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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862.

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kommnet, aber schon unter Ludwig XV. vom versailler Cabinet
eingeführt sein. Doch erscheint sie ihrem ganzen Wesen nach älter
und ist mit gutem Recht bis zu Richelieu zurückzudatiren. Die
ursprüngliche Polizeischrift legte auf die eigentliche Schrift gar kei-
nen, auf die Lesezeichen 1) nur untergeordneten Werth, faßte aber
ihren ganzen höllischen Verrath in den decorativen Theilen der
Empfehlungskarten zusammen und gab allen Linien, Zeichnungen
und Ornamenten, mit welchen das Volk gerade am arglosesten
und unverfänglichsten spielte, eine eigene furchtbare Bedeutung.
Das aber war ein Hauptzug im Charakter des so stolzen wie
verschlagenen Cardinals, daß er bei seiner tiefen Verachtung des
Volks dasselbe immer gerade da zu fassen wußte, wo es am arg-
losesten spielte. Jn diesen scheinbar bedeutungslosen Decoratio-
nen war aber kein Zug, kein Strich, kein Punkt, keine Linie,
Figur, Ziffer und Farbe ohne Bedeutung. Heimat, Gestalt, Züge,
Alter, Stand, Religion, Temperament, Charakter, Vorzüge, Feh-
ler, Talente, Wissenschaft, Kenntnisse, bürgerliche, häusliche und
Familienverhältnisse, Vermögen, politische Stellung und Verdäch-
tigkeit, Grund und Zweck der Reise, ja sogar versteckte körperliche
Fehler: alles war in diesen Karten aufs genaueste angegeben, ohne
daß der Jnhaber auch nur eine Ahnung davon hatte, daß ein
königlicher oder später kaiserlicher Gesandter sich und seinen Hof
damit herabwürdigte, daß er in gemeiner Gaunerart durch Gauner-
zinken den arglosen Fremden wie einen "Freier" für seine diplo-
matische Chawrusse im Cabinet eines Königs und Kaisers "zinkte"
und "verslichnete". Die decorative Polizeischrift ist eine vollstän-
dige Gaunerschrift, welche erst dann aufgegeben und in die eigent-

Autorschaft erwiesen zu haben. Vgl. Klüber, a. a. O., und "Reichsanzeiger",
1796, Nr. 80, 87 und 253.
1) Die Lesezeichen und die Jnterpunktion, namentlich das Kolon und Semi-
kolon, Frage- und Ausrufungszeichen, welche nachweislich erst seit dem 17. und
18. Jahrhundert zu allgemeiner Anwendung gekommen sind, geben in ihrer An-
wendung für die geheime Polizeischrift kein geschichtliches Kriterium ab, da in
der erst seit 1783 bekannt gewordenen geheimen Polizeischrift die Lesezeichen
und Jnterpunktionen in ganz eigenthümlicher beschränkter Weise und mit ab-
weichender, wenn auch sehr bestimmter Bedeutung angewandt werden.

kommnet, aber ſchon unter Ludwig XV. vom verſailler Cabinet
eingeführt ſein. Doch erſcheint ſie ihrem ganzen Weſen nach älter
und iſt mit gutem Recht bis zu Richelieu zurückzudatiren. Die
urſprüngliche Polizeiſchrift legte auf die eigentliche Schrift gar kei-
nen, auf die Leſezeichen 1) nur untergeordneten Werth, faßte aber
ihren ganzen hölliſchen Verrath in den decorativen Theilen der
Empfehlungskarten zuſammen und gab allen Linien, Zeichnungen
und Ornamenten, mit welchen das Volk gerade am argloſeſten
und unverfänglichſten ſpielte, eine eigene furchtbare Bedeutung.
Das aber war ein Hauptzug im Charakter des ſo ſtolzen wie
verſchlagenen Cardinals, daß er bei ſeiner tiefen Verachtung des
Volks daſſelbe immer gerade da zu faſſen wußte, wo es am arg-
loſeſten ſpielte. Jn dieſen ſcheinbar bedeutungsloſen Decoratio-
nen war aber kein Zug, kein Strich, kein Punkt, keine Linie,
Figur, Ziffer und Farbe ohne Bedeutung. Heimat, Geſtalt, Züge,
Alter, Stand, Religion, Temperament, Charakter, Vorzüge, Feh-
ler, Talente, Wiſſenſchaft, Kenntniſſe, bürgerliche, häusliche und
Familienverhältniſſe, Vermögen, politiſche Stellung und Verdäch-
tigkeit, Grund und Zweck der Reiſe, ja ſogar verſteckte körperliche
Fehler: alles war in dieſen Karten aufs genaueſte angegeben, ohne
daß der Jnhaber auch nur eine Ahnung davon hatte, daß ein
königlicher oder ſpäter kaiſerlicher Geſandter ſich und ſeinen Hof
damit herabwürdigte, daß er in gemeiner Gaunerart durch Gauner-
zinken den argloſen Fremden wie einen „Freier“ für ſeine diplo-
matiſche Chawruſſe im Cabinet eines Königs und Kaiſers „zinkte“
und „verſlichnete“. Die decorative Polizeiſchrift iſt eine vollſtän-
dige Gaunerſchrift, welche erſt dann aufgegeben und in die eigent-

