiner Briefe und Schriften dem Wortlaut seiner Texte.
Seine erbitterten Angriffe auf die Theokratie aber blieben
infolge einer von deutschen Sozialpatrioten grosszügig in-
szenierten Verleumdungs- und Unterdrückungskampagne 25),

Kreuzzug, zu Bewusstsein gebracht und gebrochen werden
kann.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten von
Napoleon I. angeregt, zwei sehr kühne Temperamente,
Friedrich Nietzsche und Michael Bakunin, gegen sie auf 20).
Friedrich Nietzsche geleitet vom individualistischen Renais-
sance-Ideal; Michael Bakunin als Bannerträger der Revolution,
der Masse, der kollektivistischen Sozietät. Nietzsches Irrtum
war, dass er glaubte, den Kampf gegen die Theologie exaltieren
zu müssen zum Kampf gegen das Christentum selbst. So
geriet er in Feindschaft mit dem italienischen, russischen und
französischen Geiste 21). Und ebenso setzte Bakunin sich
in Widerspruch mit der gesamten christlichen Intelligenz 22),
indem er seinen Sturmlauf gegen den theologischen Staat
ausdehnte auf die Gottesidee und den Idealismus 23). Beide
suchten die lügnerische Autorität samt der heiligen auszu-
rotten und trieben, indem sie nicht nur die Götzen, sondern
auch die Götter bekämpften, dem Abgrund zu.

In keinem anderen Volke hätte Nietzsche die schlimmen
Folgen gehabt, die er in Deutschland haben musste, wenn
er die Moralität auflöste, den Staat aber bestehen liess. Als
echter Pastorensohn lutheranischer Abkunft mehrte er durch
sein Wüten gegen die Prinzipien statt gegen den Missbrauch,
die moralische Verwirrung und damit wider Erwarten die
Staatsomnipotenz 24). Und auch Bakunins konsequenter
Atheismus führte, wenngleich er ein neues Solidaritätsideal
auf der entstaatlichten und enttheologisierten Erde errichten
wollte, am Ende zur Stärkung des rationalistischen Staats-
und Gewaltblocks. Die wirre Donquichotterie seines aben-
teuerlichen Lebens, seine russische Seele und die apostolische
Auffassung seiner Mission widersprechen an mehr als einer
Stelle seiner Briefe und Schriften dem Wortlaut seiner Texte.
Seine erbitterten Angriffe auf die Theokratie aber blieben
infolge einer von deutschen Sozialpatrioten grosszügig in-
szenierten Verleumdungs- und Unterdrückungskampagne 25),

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[138/0146] Kreuzzug, zu Bewusstsein gebracht und gebrochen werden kann. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts traten von Napoleon I. angeregt, zwei sehr kühne Temperamente, Friedrich Nietzsche und Michael Bakunin, gegen sie auf ²⁰⁾ . Friedrich Nietzsche geleitet vom individualistischen Renais- sance-Ideal; Michael Bakunin als Bannerträger der Revolution, der Masse, der kollektivistischen Sozietät. Nietzsches Irrtum war, dass er glaubte, den Kampf gegen die Theologie exaltieren zu müssen zum Kampf gegen das Christentum selbst. So geriet er in Feindschaft mit dem italienischen, russischen und französischen Geiste ²¹⁾ . Und ebenso setzte Bakunin sich in Widerspruch mit der gesamten christlichen Intelligenz ²²⁾ , indem er seinen Sturmlauf gegen den theologischen Staat ausdehnte auf die Gottesidee und den Idealismus ²³⁾ . Beide suchten die lügnerische Autorität samt der heiligen auszu- rotten und trieben, indem sie nicht nur die Götzen, sondern auch die Götter bekämpften, dem Abgrund zu. In keinem anderen Volke hätte Nietzsche die schlimmen Folgen gehabt, die er in Deutschland haben musste, wenn er die Moralität auflöste, den Staat aber bestehen liess. Als echter Pastorensohn lutheranischer Abkunft mehrte er durch sein Wüten gegen die Prinzipien statt gegen den Missbrauch, die moralische Verwirrung und damit wider Erwarten die Staatsomnipotenz ²⁴⁾ . Und auch Bakunins konsequenter Atheismus führte, wenngleich er ein neues Solidaritätsideal auf der entstaatlichten und enttheologisierten Erde errichten wollte, am Ende zur Stärkung des rationalistischen Staats- und Gewaltblocks. Die wirre Donquichotterie seines aben- teuerlichen Lebens, seine russische Seele und die apostolische Auffassung seiner Mission widersprechen an mehr als einer Stelle seiner Briefe und Schriften dem Wortlaut seiner Texte. Seine erbitterten Angriffe auf die Theokratie aber blieben infolge einer von deutschen Sozialpatrioten grosszügig in- szenierten Verleumdungs- und Unterdrückungskampagne ²⁵⁾ ,

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Zitationshilfe: Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/146>, abgerufen am 21.11.2024.