sich selbst versagt und in der freiwilligen Verbannung seiner Ge- lehrtenstube eine eigene Welt construirt hat, in welcher er nur mit dem Pfunde abstracter Wissenschaft speculirt, in welcher der Jüng- ling mit dem Wissen auch das graue Haupt und das Siechthum des Greises erwarb und dabei ein rathloses Kindesherz behielt. Die Stubengelehrsamkeit des 16. und 17. Jahrhunderts war eine schleichende Krankheit des deutschen Gelehrtenthums mit contagiö- ser Wirkung, mit den verschiedensten Symptomen und mit einer eigenen trüben Krankengeschichte. Das erkennt man recht anschau- lich aus dem seltsamen und seltenen Werke des Magisters J. Chr. Tschanter 1), welches in der That die traurigsten Nekrologe lang- sam dahingesiechter Stubengelehrten enthält und die Züge starrer Todtenmasken gibt, bei deren Betrachtung man fest an den Tod, aber kaum an ein voraufgegangenes frisches, blühendes Leben glauben mag. Nur ein so kolossales politisches Ereigniß wie der Dreißigjährige Krieg konnte das in sich versunkene Gelehrtenthum aus seiner Eigenwelt herausrütteln und am entsetzlichen Elend des Volkes belehren, daß es eine Außenwelt gab, deren Zerrüt- tung und Elend mit dem frischen, geraden, tiefen Blicke der Wissen- schaft in das Volk ergründet und geheilt zu werden verlangte. Unter allen Gewaltthaten des Dreißigjährigen Kriegs ist diejenige die am wenigsten zu beklagende, daß er auch die Thüren der Ge- lehrtenstuben sprengte und die Gelehrten in das freie, offene Leben hineinriß. Gerade an diesen politischen Ereignissen erwachte der deutsche Nationalgeist, und die Gelehrsamkeit, durch die herrlichen Namen S. von Pufendorf (+ 1694), J. Schilter (+ 1705), J. G. von Eckhard (+ 1730), J. B. Mencke (+ 1732) u. a. getra- gen, fing gerade in den Staats- und historischen Wissenschaften
1) "Historische Nachricht von Gelehrten Leuten, die sich zu Tode studiret, bestehende in 3 unterschiedlichen Theilen, davon der I. aus der Historie aller- hand Exempel unserer und anderer Religionen vorstellet; der II. die Causas Physicas oder natürlichen Ursachen des frühzeitigen Todes oberwähnter Gelehr- ten untersuchet; und der III. die Quaestionem Moralem oder hierbey vor- kommende Sitten-Frage: Ob, und in wie ferne mit dergleichen unmäßigem Studiren gesündiget worden? bescheidentlich erörtert" (Budissin 1722).
ſich ſelbſt verſagt und in der freiwilligen Verbannung ſeiner Ge- lehrtenſtube eine eigene Welt conſtruirt hat, in welcher er nur mit dem Pfunde abſtracter Wiſſenſchaft ſpeculirt, in welcher der Jüng- ling mit dem Wiſſen auch das graue Haupt und das Siechthum des Greiſes erwarb und dabei ein rathloſes Kindesherz behielt. Die Stubengelehrſamkeit des 16. und 17. Jahrhunderts war eine ſchleichende Krankheit des deutſchen Gelehrtenthums mit contagiö- ſer Wirkung, mit den verſchiedenſten Symptomen und mit einer eigenen trüben Krankengeſchichte. Das erkennt man recht anſchau- lich aus dem ſeltſamen und ſeltenen Werke des Magiſters J. Chr. Tſchanter 1), welches in der That die traurigſten Nekrologe lang- ſam dahingeſiechter Stubengelehrten enthält und die Züge ſtarrer Todtenmasken gibt, bei deren Betrachtung man feſt an den Tod, aber kaum an ein voraufgegangenes friſches, blühendes Leben glauben mag. Nur ein ſo koloſſales politiſches Ereigniß wie der Dreißigjährige Krieg konnte das in ſich verſunkene Gelehrtenthum aus ſeiner Eigenwelt herausrütteln und am entſetzlichen Elend des Volkes belehren, daß es eine Außenwelt gab, deren Zerrüt- tung und Elend mit dem friſchen, geraden, tiefen Blicke der Wiſſen- ſchaft in das Volk ergründet und geheilt zu werden verlangte. Unter allen Gewaltthaten des Dreißigjährigen Kriegs iſt diejenige die am wenigſten zu beklagende, daß er auch die Thüren der Ge- lehrtenſtuben ſprengte und die Gelehrten in das freie, offene Leben hineinriß. Gerade an dieſen politiſchen Ereigniſſen erwachte der deutſche Nationalgeiſt, und die Gelehrſamkeit, durch die herrlichen Namen S. von Pufendorf († 1694), J. Schilter († 1705), J. G. von Eckhard († 1730), J. B. Mencke († 1732) u. a. getra- gen, fing gerade in den Staats- und hiſtoriſchen Wiſſenſchaften
