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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

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Nase des Schweines in der vierten Woche des Embryonenlebens nicht nur der
Nase des frühen menschlichen Embryo ähnlich, sondern selbst der Nase des
erwachsenen Menschen viel ähnlicher, als in späterer Zeit. Dieses Verhältniss
stimmt ganz mit der allgemeinen Regel. Die Nase der Luft athmenden Säuge-
thiere ragt gewöhnlich nicht über die Kiefern hervor. Die Besonderheit des
Schweinerüssels tritt also eben so wohl als die Besonderheit der menschlichen
Nase später auf, ohne dass eine Form durch die andere hindurch gebildet würde.
Wenn nun der Mensch den Rüssel eines Schweines hat, so ist das keine Hem-
mungsbildung, sondern die Folge einer abweichenden Bildung, die ein Resultat
hat, wie im Schweine, wo sie aus normalen Verhältnissen hervorgeht. -- Da
wir grade eine Formabweichung der Nase vor Augen haben, so erinnere ich nur
an den Wolfsrachen, als einer unbezweifelbaren Hemmungsbildung, die aber
eben so sicher nicht ein Stehenbleiben auf einer andern Thierform ist.

Zweites Corollarium.
Anwendung der gegebenen Darstellung auf die Bestimmung der einzelnen Or-
gane in den verschiedenen Thierformen.

Die nähere Kenntniss der Entwickelungsgeschichte wird uns auch einst die
einzig sichern Bestimmungsgründe für eine passende Benennung und richtige Beur-
theilung der organischen Theile in den verschiedenen Thierformen geben, und
schon jetzt lässt sich in dieser Hinsicht Einiges erkennen.

Da nämlich jedes Organ das was es ist, nur durch die Art seiner Ent-
wickelung wird, so kann sein wahrer Werth nur aus seiner Bildungsweise erkannt
werden. Wir urtheilen jetzt meistens nach einem unbestimmten Gefühle, statt
jedes Organ nur als isolirte Bildung seines Fundamentalorganes zu betrachten und
von diesem Gesichtspunkte aus die Uebereinstimmung und Verschiedenheit in den
verschiedenen Typen zu erkennen. Ein jeder Typus hat nämlich nicht nur seine
Fundamentalorgane, sondern in jedem Typus theilen sich diese in individuelle Or-
gane, die nicht ganz das seyn können, was sie in einem andern Typus sind. Wir
bedürfen daher einer vollständigen Benennung, welche nicht blos die Namen der
Organe aus dem Typus der Wirbelthiere auf die Organe anderer Typen anwendet,
sondern diesen eigene Namen giebt, wenn sie andern Ursprunges sind. Dieser
Forderung wird zwar kaum in einem Jahrhundert genügt werden können, indes-
sen wird es gut seyn, die Aufmerksamkeit darauf zu richten. Allerdings hat
schon oft die unmittelbare Beobachtung des ausgebildeten Thiers zur Erkennung

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Nase des Schweines in der vierten Woche des Embryonenlebens nicht nur der
Nase des frühen menschlichen Embryo ähnlich, sondern selbst der Nase des
erwachsenen Menschen viel ähnlicher, als in späterer Zeit. Dieses Verhältniſs
stimmt ganz mit der allgemeinen Regel. Die Nase der Luft athmenden Säuge-
thiere ragt gewöhnlich nicht über die Kiefern hervor. Die Besonderheit des
Schweinerüssels tritt also eben so wohl als die Besonderheit der menschlichen
Nase später auf, ohne daſs eine Form durch die andere hindurch gebildet würde.
Wenn nun der Mensch den Rüssel eines Schweines hat, so ist das keine Hem-
mungsbildung, sondern die Folge einer abweichenden Bildung, die ein Resultat
hat, wie im Schweine, wo sie aus normalen Verhältnissen hervorgeht. — Da
wir grade eine Formabweichung der Nase vor Augen haben, so erinnere ich nur
an den Wolfsrachen, als einer unbezweifelbaren Hemmungsbildung, die aber
eben so sicher nicht ein Stehenbleiben auf einer andern Thierform ist.

Zweites Corollarium.
Anwendung der gegebenen Darstellung auf die Bestimmung der einzelnen Or-
gane in den verschiedenen Thierformen.

