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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

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bemerkte ich, dass das Herz ohne Anwendung künstlicher Wärme eine Pulsation
machte. Ich wartete nun auf einen zweiten Herzschlag, und dieser erfolgte wirk-
lich nach einer sehr langen Pause. Hierdurch aufmerksam gemacht, stellte ich
Versuche an, und fand, dass in allen Eiern, die ich im Juli (bei ansehnlicher
Hitze im Freien) in einer nach Norden liegenden Stube, in welcher überdiess zur
Abkühlung die Fenster während der Nacht immer offen standen, der Embryo nach
Verlauf von vier und zwanzig Stunden nie abgestorben war, sondern der Herz-
schlag in sehr langen Zwischenräumen, zuweilen von weniger als einer Minute,
in andern Fällen von 5 und mehr Minuten fortbestand. Meine Versuche stellte
ich mit Embryonen an, die nicht über fünf Tage alt waren; es ist aber nicht zu
zweifeln, dass die ältern und selbstständigern Embryonen mit noch mehr Kraft
ihr Leben erhalten. In der zweiten Hälfte des Augustes überlebten die jüngern
Embryonen eine Abkühlung von 24 Stunden nicht. An den längere Zeit hindurch
ohne Absterben in der Abkühlung erhaltenen Embryonen bemerkte ich keine an-
dere Veränderung, als dass mir die Gefässe weniger voll, und das Blut weniger
geröthet schien.

Einfluss der
Lage des
Eies.

Ausser der Wärme hat auch die Lage des Eies auf die Entwickelung Ein-
fluss, denn Eier, die in der Brütmaschine eine senkrechte Stellung haben, pfle-
gen bald abzusterben.

Ungleich-
mässigkeit
der Entwik-
kelung.

Mit dem Einflusse des verschiedenen Wärmegrades auf die Lebens-Aeu-
sserung im Fötus steht die Verschiedenheit der Zeit für die einzelnen Stufen der
Entwickelung im innigsten Zusammenhange. Ueber die Ungleichheit in der Zeit,
in der die Eier sich entwickeln, haben schon alle Beobachter geklagt, welche
diese Entwickelungs-Geschichte nach der Zeitfolge darzustellen unternahmen.
Eine neue Erörterung könnte also überflüssig scheinen. Indessen finde ich sie
nothwendig, um die Grundsätze vorzulegen, nach welchen ich die einzelnen Pe-
rioden der Entwickelung festgestellt habe. Wenn man nicht solche Grundsätze
sesthält, so kann man eine ganz monströse Entwickelungs-Geschichte liefern, de-
ren einzelne Bestimmungen durchaus nicht zusammen passen. Selbst der genane
Wolff hat manche Angaben, die gar nicht mit einander zu vereinen sind. Am
Ende des zweiten Tages soll nach ihm das Herz vom wahren Amnion oder der se-
rösen Schicht des Keimblattes noch nicht bedeckt seyn (eine sehr langsame Ent-
wickelung!); nach dem Ende des dritten Tages soll sich der Fötus so krümmen,
dass der Kopf den Schwanz berührt (eine Form, die er selten vor dem fünften
Tage hat!), und erst nach dem Ende des fünsten Tages soll der Harnsack (Allan-
tonis, Chorion)
hervortreten (wieder eine so langsame Entwickelung, dass durch-
aus ein Ausenthalt hier Statt gefunden haben muss!). Alle drei Beobachtungen

bemerkte ich, daſs das Herz ohne Anwendung künstlicher Wärme eine Pulsation
machte. Ich wartete nun auf einen zweiten Herzschlag, und dieser erfolgte wirk-
lich nach einer sehr langen Pause. Hierdurch aufmerksam gemacht, stellte ich
Versuche an, und fand, daſs in allen Eiern, die ich im Juli (bei ansehnlicher
Hitze im Freien) in einer nach Norden liegenden Stube, in welcher überdieſs zur
Abkühlung die Fenster während der Nacht immer offen standen, der Embryo nach
Verlauf von vier und zwanzig Stunden nie abgestorben war, sondern der Herz-
schlag in sehr langen Zwischenräumen, zuweilen von weniger als einer Minute,
in andern Fällen von 5 und mehr Minuten fortbestand. Meine Versuche stellte
ich mit Embryonen an, die nicht über fünf Tage alt waren; es ist aber nicht zu
zweifeln, daſs die ältern und selbstständigern Embryonen mit noch mehr Kraft
ihr Leben erhalten. In der zweiten Hälfte des Augustes überlebten die jüngern
Embryonen eine Abkühlung von 24 Stunden nicht. An den längere Zeit hindurch
ohne Absterben in der Abkühlung erhaltenen Embryonen bemerkte ich keine an-
dere Veränderung, als daſs mir die Gefäſse weniger voll, und das Blut weniger
geröthet schien.

Einfluſs der
Lage des
Eies.

Auſser der Wärme hat auch die Lage des Eies auf die Entwickelung Ein-
fluſs, denn Eier, die in der Brütmaschine eine senkrechte Stellung haben, pfle-
gen bald abzusterben.