1) „Hiſtoriſche Nachricht von Gelehrten Leuten, die ſich zu Tode studiret, beſtehende in 3 unterſchiedlichen Theilen, davon der I. aus der Hiſtorie aller- hand Exempel unſerer und anderer Religionen vorſtellet; der II. die Causas Physicas oder natürlichen Urſachen des frühzeitigen Todes oberwähnter Gelehr- ten unterſuchet; und der III. die Quaestionem Moralem oder hierbey vor- kommende Sitten-Frage: Ob, und in wie ferne mit dergleichen unmäßigem Studiren geſündiget worden? beſcheidentlich erörtert“ (Budiſſin 1722).
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ſich ſelbſt verſagt und in der freiwilligen Verbannung ſeiner Ge-
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dem Pfunde abſtracter Wiſſenſchaft ſpeculirt, in welcher der Jüng-
ling mit dem Wiſſen auch das graue Haupt und das Siechthum
des Greiſes erwarb und dabei ein rathloſes Kindesherz behielt.
Die Stubengelehrſamkeit des 16. und 17. Jahrhunderts war eine
ſchleichende Krankheit des deutſchen Gelehrtenthums mit contagiö-
ſer Wirkung, mit den verſchiedenſten Symptomen und mit einer
eigenen trüben Krankengeſchichte. Das erkennt man recht anſchau-
lich aus dem ſeltſamen und ſeltenen Werke des Magiſters J. Chr.
Tſchanter 1), welches in der That die traurigſten Nekrologe lang-
ſam dahingeſiechter Stubengelehrten enthält und die Züge ſtarrer
Todtenmasken gibt, bei deren Betrachtung man feſt an den Tod,
aber kaum an ein voraufgegangenes friſches, blühendes Leben
glauben mag. Nur ein ſo koloſſales politiſches Ereigniß wie der
Dreißigjährige Krieg konnte das in ſich verſunkene Gelehrtenthum
aus ſeiner Eigenwelt herausrütteln und am entſetzlichen Elend
des Volkes belehren, daß es eine Außenwelt gab, deren Zerrüt-
tung und Elend mit dem friſchen, geraden, tiefen Blicke der Wiſſen-
ſchaft in das Volk ergründet und geheilt zu werden verlangte.
Unter allen Gewaltthaten des Dreißigjährigen Kriegs iſt diejenige
die am wenigſten zu beklagende, daß er auch die Thüren der Ge-
lehrtenſtuben ſprengte und die Gelehrten in das freie, offene Leben
hineinriß. Gerade an dieſen politiſchen Ereigniſſen erwachte der
deutſche Nationalgeiſt, und die Gelehrſamkeit, durch die herrlichen
Namen S. von Pufendorf († 1694), J. Schilter († 1705), J.
G. von Eckhard († 1730), J. B. Mencke († 1732) u. a. getra-
gen, fing gerade in den Staats- und hiſtoriſchen Wiſſenſchaften
1) „Hiſtoriſche Nachricht von Gelehrten Leuten, die ſich zu Tode studiret,
beſtehende in 3 unterſchiedlichen Theilen, davon der I. aus der Hiſtorie aller-
hand Exempel unſerer und anderer Religionen vorſtellet; der II. die Causas
Physicas oder natürlichen Urſachen des frühzeitigen Todes oberwähnter Gelehr-
ten unterſuchet; und der III. die Quaestionem Moralem oder hierbey vor-
kommende Sitten-Frage: Ob, und in wie ferne mit dergleichen unmäßigem
Studiren geſündiget worden? beſcheidentlich erörtert“ (Budiſſin 1722).
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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 3. Leipzig, 1862, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum03_1862/209>, abgerufen am 24.07.2024.
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