Die nähere Kenntniſs der Entwickelungsgeschichte wird uns auch einst die
einzig sichern Bestimmungsgründe für eine passende Benennung und richtige Beur-
theilung der organischen Theile in den verschiedenen Thierformen geben, und
schon jetzt läſst sich in dieser Hinsicht Einiges erkennen.

Da nämlich jedes Organ das was es ist, nur durch die Art seiner Ent-
wickelung wird, so kann sein wahrer Werth nur aus seiner Bildungsweise erkannt
werden. Wir urtheilen jetzt meistens nach einem unbestimmten Gefühle, statt
jedes Organ nur als isolirte Bildung seines Fundamentalorganes zu betrachten und
von diesem Gesichtspunkte aus die Uebereinstimmung und Verschiedenheit in den
verschiedenen Typen zu erkennen. Ein jeder Typus hat nämlich nicht nur seine
Fundamentalorgane, sondern in jedem Typus theilen sich diese in individuelle Or-
gane, die nicht ganz das seyn können, was sie in einem andern Typus sind. Wir
bedürfen daher einer vollständigen Benennung, welche nicht blos die Namen der
Organe aus dem Typus der Wirbelthiere auf die Organe anderer Typen anwendet,
sondern diesen eigene Namen giebt, wenn sie andern Ursprunges sind. Dieser
Forderung wird zwar kaum in einem Jahrhundert genügt werden können, indes-
sen wird es gut seyn, die Aufmerksamkeit darauf zu richten. Allerdings hat
schon oft die unmittelbare Beobachtung des ausgebildeten Thiers zur Erkennung

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[233/0265] Nase des Schweines in der vierten Woche des Embryonenlebens nicht nur der Nase des frühen menschlichen Embryo ähnlich, sondern selbst der Nase des erwachsenen Menschen viel ähnlicher, als in späterer Zeit. Dieses Verhältniſs stimmt ganz mit der allgemeinen Regel. Die Nase der Luft athmenden Säuge- thiere ragt gewöhnlich nicht über die Kiefern hervor. Die Besonderheit des Schweinerüssels tritt also eben so wohl als die Besonderheit der menschlichen Nase später auf, ohne daſs eine Form durch die andere hindurch gebildet würde. Wenn nun der Mensch den Rüssel eines Schweines hat, so ist das keine Hem- mungsbildung, sondern die Folge einer abweichenden Bildung, die ein Resultat hat, wie im Schweine, wo sie aus normalen Verhältnissen hervorgeht. — Da wir grade eine Formabweichung der Nase vor Augen haben, so erinnere ich nur an den Wolfsrachen, als einer unbezweifelbaren Hemmungsbildung, die aber eben so sicher nicht ein Stehenbleiben auf einer andern Thierform ist. Zweites Corollarium. Anwendung der gegebenen Darstellung auf die Bestimmung der einzelnen Or- gane in den verschiedenen Thierformen. Die nähere Kenntniſs der Entwickelungsgeschichte wird uns auch einst die einzig sichern Bestimmungsgründe für eine passende Benennung und richtige Beur- theilung der organischen Theile in den verschiedenen Thierformen geben, und schon jetzt läſst sich in dieser Hinsicht Einiges erkennen. Da nämlich jedes Organ das was es ist, nur durch die Art seiner Ent- wickelung wird, so kann sein wahrer Werth nur aus seiner Bildungsweise erkannt werden. Wir urtheilen jetzt meistens nach einem unbestimmten Gefühle, statt jedes Organ nur als isolirte Bildung seines Fundamentalorganes zu betrachten und von diesem Gesichtspunkte aus die Uebereinstimmung und Verschiedenheit in den verschiedenen Typen zu erkennen. Ein jeder Typus hat nämlich nicht nur seine Fundamentalorgane, sondern in jedem Typus theilen sich diese in individuelle Or- gane, die nicht ganz das seyn können, was sie in einem andern Typus sind. Wir bedürfen daher einer vollständigen Benennung, welche nicht blos die Namen der Organe aus dem Typus der Wirbelthiere auf die Organe anderer Typen anwendet, sondern diesen eigene Namen giebt, wenn sie andern Ursprunges sind. Dieser Forderung wird zwar kaum in einem Jahrhundert genügt werden können, indes- sen wird es gut seyn, die Aufmerksamkeit darauf zu richten. Allerdings hat schon oft die unmittelbare Beobachtung des ausgebildeten Thiers zur Erkennung G g

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/265>, abgerufen am 25.11.2024.