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Allgemeine Zeitung. Nr. 62. Augsburg, 2. März 1840.

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Sprache unkundig." Unterstützt wird die Bewegung hier von der "freien Presse" (wovon die Blätter an öffentlichen Orten regelmäßig und mit außerordentlicher Gewandtheit gestohlen werden), in Gent vom "Vaderlander", dem "Kunst en Letterblad" und der "Gazette van Gent", in Antwerpen von der "News." Man glaubt, daß, wenn die Bittschriften einmal in Menge an die Kammer der Volksvertreter gelangen, nur sehr wenige Abgeordnete flamändischer Provinzen gegen dieselben sich aussprechen werden. Die Regierung scheint über die Bewegung und über die mächtige Entwicklung derselben erstaunt. Die von Franzosen herausgegebenen Zeitungen in Gent, in Antwerpen u. s. w. scheuen sich, einen offenen Kampf mit den Vertheidigern des Niederdeutschen, welche offenbar die Massen für sich haben, zu beginnen, dagegen werden sie von ihren Gegnern sehr in die Enge getrieben, die nun immer bestimmter mit dem Grundsatz auftreten, daß kein Fremder das Recht besitze, im Namen des belgischen Vaterlandes zu sprechen. Was man auch darüber sagen möge, diese dem innersten Volksleben entspringenden Bewegungen sind von hoher Bedeutung und bieten namentlich für Deutschland viel Interesse dar. "Das Getrennte", sagt die freie Presse, "strebt nach Wiedervereinigung" die belgisch-niederdeutschen Stämme gedenken ihrer Brüder im Osten, schämen sich der Ketten des geistigen Joches der Walschen und des schnöden Affenwesens; sie wollen seyn, wie ihre ruhmreichen Ahnen, tüchtige, biderbe, freie Niederdeutsche."

Skizzen aus Tirol.

I. Einleitung.

Die ausgedehnten Alpenmarken, die germanische Völker von lateinischen trennen, sind immer mit Recht ein besonderer Gegenstand der Aufmerksamkeit des Geschichtforschers und Sittenbeobachters gewesen. Unter ihnen gebührt dem alten Rhätien ein ausgezeichneter Platz. In dem vielfach verschlungenen Netze seiner Thäler und Stromgebiete ist die Wiege oder das Grab so vieler Völkerstämme zu suchen; in denselben Thälern ist noch heute der Wohnort der Trümmer so mancher entschwundenen Nationen zu finden! Die Gewalt der Zeit hat jene ehrwürdigen Völkerüberreste verschmolzen; sie sind zu einem Kernvolke angewachsen. Es hat von dem Herzen seines Landes seinen Namen entlehnt. Vom benachbarten Schweizerlande gilt zwar dasselbe; aber während dieses letztere in sich zerspalten worden durch Verschiedenheit der Religion und der Regimentsformen, ist dem Tirolerlande die Einheit des Glaubens und, wiewohl nach langen Kämpfen, auch die Einheit der Herrschaft und des Gesetzes unverkümmert geblieben. Das Gesammtbild des Volkes wird hiedurch noch interessanter. Nirgends finden sich in größerer Anzahl vielgestaltige Nationalphysiognomien auf verhältnißmäßig kleinem Raume vereint. Ein jedes Thal hat seinen eigenthümlichen Menschenschlag, seine besondere Sitte und Tracht, seinen besondern Dialekt, nicht selten seine besondere Sprache, die sich grell unterscheidet sowohl von der deutschen als von der italienischen Zunge, von welcher letztern das Land zu fast einem Drittel beherrscht wird.*)*)
Dennoch ist nur eine Kirche, ist nur ein Herr, denen Alle im Lande zinsen; dennoch ist nur ein Vaterland, dem sie Alle huldigen. Mögen auch die verschiedenen Stämme sich besser dünken einer vor dem andern; mag das leichte Blut im Osten des Landes spotten des ernsthaftern im Westen, oder der Deutschtiroler seinen italienischen Bruder achselzuckend einen Wälschen nennen, wie auch umgekehrt der Südtiroler seinen deutschen Bruder einen plumpen Kopf - in der Liebe zum Lande sind sie Alle probehaltig: gute Patrioten, gute Katholiken, gute Freunde ihres Kaisers.

