Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 60. Augsburg, 29. Februar 1840.

Bild:
<< vorherige Seite
Geologische Briefe.

II. Historische Orientirung.

(Beschluß.)

Bis auf die Zeit, welche den deutschen Werner gebar, hat kein Forscher das Problem der Erdbildung so klar und tief gefaßt, als Stenon. Die meisten seiner Nachfolger sind nicht nur unendlich weit unter ihm geblieben; viele seiner eigenen Ansichten konnten sich nicht einmal Geltung verschaffen, und zwar hauptsächlich weil die Neigung, alle Ideen über Erdbildung an die Mosaische Genesis anzuknüpfen, in der zweiten Hälfte des 17ten Jahrhunderts eher zu- als abnahm, und in demselben Verhältniß der Beobachtungsgeist sank, so daß die Wissenschaft eher zurück als vorwärts ging. Jetzt begann die eigentliche Periode der Speculationen, wobei man, festhaltend am Buchstaben der Schrift, den Oberflächenzustand der Erde aus ihrer ursprünglichen Entstehung, und zugleich mit dieser zu erklären suchte. Diese Periode verlängerte sich bis in die Mitte des 18ten Jahrhunderts und gebar eine ganze Reihe ausschweifender Hypothesen, welche den Ausspruch Lichtenbergs rechtfertigen, daß alle diese Versuche nicht sowohl Beiträge zur Geschichte der Erde, als zur Geschichte der Verirrungen des menschlichen Verstandes seyen. Besonders thätig waren dabei die hochkirchlichen Engländer (Burnet, Woodward, Whiston). In diesen träumerischen Systemen war die Erde ursprünglich bald ein Komet, bald eine Sonne, bald ein Mond gewesen. Die Erklärung der Oberflächenbildung lief, je nachdem die Theorie vorherrschend neptunistisch oder vulcanistisch war, darauf hinaus, daß die wässerige Erdkruste beim Trocknen, oder die geschmolzene beim Erkalten, barst und theilweise einstürzte. Man rüttelte an den schon bekannten Thatsachen so lange, bis sie sich in das Mosaische Schema hineinbiegen ließen; wo nicht, so negirte man sie oder griff zu den sonderbarsten Voraussetzungen. Die Fähigkeit, Erscheinungen zu deuten, welche mit den ersten Worten des alten Testaments in Widerspruch zu stehen schienen, ging allermittelst fast ganz verloren. Wie man sich dabei auch mit den Mosaischen Tagen abfand, in allen Systemen war der Erdbildungsproceß ein sehr rascher, und diese dramatischen Kosmogenien gleichen den französischen Tragödien, wo der Dichter auch an den conventionellen poetischen Glauben der Zuschauer appellirt, indem er Handlungen in vierundzwanzig Stunden sich abspielen läßt, die naturgemäß Entwicklungen einer weit längern Zeit sind.

Der damalige Zustand der Wissenschaft gibt aber auch zu einer ernsteren Betrachtung Anlaß. Kaum hatte der Mensch durch die Entdeckung von Amerika die sinnliche Ueberzeugung von der wahren Gestalt der Erde und von der Existenz der Gegenfüßler gewonnen, so muthete man ihm zu, die Bewegungen der Himmelskörper am Firmament für optische Täuschung zu erkennen, und sich die Erde in doppelter, reißender Bewegung und dazu als ein Sandkorn in der Wüste des Universums zu denken. Und nicht lange, so sah er sich sogar aus der Erdtiefe erhobene Thatsachen vor Augen gerückt, welche seinen Glauben erschüttern wollten, daß die Erde von jeher nur um seinetwillen dagewesen. Die mit dem Christenthum verknüpften heiligen Urkunden schienen beiderlei, für den menschlichen Stolz so demüthigenden Ansichten zu widersprechen; und so wirkte das Gefühl der Selbstsucht im Bunde mit dem religiösen Glauben, wenn sich selbst die Wissenschaft längere Zeit gegen jene Vorstellungen sträubte, wenn man Tycho Brahe's Vorschlag zur Güte annehmlicher fand, als das radicale System des Copernicus, und die fossilen Organismen beharrlich als Zeugen der Sündfluth in Anspruch nahm. Es war ein so trostreicher Gedanke: das wohnliche Nest der Erde ruhend inmitten des Weltalls, Sonne und Mond und die Gewölbe der Himmel um ihretwillen da, und die Erde nur aus dem Chaos hervorgegangen, um sogleich ein Garten und Park für den Herrn der Schöpfung zu werden! Mit diesem engen Begriff war des Menschen Gemüth in sich befriedigt und abgeschlossen; es strahlte seine Wärme nicht aus in die Oede des Raums und der Zeit, und der Himmel war kein Gedanke, der die nach dem Begriff ringende Phantasie lähmte, sondern ein Gefühl, das die Seele ausfüllte. Durch die astronomischen und geologischen Ueberzeugungen der neuern Zeit hat sich des menschlichen Geistes eine tiefe Unruhe bemächtigt, und er fühlt sich, wenn er in den Raum und die Zeit hinausblickt, wechselnd gespannt und erhoben, erschreckt und gedemüthigt. Diese Stimmung wäre eine sehr unheimliche, ohne die gewisse Hoffnung, daß jene Unruhe einem Begriff entgegentreibt, der für die Menschheit auf höherer Stufe so trostvoll seyn wird, als der Glaube an die ruhende Erde und die Schöpfung der Welt um des Menschen willen. Es lag übrigens, wie schon im vorigen Artikel bemerkt, in der Natur der Sache, daß sich der Mensch den astronomischen Wahrheiten weit leichter gefangen gab als den geologischen. Bei der erhabenen Einfachheit der räumlichen Verhältnisse der Erde zum Weltall war das Dogma von der wahren Bewegung der Himmelskörper eine Synthese, die durch die einfachen Gesetze unseres eigenen Geistes leicht aufgelöst und verificirt wurde. Dagegen bei der materiellen Verwirrung in der zeitlichen Evolution der Erde gelangte man nur durch lange Analysis zum festen Begriff der Aeonen, welche dem jetzigen Zustande vorausgegangen, und der langen Reihe organischer Schöpfungen, die im Lauf der Erdbildung einander abgelöst.

