transzendental, nicht fridrizianisch, und wenn unsere Altvordern einst wirklich "der ganzen Welt formidabel" waren, so hatte die Kirche doch viel getan, sie auf den inneren Kreuzzug zu weisen, mit heller Phantastik, mit Leid- und Triumphmusik, den Tod auf den Fersen, den Teufel im Nacken, doch immer die Stirne vom Credo trunken: Verbrüderte Schwärmer.
In Deutschland wurde der ungestüme Gedanke Rousseaus zu Sehnsucht und Melancholie, zu Geniekult und einer Musik "aus Heimweh, aus Herweh, aus Hinwegweh", wie Theodor Däubler sagt 130). Die Romantiker flohen, weil sie gegen die Brutalität der Umgebung nicht aufkommen konnten, nicht aufkommen wollten. Der Alltag war ihnen zu eng, missbraucht; die Kette nicht mehr zu durchbrechen 131). Abdankung, Flucht und Verzicht: so dokumentierten sie sich in Schriften und Uebersetzungen, deren Sinn ihnen Spiritualismus blieb, uns aber mit einem Geiste erfüllt, vor dem die Wirklichkeit weichen muss. Wir sind nicht Romantiker mehr; wir sind Futuristen.
"Die romantische Poesie ist eine Universalpoesie", ver- kündet Friedrich Schlegel, "sie will und soll Poesie und Prosa, Genialität und Kritik bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen; Bildungsstoff jeder Art durch Humor beseelen. Die romantische Poesie ist unter den Künsten, was der Witz in der Philosophie und Gesellig- keit, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben sind" 132). "Transzendentale Bouffonnerie" nennt er "im Innern die Stimmung, welche alles übersieht und sich über alles Be- dingte unendlich erhebt, auch über eigene Kunst, Tugend und Genialität" 133). Poesie ist ihm "allein unendlich, weil sie allein frei ist und das als erstes Gesetz anerkennt, dass die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide" 134).
Das sind freie und grosse Formeln. Goethe hatte die "dämonische Natur" wieder entdeckt und den Abgrund des Strebens: Faust und den Blocksberg. Er hatte entdeckt den
transzendental, nicht fridrizianisch, und wenn unsere Altvordern einst wirklich „der ganzen Welt formidabel“ waren, so hatte die Kirche doch viel getan, sie auf den inneren Kreuzzug zu weisen, mit heller Phantastik, mit Leid- und Triumphmusik, den Tod auf den Fersen, den Teufel im Nacken, doch immer die Stirne vom Credo trunken: Verbrüderte Schwärmer.
In Deutschland wurde der ungestüme Gedanke Rousseaus zu Sehnsucht und Melancholie, zu Geniekult und einer Musik „aus Heimweh, aus Herweh, aus Hinwegweh“, wie Theodor Däubler sagt 130). Die Romantiker flohen, weil sie gegen die Brutalität der Umgebung nicht aufkommen konnten, nicht aufkommen wollten. Der Alltag war ihnen zu eng, missbraucht; die Kette nicht mehr zu durchbrechen 131). Abdankung, Flucht und Verzicht: so dokumentierten sie sich in Schriften und Uebersetzungen, deren Sinn ihnen Spiritualismus blieb, uns aber mit einem Geiste erfüllt, vor dem die Wirklichkeit weichen muss. Wir sind nicht Romantiker mehr; wir sind Futuristen.
„Die romantische Poesie ist eine Universalpoesie“, ver- kündet Friedrich Schlegel, „sie will und soll Poesie und Prosa, Genialität und Kritik bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen; Bildungsstoff jeder Art durch Humor beseelen. Die romantische Poesie ist unter den Künsten, was der Witz in der Philosophie und Gesellig- keit, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben sind“ 132). „Transzendentale Bouffonnerie“ nennt er „im Innern die Stimmung, welche alles übersieht und sich über alles Be- dingte unendlich erhebt, auch über eigene Kunst, Tugend und Genialität“ 133). Poesie ist ihm „allein unendlich, weil sie allein frei ist und das als erstes Gesetz anerkennt, dass die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide“ 134).
Das sind freie und grosse Formeln. Goethe hatte die „dämonische Natur“ wieder entdeckt und den Abgrund des Strebens: Faust und den Blocksberg. Er hatte entdeckt den
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transzendental, nicht fridrizianisch, und wenn unsere Altvordern
einst wirklich „der ganzen Welt formidabel“ waren, so
hatte die Kirche doch viel getan, sie auf den inneren Kreuzzug
zu weisen, mit heller Phantastik, mit Leid- und Triumphmusik,
den Tod auf den Fersen, den Teufel im Nacken, doch immer
die Stirne vom Credo trunken: Verbrüderte Schwärmer.
In Deutschland wurde der ungestüme Gedanke Rousseaus
zu Sehnsucht und Melancholie, zu Geniekult und einer
Musik „aus Heimweh, aus Herweh, aus Hinwegweh“, wie
Theodor Däubler sagt
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. Die Romantiker flohen, weil sie
gegen die Brutalität der Umgebung nicht aufkommen konnten,
nicht aufkommen wollten. Der Alltag war ihnen zu eng,
missbraucht; die Kette nicht mehr zu durchbrechen
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Abdankung, Flucht und Verzicht: so dokumentierten sie
sich in Schriften und Uebersetzungen, deren Sinn ihnen
Spiritualismus blieb, uns aber mit einem Geiste erfüllt,
vor dem die Wirklichkeit weichen muss. Wir sind nicht
Romantiker mehr; wir sind Futuristen.
„Die romantische Poesie ist eine Universalpoesie“, ver-
kündet Friedrich Schlegel, „sie will und soll Poesie und
Prosa, Genialität und Kritik bald mischen, bald verschmelzen,
die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die
Gesellschaft poetisch machen; Bildungsstoff jeder Art durch
Humor beseelen. Die romantische Poesie ist unter den
Künsten, was der Witz in der Philosophie und Gesellig-
keit, Umgang, Freundschaft und Liebe im Leben sind“
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„Transzendentale Bouffonnerie“ nennt er „im Innern die
Stimmung, welche alles übersieht und sich über alles Be-
dingte unendlich erhebt, auch über eigene Kunst, Tugend
und Genialität“
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. Poesie ist ihm „allein unendlich, weil
sie allein frei ist und das als erstes Gesetz anerkennt, dass
die Willkür des Dichters kein Gesetz über sich leide“
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Das sind freie und grosse Formeln. Goethe hatte die
„dämonische Natur“ wieder entdeckt und den Abgrund des
Strebens: Faust und den Blocksberg. Er hatte entdeckt den
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Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/109>, abgerufen am 23.07.2024.
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