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Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858.

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lichen großen Ganzen erkennt. 1) Diese Wahrnehmung konnte
auch den damaligen Justiz- und Polizeibehörden nicht entgehen.
Allein der ungelenke und feierlich förmliche Gang der erstern,
dem durch die beginnende theoretische Bearbeitung und Systemati-
sirung des peinlichen Rechts 2) noch wenig Behendigkeit verliehen
werden konnte, und die Rathlosigkeit und Unbeweglichkeit der letz-
tern, waren die Hauptursachen, warum die ungeheuere Gegnerschaft,
kaum berührt und beirrt durch den blutigen Kampf, ihren Wucher
forttreiben konnte. 3) Gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts

1) Vgl. die Literatur a. a. O. Für die allgemeine objective Auffassung
des Gaunerthums erscheinen die "Gründliche Nachricht von entsetzlichen
und erbärmlichen Mordthaten", sowie ganz besonders das treffliche "Betrugs-
Lexikon" des wackern Hönn, und auch die Noten zum "Jüdischen Baldower"
bemerkenswerth.
2) Durch Ch. Fr. Holland, Kemmerich, J. S. F. Böhmer, Engau,
Ch. J. G. Meister u. A. Vgl. Wächter, "Lehrbuch des Römisch-Teutschen Straf-
rechtes", I, 10 u. 11. Trotz diesen und andern Hülfsmitteln findet man selbst
noch gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts eine so arge Unwissenheit und
Taktlosigkeit der Criminalbehörden, daß man kaum seinen Augen trauen mag,
wenn man Actenfascikel aus jener Zeit in die Hand nimmt. Ein solcher,
Staunen und Unwillen erregender Fall ist die noch nicht viermonatliche Proce-
dur gegen die am 9. Jan. 1776 zu Gotha wegen angeblicher Ermordung ihres
neunjährigen Knabens (in puncto infanticidii suspecti, sic!) so elend mit
sieben Schwerthieben hingerichteten wahnsinnigen Katharina Trotz. Es ist
keine einzige Person, vom Oberbeamten, Amtscommissär, Gerichtsarzt und
Defensor an bis zum Amtsdiener, der Amtsdienerin und dem Scharfrichter
hinab, in dieser unseligen Procedur thätig gewesen, die nicht jede in ihrer
Sphäre auf das ärgste und unverantwortlichste gefehlt und ohne weiteres
mindestens Amtsentsetzung verdient hätte. Bezeichnend für den Standpunkt
der Wissenschaft und Rechtspflege überhaupt ist, daß der Schöppenstuhl zu
Jena, ungeachtet der vielen und argen Gebrechen der Procedur, die unglück-
liche Jnquisitin dennoch zum Tode verurtheilte. Der Fall ist mit kritischer
Schärfe erzählt in Max Roderich, "Verbrechen und Strafe" (Jena 1850),
S. 281--330.
3) Wie weit die Rathlosigkeit ging, sich des dicht gedrängten Gauner-
gesindels zu erwehren, davon gibt eine Polemik den Beweis, die als solche
eigentlich noch wunderbarer ist, als der Vorschlag, welcher sie veranlaßte. Ein
"deutscher Patriot" machte in der "Hannöverischen nützlichen Sammlung vom
Jahre 1758", St. 72, Col. 1146, den Vorschlag, "daß man alles, was man
von solchem Gefindel bekommen könne, durch Zersprengung des Trommelfells
Ave-Lallemant, Gaunerthum. I. 6

lichen großen Ganzen erkennt. 1) Dieſe Wahrnehmung konnte
auch den damaligen Juſtiz- und Polizeibehörden nicht entgehen.
Allein der ungelenke und feierlich förmliche Gang der erſtern,
dem durch die beginnende theoretiſche Bearbeitung und Syſtemati-
ſirung des peinlichen Rechts 2) noch wenig Behendigkeit verliehen
werden konnte, und die Rathloſigkeit und Unbeweglichkeit der letz-
tern, waren die Haupturſachen, warum die ungeheuere Gegnerſchaft,
kaum berührt und beirrt durch den blutigen Kampf, ihren Wucher
forttreiben konnte. 3) Gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts

