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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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der Kaltherzigkeit und Fühllosigkeit annimmt. Jn der massenhaft
gedrängten Bewegung der großen Städte, namentlich Englands
und Frankreichs, in welchen der Taschendiebstahl besonders seine
Rechnung findet, tritt jene Abgeschlossenheit gegen alles Fremde
am sichtbarsten hervor, sodaß der Unbekannte nirgends verlassener
ist, als mitten in der großen Masse von Menschen um ihn herum.
Aber auch einen ganz entschiedenen Einfluß auf die Kleidung 1)
und deren Schnitt und Taschen hat von jeher der Taschendiebstahl
geübt. Jn früherer Zeit, wo die Taschen nicht in der Kleidung
befestigt waren, sondern an Riemen und Bändern über die Schul-
tern oder Brust, oder um den Leib getragen wurden, konnten die
Beutelschneider oder Schnapphähne 2) mit einem kurzen Ruck oder
Schnitt im hastigen Laufe sich der ganzen Tasche leicht bemäch-
tigen. Seitdem die Taschen aber an und in der Kleidung be-
festigt sind, ist der Kunst eine schwierigere Aufgabe gestellt, die aber
immer mit täglich neuen Kunstgriffen, oft zum schweren Nachtheil
für Gesundheit und Leben 3) des Bestohlenen, gelöst wird, da zum
Aufschlitzen und Abschneiden der sichernden Taschen vielfach auch
scharfe Scheren und Messer in Anwendung kommen, wie denn
auch zum Durchschneiden der feinen Uhr- und Halsketten kleine

1) Vgl. die treffliche Darstellung von Gustav Klemm, "Allgemeine Cul-
turgeschichte der Menschheit", IX, 100--116. So auch Hüllmann, "Städte-
wesen des Mittelalters", IV, 134 fg.
2) Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts scheint der Ausdruck Schnapp-
hahn
für Taschendieb gebräuchlich geworden zu sein. Die ursprüngliche
Bedeutung ist wol eine andere gewesen. Den ältesten Nachweis, den ich
finden konnte, gibt Kaspar von Stieler (der Spaten) in seinem "Teutschen
Sprachschatz" (1691), woselbst er S. 749 sagt: "Schnapphähne dicuntur
rustici sylvarum recessus occupantes atque in transeuntes milites sae-
vientes
", also etwa Buschklepper. Jm Niederdeutschen heißt Snap-haan eine
Flinte, Flintenbüchse, und danach auch, wie Kramer, a. a. O., I, 353, anführt,
"ein Räuber mit einer Flinte zu Kriegszeiten", also ziemlich übereinstimmend
mit Stieler.
3) So erzählt Smith, a. a. O., S. 710, daß der berüchtigte Simon
Fletscher einmal einen Landmann auf der londoner Brücke, welcher auf seinen
Stock vorn übergelehnt, mehreren Sängern zuhörte, gänzlich verstümmelte, als
er ihm die Geldtasche vor dem Beinkleid wegschneiden wollte.

der Kaltherzigkeit und Fühlloſigkeit annimmt. Jn der maſſenhaft
gedrängten Bewegung der großen Städte, namentlich Englands
und Frankreichs, in welchen der Taſchendiebſtahl beſonders ſeine
Rechnung findet, tritt jene Abgeſchloſſenheit gegen alles Fremde
am ſichtbarſten hervor, ſodaß der Unbekannte nirgends verlaſſener
iſt, als mitten in der großen Maſſe von Menſchen um ihn herum.
Aber auch einen ganz entſchiedenen Einfluß auf die Kleidung 1)
und deren Schnitt und Taſchen hat von jeher der Taſchendiebſtahl
geübt. Jn früherer Zeit, wo die Taſchen nicht in der Kleidung
befeſtigt waren, ſondern an Riemen und Bändern über die Schul-
tern oder Bruſt, oder um den Leib getragen wurden, konnten die
Beutelſchneider oder Schnapphähne 2) mit einem kurzen Ruck oder
Schnitt im haſtigen Laufe ſich der ganzen Taſche leicht bemäch-
tigen. Seitdem die Taſchen aber an und in der Kleidung be-
feſtigt ſind, iſt der Kunſt eine ſchwierigere Aufgabe geſtellt, die aber
immer mit täglich neuen Kunſtgriffen, oft zum ſchweren Nachtheil
für Geſundheit und Leben 3) des Beſtohlenen, gelöſt wird, da zum
Aufſchlitzen und Abſchneiden der ſichernden Taſchen vielfach auch
ſcharfe Scheren und Meſſer in Anwendung kommen, wie denn
auch zum Durchſchneiden der feinen Uhr- und Halsketten kleine