Das Vaterland selbst gleicht im Aeußern seinen Söhnen gar sehr. Ernst, rauh und trotzig da, dann wieder idyllisch und angenehm dort; häufig kalt und karg, dann wieder mild und verschwenderisch freigiebig. Der Boden im Bund mit den Elementen führt hie und da ewig Krieg mit seinen kriegerischen Kindern; sie haben ihm dafür einen Charakter zu verdanken, der in Zeiten der Noth die gesammte Heimath zu retten versteht, ohne viel Worte zu machen. Wer von Himmel und Erde weniger stiefmütterlich bedacht worden, hängt mehr am Leben; es ist ihm so schön!

Nun ist ein Land, so mannichfach gestaltet, und ein Volk, so vielgesichtig und dennoch so harmonisch, gewißlich werth, genau gekannt zu seyn. Schon Manche haben ihre Schilderung unternommen. Besser ist jedoch geworden, was des Geschichtschreibers, als was des Reisenden Feder bis daher von Tirol verzeichnete. Franzosen - an ihrer Spitze der Exminister Haussez - haben Land und Leute unbarmherzig und albern geschmäht; Engländer haben sie durchaus mit der Schweiz und ihren Bewohnern vergleichen wollen, und Tirol im Nachtheil befunden; Deutsche haben, wie sie allzu häufig zu thun gewohnt sind, Volk und Berge ungerecht bekrittelt, oder beide übermäßig gepriesen, je nach Vorurtheil oder Laune, Lewald hat über Tirol ein recht hübsches und lebendiges Buch geschrieben - ein Buch, das, obgleich ins Gewicht fallend, sehr gern von Anfang bis zu Ende gelesen wird. Doch sind darinnen der Verstöße viele, und die poetischen Zugaben entstellen die Wirklichkeit zu Gunsten der Unterhaltung. Dem gelehrten und fleißigen Verfasser des Handbuchs für Reisende, das unter dem Titel: "Das Land Tirol, in 3 Bänden, und im Verlag der Wagner'schen Buchhandlung in Innsbruck, 1837 erschienen ist, wird jeder Leser besagten Handbuchs viel zu verdanken haben. Abgesehen von dem Reichthum der verarbeiteten Materialien, wird die originelle, kräftig dichterische Sprache des Buchs den Gebildeten unwiderstehlich anziehen. Doch ist das Buch für einen Guide de Voyageur zu breit gehalten, und der an sich zu lobende feurige Patriotismus des Verfassers veranlaßt denselben, Alles und wieder Alles gar zu sehr ins Schöne zu malen. (Wie ich höre, wird eine zusammengedrängte neue Ausgabe - was zu wünschen - veranstaltet werden.) Das in praktischer Hinsicht vorzüglichste Buch über Tirol scheint mir dasjenige zu seyn, das, Tirol und Vorarlberg betitelt, von dem Gubernialsecretär J. Staffler in Innsbruck verfaßt worden ist. Bis jetzt ist der erste Theil desselben (Innsbruck, Felician Rauch, 1839) erschienen. Der zweite wird mit Begierde erwartet. Niemanden ist, um eine topographisch-statistische Arbeit, wie die genannte, zu liefern, ein größerer Reichthum der zuverlässigsten Daten zu Gebote gestanden, als eben dem Hrn. Dr. Staffler. Er hat seinen Stoff vom besten Standpunkt aus bewältigt. Dennoch ist sein Buch eine allzu ernsthafte Lecture für den Weltfahrer, der mit Hast von Land zu Land eilt, alle Wege gebahnt zu finden, Alles in Eile zu erforschen, zu genießen wünscht. Darum mögen immerhin noch mehrere Versuche, ein so merkwürdiges Land, wie Tirol unläugbar ist, zu schildern, aufgemuntert werden. Die Skizzen, welche diesen Zeilen zu folgen bestimmt

*) 1837: 520,300 Deutsche; 283,100 Italiener; 2800 Grödner und 6800 Enneberger. Die beiden letztgenannten Fractionen der Bevölkerung reden eine jede ihre eigenthümliche von deutscher und italienischer abweichende Sprache, die sich der romanischen nähert, aber nebst italienischen auch viele französische, spanische und portugiesische Formen aufweist.

