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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 2. Königsberg, 1837.

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v. Allmäh-
liges Indivi-
dualisiren
durch die
morphologi-
sche Sonde-
rung.

Zuvörderst erhalten alle einzelnen Organe ihre Besonderheit erst allmählig,
so dass sie, je weiter zurück man sie in ihrer Ausbildung betrachtet, um so we-
niger von ihrer spätern Eigenthümlichkeit zeugen. So nimmt in allen verästelten
Organen die Verästelung zu. Sie sind im Anfange abgerundete kegelförmige Vorra-
gungen, dann theilen sie sich an der Spitze und die Vertheilung schreitet allmählig
weiter vor. So sind ferner alle verengten Theile irgend eines grössern Apparates im
Entstehen (im Verhältniss zu den verwandten Theilen) weiter und alle erweiterten
Theile sind früher enger, als im spätern Zustande. Der Magen z. B. ist, wenn er
kenntlich wird, nicht viel weiter als der Darm. Dagegen sind die Ausführungs-
gänge der Speicheldrüsen, der Leber, die Luftröhrenäste u. s. w. ungeheuer weit in
der ersten Bildung. Auch die Schnabelspitze, der Unterschenkel, die Fusswurzel
und jeder andere im ausgebildeten Thiere verdünnte Theil ist Anfangs sehr dick. --
Es haben also mit Einem Worte alle einzelnen Organe früher eine rohere unbe-
stimmtere Form, und die Wirksamkeit der fortgehenden morphologischen Sonde-
rung zeigt sich in der fortgehenden Ausbildung dieser Form. Hierdurch wird es
nicht nur anschaulich, wie die Primitivorgane die Summe aller einzelnen Organe
sind, in die sie sich umbilden, sondern es wird auch unsere gewählte Darstel-
lung gerechtfertigt, nach der wir alle Primitivorgane als ursprünglich gleichmä-
ssige Röhren zu betrachten verlangten, wenn auch die morphologische Son-
derung zum Theil in ihnen beginnt, bevor sie als Röhren vollkommen vollendet
sind. --

w. Variatio-
nen in der
äussern
Form der
morphologi-
schen Son-
derung.

Alle Ausbildung der einzelnen Organe beruht also auf einem modificirten
Wachsthume in einem grössern oder geringern Theile seiner Ausdehnung, und nur
in der äussern Erscheinung sind Verschiedenheiten. Ist der Abschnitt eines Fun-
damentalorgans, welcher durch vermehrte Entwickelung nach dem Umfange sich
verändert, von ansehnlicher Länge, so erscheint uns eine solche Veränderung als
eine Verdickung oder Vergrösserung, so die Bildung des Hirns und des Schädels.
Ist dagegen ein vermehrtes Wachsthum in die Länge, bei geringer Entwickelung
nach der Peripherie, so erscheint uns der Erfolg als Verdünnung, wie die Bil-
dung der Speiseröhre und des Rückenmarkes. Ist eine stark vermehrte Entwicke-
lung nur auf eine kleine Stelle eines Fundamentalorganes beschränkt, so erscheint
uns eine solche Entwickelung als ein selbstständiges Hervorwachsen, obgleich sie
im Grunde nichts ist als eine auf beschränkter Stelle sich äussernde Vermehrung
des allgemeinen Wachsthums. Diese Wucherungen sind aber entweder hohl, so
dass die innere Fläche des Fundamentalorganes in sie eingeht, oder nicht. Im er-
stern Falle bezeichnet man sie am deutlichsten mit dem Ausdrucke Hervorstülpung

oder
v. Allmäh-
liges Indivi-
dualisiren
durch die
morphologi-
sche Sonde-
rung.

Zuvörderst erhalten alle einzelnen Organe ihre Besonderheit erst allmählig,
so daſs sie, je weiter zurück man sie in ihrer Ausbildung betrachtet, um so we-
niger von ihrer spätern Eigenthümlichkeit zeugen. So nimmt in allen verästelten
Organen die Verästelung zu. Sie sind im Anfange abgerundete kegelförmige Vorra-
gungen, dann theilen sie sich an der Spitze und die Vertheilung schreitet allmählig
weiter vor. So sind ferner alle verengten Theile irgend eines gröſsern Apparates im
Entstehen (im Verhältniſs zu den verwandten Theilen) weiter und alle erweiterten
Theile sind früher enger, als im spätern Zustande. Der Magen z. B. ist, wenn er
kenntlich wird, nicht viel weiter als der Darm. Dagegen sind die Ausführungs-
gänge der Speicheldrüsen, der Leber, die Luftröhrenäste u. s. w. ungeheuer weit in
der ersten Bildung. Auch die Schnabelspitze, der Unterschenkel, die Fuſswurzel
und jeder andere im ausgebildeten Thiere verdünnte Theil ist Anfangs sehr dick. —
Es haben also mit Einem Worte alle einzelnen Organe früher eine rohere unbe-
stimmtere Form, und die Wirksamkeit der fortgehenden morphologischen Sonde-
rung zeigt sich in der fortgehenden Ausbildung dieser Form. Hierdurch wird es
nicht nur anschaulich, wie die Primitivorgane die Summe aller einzelnen Organe
sind, in die sie sich umbilden, sondern es wird auch unsere gewählte Darstel-
lung gerechtfertigt, nach der wir alle Primitivorgane als ursprünglich gleichmä-
ſsige Röhren zu betrachten verlangten, wenn auch die morphologische Son-
derung zum Theil in ihnen beginnt, bevor sie als Röhren vollkommen vollendet
sind. —

w. Variatio-
nen in der
äuſsern
Form der
morphologi-
schen Son-
derung.