1) Vgl. die treffliche Darſtellung von Guſtav Klemm, „Allgemeine Cul-
turgeſchichte der Menſchheit“, IX, 100—116. So auch Hüllmann, „Städte-
weſen des Mittelalters“, IV, 134 fg.
2) Erſt gegen Ende des 17. Jahrhunderts ſcheint der Ausdruck Schnapp-
hahn
für Taſchendieb gebräuchlich geworden zu ſein. Die urſprüngliche
Bedeutung iſt wol eine andere geweſen. Den älteſten Nachweis, den ich
finden konnte, gibt Kaspar von Stieler (der Spaten) in ſeinem „Teutſchen
Sprachſchatz“ (1691), woſelbſt er S. 749 ſagt: „Schnapphähne dicuntur
rustici sylvarum recessus occupantes atque in transeuntes milites sae-
vientes
“, alſo etwa Buſchklepper. Jm Niederdeutſchen heißt Snap-haan eine
Flinte, Flintenbüchſe, und danach auch, wie Kramer, a. a. O., I, 353, anführt,
„ein Räuber mit einer Flinte zu Kriegszeiten“, alſo ziemlich übereinſtimmend
mit Stieler.
3) So erzählt Smith, a. a. O., S. 710, daß der berüchtigte Simon
Fletſcher einmal einen Landmann auf der londoner Brücke, welcher auf ſeinen
Stock vorn übergelehnt, mehreren Sängern zuhörte, gänzlich verſtümmelte, als
er ihm die Geldtaſche vor dem Beinkleid wegſchneiden wollte.
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[226/0238] der Kaltherzigkeit und Fühlloſigkeit annimmt. Jn der maſſenhaft gedrängten Bewegung der großen Städte, namentlich Englands und Frankreichs, in welchen der Taſchendiebſtahl beſonders ſeine Rechnung findet, tritt jene Abgeſchloſſenheit gegen alles Fremde am ſichtbarſten hervor, ſodaß der Unbekannte nirgends verlaſſener iſt, als mitten in der großen Maſſe von Menſchen um ihn herum. Aber auch einen ganz entſchiedenen Einfluß auf die Kleidung 1) und deren Schnitt und Taſchen hat von jeher der Taſchendiebſtahl geübt. Jn früherer Zeit, wo die Taſchen nicht in der Kleidung befeſtigt waren, ſondern an Riemen und Bändern über die Schul- tern oder Bruſt, oder um den Leib getragen wurden, konnten die Beutelſchneider oder Schnapphähne 2) mit einem kurzen Ruck oder Schnitt im haſtigen Laufe ſich der ganzen Taſche leicht bemäch- tigen. Seitdem die Taſchen aber an und in der Kleidung be- feſtigt ſind, iſt der Kunſt eine ſchwierigere Aufgabe geſtellt, die aber immer mit täglich neuen Kunſtgriffen, oft zum ſchweren Nachtheil für Geſundheit und Leben 3) des Beſtohlenen, gelöſt wird, da zum Aufſchlitzen und Abſchneiden der ſichernden Taſchen vielfach auch ſcharfe Scheren und Meſſer in Anwendung kommen, wie denn auch zum Durchſchneiden der feinen Uhr- und Halsketten kleine 1) Vgl. die treffliche Darſtellung von Guſtav Klemm, „Allgemeine Cul- turgeſchichte der Menſchheit“, IX, 100—116. So auch Hüllmann, „Städte- weſen des Mittelalters“, IV, 134 fg. 2) Erſt gegen Ende des 17. Jahrhunderts ſcheint der Ausdruck Schnapp- hahn für Taſchendieb gebräuchlich geworden zu ſein. Die urſprüngliche Bedeutung iſt wol eine andere geweſen. Den älteſten Nachweis, den ich finden konnte, gibt Kaspar von Stieler (der Spaten) in ſeinem „Teutſchen Sprachſchatz“ (1691), woſelbſt er S. 749 ſagt: „Schnapphähne dicuntur rustici sylvarum recessus occupantes atque in transeuntes milites sae- vientes“, alſo etwa Buſchklepper. Jm Niederdeutſchen heißt Snap-haan eine Flinte, Flintenbüchſe, und danach auch, wie Kramer, a. a. O., I, 353, anführt, „ein Räuber mit einer Flinte zu Kriegszeiten“, alſo ziemlich übereinſtimmend mit Stieler. 3) So erzählt Smith, a. a. O., S. 710, daß der berüchtigte Simon Fletſcher einmal einen Landmann auf der londoner Brücke, welcher auf ſeinen Stock vorn übergelehnt, mehreren Sängern zuhörte, gänzlich verſtümmelte, als er ihm die Geldtaſche vor dem Beinkleid wegſchneiden wollte.

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum02_1858/238>, abgerufen am 15.11.2024.