Sprache unkundig.“ Unterstützt wird die Bewegung hier von der „freien Presse“ (wovon die Blätter an öffentlichen Orten regelmäßig und mit außerordentlicher Gewandtheit gestohlen werden), in Gent vom „Vaderlander“, dem „Kunst en Letterblad“ und der „Gazette van Gent“, in Antwerpen von der „News.“ Man glaubt, daß, wenn die Bittschriften einmal in Menge an die Kammer der Volksvertreter gelangen, nur sehr wenige Abgeordnete flamändischer Provinzen gegen dieselben sich aussprechen werden. Die Regierung scheint über die Bewegung und über die mächtige Entwicklung derselben erstaunt. Die von Franzosen herausgegebenen Zeitungen in Gent, in Antwerpen u. s. w. scheuen sich, einen offenen Kampf mit den Vertheidigern des Niederdeutschen, welche offenbar die Massen für sich haben, zu beginnen, dagegen werden sie von ihren Gegnern sehr in die Enge getrieben, die nun immer bestimmter mit dem Grundsatz auftreten, daß kein Fremder das Recht besitze, im Namen des belgischen Vaterlandes zu sprechen. Was man auch darüber sagen möge, diese dem innersten Volksleben entspringenden Bewegungen sind von hoher Bedeutung und bieten namentlich für Deutschland viel Interesse dar. „Das Getrennte“, sagt die freie Presse, „strebt nach Wiedervereinigung“ die belgisch-niederdeutschen Stämme gedenken ihrer Brüder im Osten, schämen sich der Ketten des geistigen Joches der Walschen und des schnöden Affenwesens; sie wollen seyn, wie ihre ruhmreichen Ahnen, tüchtige, biderbe, freie Niederdeutsche.“

Skizzen aus Tirol.

I. Einleitung.

Die ausgedehnten Alpenmarken, die germanische Völker von lateinischen trennen, sind immer mit Recht ein besonderer Gegenstand der Aufmerksamkeit des Geschichtforschers und Sittenbeobachters gewesen. Unter ihnen gebührt dem alten Rhätien ein ausgezeichneter Platz. In dem vielfach verschlungenen Netze seiner Thäler und Stromgebiete ist die Wiege oder das Grab so vieler Völkerstämme zu suchen; in denselben Thälern ist noch heute der Wohnort der Trümmer so mancher entschwundenen Nationen zu finden! Die Gewalt der Zeit hat jene ehrwürdigen Völkerüberreste verschmolzen; sie sind zu einem Kernvolke angewachsen. Es hat von dem Herzen seines Landes seinen Namen entlehnt. Vom benachbarten Schweizerlande gilt zwar dasselbe; aber während dieses letztere in sich zerspalten worden durch Verschiedenheit der Religion und der Regimentsformen, ist dem Tirolerlande die Einheit des Glaubens und, wiewohl nach langen Kämpfen, auch die Einheit der Herrschaft und des Gesetzes unverkümmert geblieben. Das Gesammtbild des Volkes wird hiedurch noch interessanter. Nirgends finden sich in größerer Anzahl vielgestaltige Nationalphysiognomien auf verhältnißmäßig kleinem Raume vereint. Ein jedes Thal hat seinen eigenthümlichen Menschenschlag, seine besondere Sitte und Tracht, seinen besondern Dialekt, nicht selten seine besondere Sprache, die sich grell unterscheidet sowohl von der deutschen als von der italienischen Zunge, von welcher letztern das Land zu fast einem Drittel beherrscht wird.*)*)
Dennoch ist nur eine Kirche, ist nur ein Herr, denen Alle im Lande zinsen; dennoch ist nur ein Vaterland, dem sie Alle huldigen. Mögen auch die verschiedenen Stämme sich besser dünken einer vor dem andern; mag das leichte Blut im Osten des Landes spotten des ernsthaftern im Westen, oder der Deutschtiroler seinen italienischen Bruder achselzuckend einen Wälschen nennen, wie auch umgekehrt der Südtiroler seinen deutschen Bruder einen plumpen Kopf – in der Liebe zum Lande sind sie Alle probehaltig: gute Patrioten, gute Katholiken, gute Freunde ihres Kaisers.