Ungleich-
mäſsigkeit
der Entwik-
kelung.

Mit dem Einflusse des verschiedenen Wärmegrades auf die Lebens-Aeu-
ſserung im Fötus steht die Verschiedenheit der Zeit für die einzelnen Stufen der
Entwickelung im innigsten Zusammenhange. Ueber die Ungleichheit in der Zeit,
in der die Eier sich entwickeln, haben schon alle Beobachter geklagt, welche
diese Entwickelungs-Geschichte nach der Zeitfolge darzustellen unternahmen.
Eine neue Erörterung könnte also überflüssig scheinen. Indessen finde ich sie
nothwendig, um die Grundsätze vorzulegen, nach welchen ich die einzelnen Pe-
rioden der Entwickelung festgestellt habe. Wenn man nicht solche Grundsätze
ſesthält, so kann man eine ganz monströse Entwickelungs-Geschichte liefern, de-
ren einzelne Bestimmungen durchaus nicht zusammen passen. Selbst der genane
Wolff hat manche Angaben, die gar nicht mit einander zu vereinen sind. Am
Ende des zweiten Tages soll nach ihm das Herz vom wahren Amnion oder der se-
rösen Schicht des Keimblattes noch nicht bedeckt seyn (eine sehr langsame Ent-
wickelung!); nach dem Ende des dritten Tages soll sich der Fötus so krümmen,
daſs der Kopf den Schwanz berührt (eine Form, die er selten vor dem fünften
Tage hat!), und erst nach dem Ende des fünſten Tages soll der Harnsack (Allan-
tonis, Chorion)
hervortreten (wieder eine so langsame Entwickelung, daſs durch-
aus ein Auſenthalt hier Statt gefunden haben muſs!). Alle drei Beobachtungen

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[4/0034] bemerkte ich, daſs das Herz ohne Anwendung künstlicher Wärme eine Pulsation machte. Ich wartete nun auf einen zweiten Herzschlag, und dieser erfolgte wirk- lich nach einer sehr langen Pause. Hierdurch aufmerksam gemacht, stellte ich Versuche an, und fand, daſs in allen Eiern, die ich im Juli (bei ansehnlicher Hitze im Freien) in einer nach Norden liegenden Stube, in welcher überdieſs zur Abkühlung die Fenster während der Nacht immer offen standen, der Embryo nach Verlauf von vier und zwanzig Stunden nie abgestorben war, sondern der Herz- schlag in sehr langen Zwischenräumen, zuweilen von weniger als einer Minute, in andern Fällen von 5 und mehr Minuten fortbestand. Meine Versuche stellte ich mit Embryonen an, die nicht über fünf Tage alt waren; es ist aber nicht zu zweifeln, daſs die ältern und selbstständigern Embryonen mit noch mehr Kraft ihr Leben erhalten. In der zweiten Hälfte des Augustes überlebten die jüngern Embryonen eine Abkühlung von 24 Stunden nicht. An den längere Zeit hindurch ohne Absterben in der Abkühlung erhaltenen Embryonen bemerkte ich keine an- dere Veränderung, als daſs mir die Gefäſse weniger voll, und das Blut weniger geröthet schien. Auſser der Wärme hat auch die Lage des Eies auf die Entwickelung Ein- fluſs, denn Eier, die in der Brütmaschine eine senkrechte Stellung haben, pfle- gen bald abzusterben. Mit dem Einflusse des verschiedenen Wärmegrades auf die Lebens-Aeu- ſserung im Fötus steht die Verschiedenheit der Zeit für die einzelnen Stufen der Entwickelung im innigsten Zusammenhange. Ueber die Ungleichheit in der Zeit, in der die Eier sich entwickeln, haben schon alle Beobachter geklagt, welche diese Entwickelungs-Geschichte nach der Zeitfolge darzustellen unternahmen. Eine neue Erörterung könnte also überflüssig scheinen. Indessen finde ich sie nothwendig, um die Grundsätze vorzulegen, nach welchen ich die einzelnen Pe- rioden der Entwickelung festgestellt habe. Wenn man nicht solche Grundsätze ſesthält, so kann man eine ganz monströse Entwickelungs-Geschichte liefern, de- ren einzelne Bestimmungen durchaus nicht zusammen passen. Selbst der genane Wolff hat manche Angaben, die gar nicht mit einander zu vereinen sind. Am Ende des zweiten Tages soll nach ihm das Herz vom wahren Amnion oder der se- rösen Schicht des Keimblattes noch nicht bedeckt seyn (eine sehr langsame Ent- wickelung!); nach dem Ende des dritten Tages soll sich der Fötus so krümmen, daſs der Kopf den Schwanz berührt (eine Form, die er selten vor dem fünften Tage hat!), und erst nach dem Ende des fünſten Tages soll der Harnsack (Allan- tonis, Chorion) hervortreten (wieder eine so langsame Entwickelung, daſs durch- aus ein Auſenthalt hier Statt gefunden haben muſs!). Alle drei Beobachtungen

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/34>, abgerufen am 24.11.2024.