Noch ist hier eines Moments zu erwähnen, das mit dem sich so lange erhaltenden Triebe, die Naturbeobachtung mit der biblischen Tradition in Einklang zu bringen, in Zusammenhang steht. Seit dem Alterthum hatte sich neben der natürlichen, sinnlich aufgedrungenen Ansicht, nach welcher die in den Erdschichten eingeschlossenen Thier- und Pflanzenformen Reste von Organismen sind, welche einst im Wasser und auf dem Lande gelebt haben, fortwährend eine andere geltend gemacht, wornach jene Versteinerungen zufällige Mineralbildungen, sogenannte Naturspiele, seyn sollten. Diese Vorstellung war bei einem gewissen Stande der allgemeinen Kenntnisse wohl zu begreifen; sie wurde aber auch dann noch festgehalten, als die vollkommene Analogie zwischen den fossilen Thieren und Pflanzen und den noch lebenden tausendfältig erwiesen war; nur nahm man jetzt zu einer in der Erde vorausgesetzten sogenannten plastischen Kraft seine Zuflucht, und dachte sich die thier- und pflanzenähnlichen Steinkerne gleichsam als Skizzen der sich im Mineralreich träumend zu höhern Formen emporringenden Natur. Es ist natürlich, daß diese wunderliche Ansicht vielfach denen willkommen war, die alle Consequenzen, welche sie mit der Mosaischen Genesis in Widerspruch bringen konnten, ängstlich von der Hand wiesen; es entspricht ganz zahlreichen Vorgängen in den Wissenschaften, daß die vis plastica und die Naturspiele erst dann einen Anstrich von philosophischer Begründung erhielten, als die vorgeschrittene Beobachtung es unmöglich machte, alle Versteinerungen geradezu auf Rechnung der Sündfluth zu schreiben. Daß aber dieser Glaube selbst in unsere Zeit hereinragt,

Geologische Briefe.

II. Historische Orientirung.

(Beschluß.)

Bis auf die Zeit, welche den deutschen Werner gebar, hat kein Forscher das Problem der Erdbildung so klar und tief gefaßt, als Stenon. Die meisten seiner Nachfolger sind nicht nur unendlich weit unter ihm geblieben; viele seiner eigenen Ansichten konnten sich nicht einmal Geltung verschaffen, und zwar hauptsächlich weil die Neigung, alle Ideen über Erdbildung an die Mosaische Genesis anzuknüpfen, in der zweiten Hälfte des 17ten Jahrhunderts eher zu- als abnahm, und in demselben Verhältniß der Beobachtungsgeist sank, so daß die Wissenschaft eher zurück als vorwärts ging. Jetzt begann die eigentliche Periode der Speculationen, wobei man, festhaltend am Buchstaben der Schrift, den Oberflächenzustand der Erde aus ihrer ursprünglichen Entstehung, und zugleich mit dieser zu erklären suchte. Diese Periode verlängerte sich bis in die Mitte des 18ten Jahrhunderts und gebar eine ganze Reihe ausschweifender Hypothesen, welche den Ausspruch Lichtenbergs rechtfertigen, daß alle diese Versuche nicht sowohl Beiträge zur Geschichte der Erde, als zur Geschichte der Verirrungen des menschlichen Verstandes seyen. Besonders thätig waren dabei die hochkirchlichen Engländer (Burnet, Woodward, Whiston). In diesen träumerischen Systemen war die Erde ursprünglich bald ein Komet, bald eine Sonne, bald ein Mond gewesen. Die Erklärung der Oberflächenbildung lief, je nachdem die Theorie vorherrschend neptunistisch oder vulcanistisch war, darauf hinaus, daß die wässerige Erdkruste beim Trocknen, oder die geschmolzene beim Erkalten, barst und theilweise einstürzte. Man rüttelte an den schon bekannten Thatsachen so lange, bis sie sich in das Mosaische Schema hineinbiegen ließen; wo nicht, so negirte man sie oder griff zu den sonderbarsten Voraussetzungen. Die Fähigkeit, Erscheinungen zu deuten, welche mit den ersten Worten des alten Testaments in Widerspruch zu stehen schienen, ging allermittelst fast ganz verloren. Wie man sich dabei auch mit den Mosaischen Tagen abfand, in allen Systemen war der Erdbildungsproceß ein sehr rascher, und diese dramatischen Kosmogenien gleichen den französischen Tragödien, wo der Dichter auch an den conventionellen poetischen Glauben der Zuschauer appellirt, indem er Handlungen in vierundzwanzig Stunden sich abspielen läßt, die naturgemäß Entwicklungen einer weit längern Zeit sind.