Das Vaterland selbst gleicht im Aeußern seinen Söhnen gar sehr. Ernst, rauh und trotzig da, dann wieder idyllisch und angenehm dort; häufig kalt und karg, dann wieder mild und verschwenderisch freigiebig. Der Boden im Bund mit den Elementen führt hie und da ewig Krieg mit seinen kriegerischen Kindern; sie haben ihm dafür einen Charakter zu verdanken, der in Zeiten der Noth die gesammte Heimath zu retten versteht, ohne viel Worte zu machen. Wer von Himmel und Erde weniger stiefmütterlich bedacht worden, hängt mehr am Leben; es ist ihm so schön!

Nun ist ein Land, so mannichfach gestaltet, und ein Volk, so vielgesichtig und dennoch so harmonisch, gewißlich werth, genau gekannt zu seyn. Schon Manche haben ihre Schilderung unternommen. Besser ist jedoch geworden, was des Geschichtschreibers, als was des Reisenden Feder bis daher von Tirol verzeichnete. Franzosen – an ihrer Spitze der Exminister Haussez – haben Land und Leute unbarmherzig und albern geschmäht; Engländer haben sie durchaus mit der Schweiz und ihren Bewohnern vergleichen wollen, und Tirol im Nachtheil befunden; Deutsche haben, wie sie allzu häufig zu thun gewohnt sind, Volk und Berge ungerecht bekrittelt, oder beide übermäßig gepriesen, je nach Vorurtheil oder Laune, Lewald hat über Tirol ein recht hübsches und lebendiges Buch geschrieben – ein Buch, das, obgleich ins Gewicht fallend, sehr gern von Anfang bis zu Ende gelesen wird. Doch sind darinnen der Verstöße viele, und die poetischen Zugaben entstellen die Wirklichkeit zu Gunsten der Unterhaltung. Dem gelehrten und fleißigen Verfasser des Handbuchs für Reisende, das unter dem Titel: „Das Land Tirol, in 3 Bänden, und im Verlag der Wagner'schen Buchhandlung in Innsbruck, 1837 erschienen ist, wird jeder Leser besagten Handbuchs viel zu verdanken haben. Abgesehen von dem Reichthum der verarbeiteten Materialien, wird die originelle, kräftig dichterische Sprache des Buchs den Gebildeten unwiderstehlich anziehen. Doch ist das Buch für einen Guide de Voyageur zu breit gehalten, und der an sich zu lobende feurige Patriotismus des Verfassers veranlaßt denselben, Alles und wieder Alles gar zu sehr ins Schöne zu malen. (Wie ich höre, wird eine zusammengedrängte neue Ausgabe – was zu wünschen – veranstaltet werden.) Das in praktischer Hinsicht vorzüglichste Buch über Tirol scheint mir dasjenige zu seyn, das, Tirol und Vorarlberg betitelt, von dem Gubernialsecretär J. Staffler in Innsbruck verfaßt worden ist. Bis jetzt ist der erste Theil desselben (Innsbruck, Felician Rauch, 1839) erschienen. Der zweite wird mit Begierde erwartet. Niemanden ist, um eine topographisch-statistische Arbeit, wie die genannte, zu liefern, ein größerer Reichthum der zuverlässigsten Daten zu Gebote gestanden, als eben dem Hrn. Dr. Staffler. Er hat seinen Stoff vom besten Standpunkt aus bewältigt. Dennoch ist sein Buch eine allzu ernsthafte Lecture für den Weltfahrer, der mit Hast von Land zu Land eilt, alle Wege gebahnt zu finden, Alles in Eile zu erforschen, zu genießen wünscht. Darum mögen immerhin noch mehrere Versuche, ein so merkwürdiges Land, wie Tirol unläugbar ist, zu schildern, aufgemuntert werden. Die Skizzen, welche diesen Zeilen zu folgen bestimmt

