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Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828.

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§. 16.
Allgemeiner Character der dritten Periode.

Die Vorgänge der dritten Periode zeigen uns die Herrschaft, welche
der Embryo über die übrigen Eitheile gewinnt. Wenn zuerst der Embryo
nur ein Theil der Keimhaut war, so wird jetzt die Keimhaut ein Theil des
Embryo. Während er in der zweiten Periode sich von den übrigen Eitheilen
abschnürte, und sich einhüllte, nimmt er sie jetzt allmählig in sich auf. Der
Dotter mit der ganzen Keimhaut tritt unmittelbar in den Leib des Embryo ein.
Mittelbar geht das Eiweiss denselben Weg. Auch die Flüssigkeit des Amnions
verliert sich. Nur die Theile, welche der Embryo aus sich heraus getrieben
hat, der Harnsack und die Haut, welche eine Verlängerung des Bauchfelles
zu seyn scheint, nimmt er nie wieder auf. Die Herrschaft, welche der
Embryo allmählig über die übrigen Eitheile gewinnt, ist offenbar eine höhere
Form des Selbstständigwerdens, wovon das Leben ausserhalb des Eies endlich
die höchste ist, in welcher das Thier nicht mehr die Theile des Eies, sondern
die Aussenwelt zu seiner Selbstbildung verwendet.

Wir haben beim Schlusse der zweiten Periode bemerkt, dass während
derselben der Character des Wirbelthieres vollständig wird, indem der anima-
lische Theil nach dem gedoppelten Typus der gegliederten Thierreihe und
der plastische nach dem Typus der Mollusken sich formt, und dass bald der
Embryo durch Entwickelung des Harnsackes in die Reihe derjenigen Wirbel-
thiere tritt, welche sich nicht im Wasser entwickeln.

Erst im Verlaufe der dritten Periode wird das Hühnchen zum Vogel
durch die eigenthümliche Ausbildung der Athem-Organe, und äusserlich wird
diese Thierklasse kenntlich, indem sich die Schnabelbildung kund giebt,
und die vordere Extremität die Form des Flügels annimmt. Bald ent-
wickeln sich auch die Federbälge. Es ist aber zuvörderst ein Vogel über-
haupt, nicht ein Vogel aus der Familie der Hühner. Erst allmählig offen-
bart es sich, dass aus dem Embryo ein Landvogel sich entwickelt, in-
dem die Schwimmhaut unkenntlich wird, und darauf reiht er sich in die
Familie der Hühner ein, wenn der Kopf sich bildet, der Vormagen sich
vom Muskelmagen scheidet, die stumpfen Nägel auf den Füssen, und die
Schuppe über der Nasenöffnung sich zeigen. Zuletzt tritt der Character der

S 2
§. 16.
Allgemeiner Character der dritten Periode.

Die Vorgänge der dritten Periode zeigen uns die Herrschaft, welche
der Embryo über die übrigen Eitheile gewinnt. Wenn zuerst der Embryo
nur ein Theil der Keimhaut war, so wird jetzt die Keimhaut ein Theil des
Embryo. Während er in der zweiten Periode sich von den übrigen Eitheilen
abschnürte, und sich einhüllte, nimmt er sie jetzt allmählig in sich auf. Der
Dotter mit der ganzen Keimhaut tritt unmittelbar in den Leib des Embryo ein.
Mittelbar geht das Eiweiſs denselben Weg. Auch die Flüssigkeit des Amnions
verliert sich. Nur die Theile, welche der Embryo aus sich heraus getrieben
hat, der Harnsack und die Haut, welche eine Verlängerung des Bauchfelles
zu seyn scheint, nimmt er nie wieder auf. Die Herrschaft, welche der
Embryo allmählig über die übrigen Eitheile gewinnt, ist offenbar eine höhere
Form des Selbstständigwerdens, wovon das Leben auſserhalb des Eies endlich
die höchste ist, in welcher das Thier nicht mehr die Theile des Eies, sondern
die Auſsenwelt zu seiner Selbstbildung verwendet.