1) Vgl. die Literatur a. a. O. Für die allgemeine objective Auffaſſung
des Gaunerthums erſcheinen die „Gründliche Nachricht von entſetzlichen
und erbärmlichen Mordthaten“, ſowie ganz beſonders das treffliche „Betrugs-
Lexikon“ des wackern Hönn, und auch die Noten zum „Jüdiſchen Baldower“
bemerkenswerth.
2) Durch Ch. Fr. Holland, Kemmerich, J. S. F. Böhmer, Engau,
Ch. J. G. Meiſter u. A. Vgl. Wächter, „Lehrbuch des Römiſch-Teutſchen Straf-
rechtes“, I, 10 u. 11. Trotz dieſen und andern Hülfsmitteln findet man ſelbſt
noch gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts eine ſo arge Unwiſſenheit und
Taktloſigkeit der Criminalbehörden, daß man kaum ſeinen Augen trauen mag,
wenn man Actenfascikel aus jener Zeit in die Hand nimmt. Ein ſolcher,
Staunen und Unwillen erregender Fall iſt die noch nicht viermonatliche Proce-
dur gegen die am 9. Jan. 1776 zu Gotha wegen angeblicher Ermordung ihres
neunjährigen Knabens (in puncto infanticidii suspecti, sic!) ſo elend mit
ſieben Schwerthieben hingerichteten wahnſinnigen Katharina Trotz. Es iſt
keine einzige Perſon, vom Oberbeamten, Amtscommiſſär, Gerichtsarzt und
Defenſor an bis zum Amtsdiener, der Amtsdienerin und dem Scharfrichter
hinab, in dieſer unſeligen Procedur thätig geweſen, die nicht jede in ihrer
Sphäre auf das ärgſte und unverantwortlichſte gefehlt und ohne weiteres
mindeſtens Amtsentſetzung verdient hätte. Bezeichnend für den Standpunkt
der Wiſſenſchaft und Rechtspflege überhaupt iſt, daß der Schöppenſtuhl zu
Jena, ungeachtet der vielen und argen Gebrechen der Procedur, die unglück-
liche Jnquiſitin dennoch zum Tode verurtheilte. Der Fall iſt mit kritiſcher
Schärfe erzählt in Max Roderich, „Verbrechen und Strafe“ (Jena 1850),
S. 281—330.
3) Wie weit die Rathloſigkeit ging, ſich des dicht gedrängten Gauner-
geſindels zu erwehren, davon gibt eine Polemik den Beweis, die als ſolche
eigentlich noch wunderbarer iſt, als der Vorſchlag, welcher ſie veranlaßte. Ein
„deutſcher Patriot“ machte in der „Hannöveriſchen nützlichen Sammlung vom
Jahre 1758“, St. 72, Col. 1146, den Vorſchlag, „daß man alles, was man
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[81/0097] lichen großen Ganzen erkennt. 1) Dieſe Wahrnehmung konnte auch den damaligen Juſtiz- und Polizeibehörden nicht entgehen. Allein der ungelenke und feierlich förmliche Gang der erſtern, dem durch die beginnende theoretiſche Bearbeitung und Syſtemati- ſirung des peinlichen Rechts 2) noch wenig Behendigkeit verliehen werden konnte, und die Rathloſigkeit und Unbeweglichkeit der letz- tern, waren die Haupturſachen, warum die ungeheuere Gegnerſchaft, kaum berührt und beirrt durch den blutigen Kampf, ihren Wucher forttreiben konnte. 3) Gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts 1) Vgl. die Literatur a. a. O. Für die allgemeine objective Auffaſſung des Gaunerthums erſcheinen die „Gründliche Nachricht von entſetzlichen und erbärmlichen Mordthaten“, ſowie ganz beſonders das treffliche „Betrugs- Lexikon“ des wackern Hönn, und auch die Noten zum „Jüdiſchen Baldower“ bemerkenswerth. 2) Durch Ch. Fr. Holland, Kemmerich, J. S. F. Böhmer, Engau, Ch. J. G. Meiſter u. A. Vgl. Wächter, „Lehrbuch des Römiſch-Teutſchen Straf- rechtes“, I, 10 u. 11. Trotz dieſen und andern Hülfsmitteln findet man ſelbſt noch gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts eine ſo arge Unwiſſenheit und Taktloſigkeit der Criminalbehörden, daß man kaum ſeinen Augen trauen mag, wenn man Actenfascikel aus jener Zeit in die Hand nimmt. Ein ſolcher, Staunen und Unwillen erregender Fall iſt die noch nicht viermonatliche Proce- dur gegen die am 9. Jan. 1776 zu Gotha wegen angeblicher Ermordung ihres neunjährigen Knabens (in puncto infanticidii suspecti, sic!) ſo elend mit ſieben Schwerthieben hingerichteten wahnſinnigen Katharina Trotz. Es iſt keine einzige Perſon, vom Oberbeamten, Amtscommiſſär, Gerichtsarzt und Defenſor an bis zum Amtsdiener, der Amtsdienerin und dem Scharfrichter hinab, in dieſer unſeligen Procedur thätig geweſen, die nicht jede in ihrer Sphäre auf das ärgſte und unverantwortlichſte gefehlt und ohne weiteres mindeſtens Amtsentſetzung verdient hätte. Bezeichnend für den Standpunkt der Wiſſenſchaft und Rechtspflege überhaupt iſt, daß der Schöppenſtuhl zu Jena, ungeachtet der vielen und argen Gebrechen der Procedur, die unglück- liche Jnquiſitin dennoch zum Tode verurtheilte. Der Fall iſt mit kritiſcher Schärfe erzählt in Max Roderich, „Verbrechen und Strafe“ (Jena 1850), S. 281—330. 3) Wie weit die Rathloſigkeit ging, ſich des dicht gedrängten Gauner- geſindels zu erwehren, davon gibt eine Polemik den Beweis, die als ſolche eigentlich noch wunderbarer iſt, als der Vorſchlag, welcher ſie veranlaßte. Ein „deutſcher Patriot“ machte in der „Hannöveriſchen nützlichen Sammlung vom Jahre 1758“, St. 72, Col. 1146, den Vorſchlag, „daß man alles, was man von ſolchem Gefindel bekommen könne, durch Zerſprengung des Trommelfells Avé-Lallemant, Gaunerthum. I. 6

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Zitationshilfe: Avé-Lallemant, Friedrich Christian Benedikt: Das Deutsche Gaunerthum. Bd. 1. Leipzig, 1858, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/avelallemant_gaunerthum01_1858/97>, abgerufen am 04.05.2024.