*) 1837: 520,300 Deutsche; 283,100 Italiener; 2800 Grödner und 6800 Enneberger. Die beiden letztgenannten Fractionen der Bevölkerung reden eine jede ihre eigenthümliche von deutscher und italienischer abweichende Sprache, die sich der romanischen nähert, aber nebst italienischen auch viele französische, spanische und portugiesische Formen aufweist.
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[0491/0011] Sprache unkundig.“ Unterstützt wird die Bewegung hier von der „freien Presse“ (wovon die Blätter an öffentlichen Orten regelmäßig und mit außerordentlicher Gewandtheit gestohlen werden), in Gent vom „Vaderlander“, dem „Kunst en Letterblad“ und der „Gazette van Gent“, in Antwerpen von der „News.“ Man glaubt, daß, wenn die Bittschriften einmal in Menge an die Kammer der Volksvertreter gelangen, nur sehr wenige Abgeordnete flamändischer Provinzen gegen dieselben sich aussprechen werden. Die Regierung scheint über die Bewegung und über die mächtige Entwicklung derselben erstaunt. Die von Franzosen herausgegebenen Zeitungen in Gent, in Antwerpen u. s. w. scheuen sich, einen offenen Kampf mit den Vertheidigern des Niederdeutschen, welche offenbar die Massen für sich haben, zu beginnen, dagegen werden sie von ihren Gegnern sehr in die Enge getrieben, die nun immer bestimmter mit dem Grundsatz auftreten, daß kein Fremder das Recht besitze, im Namen des belgischen Vaterlandes zu sprechen. Was man auch darüber sagen möge, diese dem innersten Volksleben entspringenden Bewegungen sind von hoher Bedeutung und bieten namentlich für Deutschland viel Interesse dar. „Das Getrennte“, sagt die freie Presse, „strebt nach Wiedervereinigung“ die belgisch-niederdeutschen Stämme gedenken ihrer Brüder im Osten, schämen sich der Ketten des geistigen Joches der Walschen und des schnöden Affenwesens; sie wollen seyn, wie ihre ruhmreichen Ahnen, tüchtige, biderbe, freie Niederdeutsche.“ Skizzen aus Tirol. I. Einleitung. Die ausgedehnten Alpenmarken, die germanische Völker von lateinischen trennen, sind immer mit Recht ein besonderer Gegenstand der Aufmerksamkeit des Geschichtforschers und Sittenbeobachters gewesen. Unter ihnen gebührt dem alten Rhätien ein ausgezeichneter Platz. In dem vielfach verschlungenen Netze seiner Thäler und Stromgebiete ist die Wiege oder das Grab so vieler Völkerstämme zu suchen; in denselben Thälern ist noch heute der Wohnort der Trümmer so mancher entschwundenen Nationen zu finden! Die Gewalt der Zeit hat jene ehrwürdigen Völkerüberreste verschmolzen; sie sind zu einem Kernvolke angewachsen. Es hat von dem Herzen seines Landes seinen Namen entlehnt. Vom benachbarten Schweizerlande gilt zwar dasselbe; aber während dieses letztere in sich zerspalten worden durch Verschiedenheit der Religion und der Regimentsformen, ist dem Tirolerlande die Einheit des Glaubens und, wiewohl nach langen Kämpfen, auch die Einheit der Herrschaft und des Gesetzes unverkümmert geblieben. Das Gesammtbild des Volkes wird hiedurch noch interessanter. Nirgends finden sich in größerer Anzahl vielgestaltige Nationalphysiognomien auf verhältnißmäßig kleinem Raume vereint. Ein jedes Thal hat seinen eigenthümlichen Menschenschlag, seine besondere Sitte und Tracht, seinen besondern Dialekt, nicht selten seine besondere Sprache, die sich grell unterscheidet sowohl von der deutschen als von der italienischen Zunge, von welcher letztern das Land zu fast einem Drittel beherrscht wird.