Alle Ausbildung der einzelnen Organe beruht also auf einem modificirten
Wachsthume in einem gröſsern oder geringern Theile seiner Ausdehnung, und nur
in der äuſsern Erscheinung sind Verschiedenheiten. Ist der Abschnitt eines Fun-
damentalorgans, welcher durch vermehrte Entwickelung nach dem Umfange sich
verändert, von ansehnlicher Länge, so erscheint uns eine solche Veränderung als
eine Verdickung oder Vergröſserung, so die Bildung des Hirns und des Schädels.
Ist dagegen ein vermehrtes Wachsthum in die Länge, bei geringer Entwickelung
nach der Peripherie, so erscheint uns der Erfolg als Verdünnung, wie die Bil-
dung der Speiseröhre und des Rückenmarkes. Ist eine stark vermehrte Entwicke-
lung nur auf eine kleine Stelle eines Fundamentalorganes beschränkt, so erscheint
uns eine solche Entwickelung als ein selbstständiges Hervorwachsen, obgleich sie
im Grunde nichts ist als eine auf beschränkter Stelle sich äuſsernde Vermehrung
des allgemeinen Wachsthums. Diese Wucherungen sind aber entweder hohl, so
daſs die innere Fläche des Fundamentalorganes in sie eingeht, oder nicht. Im er-
stern Falle bezeichnet man sie am deutlichsten mit dem Ausdrucke Hervorstülpung

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[80/0090] Zuvörderst erhalten alle einzelnen Organe ihre Besonderheit erst allmählig, so daſs sie, je weiter zurück man sie in ihrer Ausbildung betrachtet, um so we- niger von ihrer spätern Eigenthümlichkeit zeugen. So nimmt in allen verästelten Organen die Verästelung zu. Sie sind im Anfange abgerundete kegelförmige Vorra- gungen, dann theilen sie sich an der Spitze und die Vertheilung schreitet allmählig weiter vor. So sind ferner alle verengten Theile irgend eines gröſsern Apparates im Entstehen (im Verhältniſs zu den verwandten Theilen) weiter und alle erweiterten Theile sind früher enger, als im spätern Zustande. Der Magen z. B. ist, wenn er kenntlich wird, nicht viel weiter als der Darm. Dagegen sind die Ausführungs- gänge der Speicheldrüsen, der Leber, die Luftröhrenäste u. s. w. ungeheuer weit in der ersten Bildung. Auch die Schnabelspitze, der Unterschenkel, die Fuſswurzel und jeder andere im ausgebildeten Thiere verdünnte Theil ist Anfangs sehr dick. — Es haben also mit Einem Worte alle einzelnen Organe früher eine rohere unbe- stimmtere Form, und die Wirksamkeit der fortgehenden morphologischen Sonde- rung zeigt sich in der fortgehenden Ausbildung dieser Form. Hierdurch wird es nicht nur anschaulich, wie die Primitivorgane die Summe aller einzelnen Organe sind, in die sie sich umbilden, sondern es wird auch unsere gewählte Darstel- lung gerechtfertigt, nach der wir alle Primitivorgane als ursprünglich gleichmä- ſsige Röhren zu betrachten verlangten, wenn auch die morphologische Son- derung zum Theil in ihnen beginnt, bevor sie als Röhren vollkommen vollendet sind. — Alle Ausbildung der einzelnen Organe beruht also auf einem modificirten Wachsthume in einem gröſsern oder geringern Theile seiner Ausdehnung, und nur in der äuſsern Erscheinung sind Verschiedenheiten. Ist der Abschnitt eines Fun- damentalorgans, welcher durch vermehrte Entwickelung nach dem Umfange sich verändert, von ansehnlicher Länge, so erscheint uns eine solche Veränderung als eine Verdickung oder Vergröſserung, so die Bildung des Hirns und des Schädels. Ist dagegen ein vermehrtes Wachsthum in die Länge, bei geringer Entwickelung nach der Peripherie, so erscheint uns der Erfolg als Verdünnung, wie die Bil- dung der Speiseröhre und des Rückenmarkes. Ist eine stark vermehrte Entwicke- lung nur auf eine kleine Stelle eines Fundamentalorganes beschränkt, so erscheint uns eine solche Entwickelung als ein selbstständiges Hervorwachsen, obgleich sie im Grunde nichts ist als eine auf beschränkter Stelle sich äuſsernde Vermehrung des allgemeinen Wachsthums. Diese Wucherungen sind aber entweder hohl, so daſs die innere Fläche des Fundamentalorganes in sie eingeht, oder nicht. Im er- stern Falle bezeichnet man sie am deutlichsten mit dem Ausdrucke Hervorstülpung oder

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 2. Königsberg, 1837, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1837/90>, abgerufen am 25.11.2024.