Wir haben beim Schlusse der zweiten Periode bemerkt, daſs während
derselben der Character des Wirbelthieres vollständig wird, indem der anima-
lische Theil nach dem gedoppelten Typus der gegliederten Thierreihe und
der plastische nach dem Typus der Mollusken sich formt, und daſs bald der
Embryo durch Entwickelung des Harnsackes in die Reihe derjenigen Wirbel-
thiere tritt, welche sich nicht im Wasser entwickeln.

Erst im Verlaufe der dritten Periode wird das Hühnchen zum Vogel
durch die eigenthümliche Ausbildung der Athem-Organe, und äuſserlich wird
diese Thierklasse kenntlich, indem sich die Schnabelbildung kund giebt,
und die vordere Extremität die Form des Flügels annimmt. Bald ent-
wickeln sich auch die Federbälge. Es ist aber zuvörderst ein Vogel über-
haupt, nicht ein Vogel aus der Familie der Hühner. Erst allmählig offen-
bart es sich, daſs aus dem Embryo ein Landvogel sich entwickelt, in-
dem die Schwimmhaut unkenntlich wird, und darauf reiht er sich in die
Familie der Hühner ein, wenn der Kopf sich bildet, der Vormagen sich
vom Muskelmagen scheidet, die stumpfen Nägel auf den Füſsen, und die
Schuppe über der Nasenöffnung sich zeigen. Zuletzt tritt der Character der

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[139/0169] §. 16. Allgemeiner Character der dritten Periode. Die Vorgänge der dritten Periode zeigen uns die Herrschaft, welche der Embryo über die übrigen Eitheile gewinnt. Wenn zuerst der Embryo nur ein Theil der Keimhaut war, so wird jetzt die Keimhaut ein Theil des Embryo. Während er in der zweiten Periode sich von den übrigen Eitheilen abschnürte, und sich einhüllte, nimmt er sie jetzt allmählig in sich auf. Der Dotter mit der ganzen Keimhaut tritt unmittelbar in den Leib des Embryo ein. Mittelbar geht das Eiweiſs denselben Weg. Auch die Flüssigkeit des Amnions verliert sich. Nur die Theile, welche der Embryo aus sich heraus getrieben hat, der Harnsack und die Haut, welche eine Verlängerung des Bauchfelles zu seyn scheint, nimmt er nie wieder auf. Die Herrschaft, welche der Embryo allmählig über die übrigen Eitheile gewinnt, ist offenbar eine höhere Form des Selbstständigwerdens, wovon das Leben auſserhalb des Eies endlich die höchste ist, in welcher das Thier nicht mehr die Theile des Eies, sondern die Auſsenwelt zu seiner Selbstbildung verwendet. Wir haben beim Schlusse der zweiten Periode bemerkt, daſs während derselben der Character des Wirbelthieres vollständig wird, indem der anima- lische Theil nach dem gedoppelten Typus der gegliederten Thierreihe und der plastische nach dem Typus der Mollusken sich formt, und daſs bald der Embryo durch Entwickelung des Harnsackes in die Reihe derjenigen Wirbel- thiere tritt, welche sich nicht im Wasser entwickeln. Erst im Verlaufe der dritten Periode wird das Hühnchen zum Vogel durch die eigenthümliche Ausbildung der Athem-Organe, und äuſserlich wird diese Thierklasse kenntlich, indem sich die Schnabelbildung kund giebt, und die vordere Extremität die Form des Flügels annimmt. Bald ent- wickeln sich auch die Federbälge. Es ist aber zuvörderst ein Vogel über- haupt, nicht ein Vogel aus der Familie der Hühner. Erst allmählig offen- bart es sich, daſs aus dem Embryo ein Landvogel sich entwickelt, in- dem die Schwimmhaut unkenntlich wird, und darauf reiht er sich in die Familie der Hühner ein, wenn der Kopf sich bildet, der Vormagen sich vom Muskelmagen scheidet, die stumpfen Nägel auf den Füſsen, und die Schuppe über der Nasenöffnung sich zeigen. Zuletzt tritt der Character der S 2

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Zitationshilfe: Baer, Karl Ernst von: Über Entwicklungsgeschichte der Thiere. Bd. 1. Königsberg, 1828, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/baer_thiere_1828/169>, abgerufen am 23.11.2024.