*) *) Dennoch ist nur eine Kirche, ist nur ein Herr, denen Alle im Lande zinsen; dennoch ist nur ein Vaterland, dem sie Alle huldigen. Mögen auch die verschiedenen Stämme sich besser dünken einer vor dem andern; mag das leichte Blut im Osten des Landes spotten des ernsthaftern im Westen, oder der Deutschtiroler seinen italienischen Bruder achselzuckend einen Wälschen nennen, wie auch umgekehrt der Südtiroler seinen deutschen Bruder einen plumpen Kopf – in der Liebe zum Lande sind sie Alle probehaltig: gute Patrioten, gute Katholiken, gute Freunde ihres Kaisers. Das Vaterland selbst gleicht im Aeußern seinen Söhnen gar sehr. Ernst, rauh und trotzig da, dann wieder idyllisch und angenehm dort; häufig kalt und karg, dann wieder mild und verschwenderisch freigiebig. Der Boden im Bund mit den Elementen führt hie und da ewig Krieg mit seinen kriegerischen Kindern; sie haben ihm dafür einen Charakter zu verdanken, der in Zeiten der Noth die gesammte Heimath zu retten versteht, ohne viel Worte zu machen. Wer von Himmel und Erde weniger stiefmütterlich bedacht worden, hängt mehr am Leben; es ist ihm so schön! Nun ist ein Land, so mannichfach gestaltet, und ein Volk, so vielgesichtig und dennoch so harmonisch, gewißlich werth, genau gekannt zu seyn. Schon Manche haben ihre Schilderung unternommen. Besser ist jedoch geworden, was des Geschichtschreibers, als was des Reisenden Feder bis daher von Tirol verzeichnete. Franzosen – an ihrer Spitze der Exminister Haussez – haben Land und Leute unbarmherzig und albern geschmäht; Engländer haben sie durchaus mit der Schweiz und ihren Bewohnern vergleichen wollen, und Tirol im Nachtheil befunden; Deutsche haben, wie sie allzu häufig zu thun gewohnt sind, Volk und Berge ungerecht bekrittelt, oder beide übermäßig gepriesen, je nach Vorurtheil oder Laune, Lewald hat über Tirol ein recht hübsches und lebendiges Buch geschrieben – ein Buch, das, obgleich ins Gewicht fallend, sehr gern von Anfang bis zu Ende gelesen wird. Doch sind darinnen der Verstöße viele, und die poetischen Zugaben entstellen die Wirklichkeit zu Gunsten der Unterhaltung. Dem gelehrten und fleißigen Verfasser des Handbuchs für Reisende, das unter dem Titel: „Das Land Tirol, in 3 Bänden, und im Verlag der Wagner'schen Buchhandlung in Innsbruck, 1837 erschienen ist, wird jeder Leser besagten Handbuchs viel zu verdanken haben. Abgesehen von dem Reichthum der verarbeiteten Materialien, wird die originelle, kräftig dichterische Sprache des Buchs den Gebildeten unwiderstehlich anziehen. Doch ist das Buch für einen Guide de Voyageur zu breit gehalten, und der an sich zu lobende feurige Patriotismus des Verfassers veranlaßt denselben, Alles und wieder Alles gar zu sehr ins Schöne zu malen. (Wie ich höre, wird eine zusammengedrängte neue Ausgabe – was zu wünschen – veranstaltet werden.) Das in praktischer Hinsicht vorzüglichste Buch über Tirol scheint mir dasjenige zu seyn, das, Tirol und Vorarlberg betitelt, von dem Gubernialsecretär J. Staffler in Innsbruck verfaßt worden ist. Bis jetzt ist der erste Theil desselben (Innsbruck, Felician Rauch, 1839) erschienen. Der zweite wird mit Begierde erwartet. Niemanden ist, um eine topographisch-statistische Arbeit, wie die genannte, zu liefern, ein größerer Reichthum der zuverlässigsten Daten zu Gebote gestanden, als eben dem Hrn. Dr. Staffler. Er hat seinen Stoff vom besten Standpunkt aus bewältigt. Dennoch ist sein Buch eine allzu ernsthafte Lecture für den Weltfahrer, der mit Hast von Land zu Land eilt, alle Wege gebahnt zu finden, Alles in Eile zu erforschen, zu genießen wünscht. Darum mögen immerhin noch mehrere Versuche, ein so merkwürdiges Land, wie Tirol unläugbar ist, zu schildern, aufgemuntert werden. Die Skizzen, welche diesen Zeilen zu folgen bestimmt *) 1837: 520,300 Deutsche; 283,100 Italiener; 2800 Grödner und 6800 Enneberger. Die beiden letztgenannten Fractionen der Bevölkerung reden eine jede ihre eigenthümliche von deutscher und italienischer abweichende Sprache, die sich der romanischen nähert, aber nebst italienischen auch viele französische, spanische und portugiesische Formen aufweist.

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 62. Augsburg, 2. März 1840, S. 0491. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_062_18400302/11>, abgerufen am 27.11.2024.