Autorſchaft erwieſen zu haben. Vgl. Klüber, a. a. O., und „Reichsanzeiger“,
1796, Nr. 80, 87 und 253.
1) Die Leſezeichen und die Jnterpunktion, namentlich das Kolon und Semi-
kolon, Frage- und Ausrufungszeichen, welche nachweislich erſt ſeit dem 17. und
18. Jahrhundert zu allgemeiner Anwendung gekommen ſind, geben in ihrer An-
wendung für die geheime Polizeiſchrift kein geſchichtliches Kriterium ab, da in
der erſt ſeit 1783 bekannt gewordenen geheimen Polizeiſchrift die Leſezeichen
und Jnterpunktionen in ganz eigenthümlicher beſchränkter Weiſe und mit ab-
weichender, wenn auch ſehr beſtimmter Bedeutung angewandt werden.
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[18/0030] kommnet, aber ſchon unter Ludwig XV. vom verſailler Cabinet eingeführt ſein. Doch erſcheint ſie ihrem ganzen Weſen nach älter und iſt mit gutem Recht bis zu Richelieu zurückzudatiren. Die urſprüngliche Polizeiſchrift legte auf die eigentliche Schrift gar kei- nen, auf die Leſezeichen 1) nur untergeordneten Werth, faßte aber ihren ganzen hölliſchen Verrath in den decorativen Theilen der Empfehlungskarten zuſammen und gab allen Linien, Zeichnungen und Ornamenten, mit welchen das Volk gerade am argloſeſten und unverfänglichſten ſpielte, eine eigene furchtbare Bedeutung. Das aber war ein Hauptzug im Charakter des ſo ſtolzen wie verſchlagenen Cardinals, daß er bei ſeiner tiefen Verachtung des Volks daſſelbe immer gerade da zu faſſen wußte, wo es am arg- loſeſten ſpielte. Jn dieſen ſcheinbar bedeutungsloſen Decoratio- nen war aber kein Zug, kein Strich, kein Punkt, keine Linie, Figur, Ziffer und Farbe ohne Bedeutung. Heimat, Geſtalt, Züge, Alter, Stand, Religion, Temperament, Charakter, Vorzüge, Feh- ler, Talente, Wiſſenſchaft, Kenntniſſe, bürgerliche, häusliche und Familienverhältniſſe, Vermögen, politiſche Stellung und Verdäch- tigkeit, Grund und Zweck der Reiſe, ja ſogar verſteckte körperliche Fehler: alles war in dieſen Karten aufs genaueſte angegeben, ohne daß der Jnhaber auch nur eine Ahnung davon hatte, daß ein königlicher oder ſpäter kaiſerlicher Geſandter ſich und ſeinen Hof damit herabwürdigte, daß er in gemeiner Gaunerart durch Gauner- zinken den argloſen Fremden wie einen „Freier“ für ſeine diplo- matiſche Chawruſſe im Cabinet eines Königs und Kaiſers „zinkte“ und „verſlichnete“. Die decorative Polizeiſchrift iſt eine vollſtän- dige Gaunerſchrift, welche erſt dann aufgegeben und in die eigent- 2) 1) Die Leſezeichen und die Jnterpunktion, namentlich das Kolon und Semi- kolon, Frage- und Ausrufungszeichen, welche nachweislich erſt ſeit dem 17. und 18. Jahrhundert zu allgemeiner Anwendung gekommen ſind, geben in ihrer An- wendung für die geheime Polizeiſchrift kein geſchichtliches Kriterium ab, da in der erſt ſeit 1783 bekannt gewordenen geheimen Polizeiſchrift die Leſezeichen und Jnterpunktionen in ganz eigenthümlicher beſchränkter Weiſe und mit ab- weichender, wenn auch ſehr beſtimmter Bedeutung angewandt werden. 2) Autorſchaft erwieſen zu haben. Vgl. Klüber, a. a. O., und „Reichsanzeiger“, 1796, Nr. 80, 87 und 253.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 4. Leipzig, 1862, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum04_1862/30>, abgerufen am 22.11.2024.