Der damalige Zustand der Wissenschaft gibt aber auch zu einer ernsteren Betrachtung Anlaß. Kaum hatte der Mensch durch die Entdeckung von Amerika die sinnliche Ueberzeugung von der wahren Gestalt der Erde und von der Existenz der Gegenfüßler gewonnen, so muthete man ihm zu, die Bewegungen der Himmelskörper am Firmament für optische Täuschung zu erkennen, und sich die Erde in doppelter, reißender Bewegung und dazu als ein Sandkorn in der Wüste des Universums zu denken. Und nicht lange, so sah er sich sogar aus der Erdtiefe erhobene Thatsachen vor Augen gerückt, welche seinen Glauben erschüttern wollten, daß die Erde von jeher nur um seinetwillen dagewesen. Die mit dem Christenthum verknüpften heiligen Urkunden schienen beiderlei, für den menschlichen Stolz so demüthigenden Ansichten zu widersprechen; und so wirkte das Gefühl der Selbstsucht im Bunde mit dem religiösen Glauben, wenn sich selbst die Wissenschaft längere Zeit gegen jene Vorstellungen sträubte, wenn man Tycho Brahe's Vorschlag zur Güte annehmlicher fand, als das radicale System des Copernicus, und die fossilen Organismen beharrlich als Zeugen der Sündfluth in Anspruch nahm. Es war ein so trostreicher Gedanke: das wohnliche Nest der Erde ruhend inmitten des Weltalls, Sonne und Mond und die Gewölbe der Himmel um ihretwillen da, und die Erde nur aus dem Chaos hervorgegangen, um sogleich ein Garten und Park für den Herrn der Schöpfung zu werden! Mit diesem engen Begriff war des Menschen Gemüth in sich befriedigt und abgeschlossen; es strahlte seine Wärme nicht aus in die Oede des Raums und der Zeit, und der Himmel war kein Gedanke, der die nach dem Begriff ringende Phantasie lähmte, sondern ein Gefühl, das die Seele ausfüllte. Durch die astronomischen und geologischen Ueberzeugungen der neuern Zeit hat sich des menschlichen Geistes eine tiefe Unruhe bemächtigt, und er fühlt sich, wenn er in den Raum und die Zeit hinausblickt, wechselnd gespannt und erhoben, erschreckt und gedemüthigt. Diese Stimmung wäre eine sehr unheimliche, ohne die gewisse Hoffnung, daß jene Unruhe einem Begriff entgegentreibt, der für die Menschheit auf höherer Stufe so trostvoll seyn wird, als der Glaube an die ruhende Erde und die Schöpfung der Welt um des Menschen willen. Es lag übrigens, wie schon im vorigen Artikel bemerkt, in der Natur der Sache, daß sich der Mensch den astronomischen Wahrheiten weit leichter gefangen gab als den geologischen. Bei der erhabenen Einfachheit der räumlichen Verhältnisse der Erde zum Weltall war das Dogma von der wahren Bewegung der Himmelskörper eine Synthese, die durch die einfachen Gesetze unseres eigenen Geistes leicht aufgelöst und verificirt wurde. Dagegen bei der materiellen Verwirrung in der zeitlichen Evolution der Erde gelangte man nur durch lange Analysis zum festen Begriff der Aeonen, welche dem jetzigen Zustande vorausgegangen, und der langen Reihe organischer Schöpfungen, die im Lauf der Erdbildung einander abgelöst.

Noch ist hier eines Moments zu erwähnen, das mit dem sich so lange erhaltenden Triebe, die Naturbeobachtung mit der biblischen Tradition in Einklang zu bringen, in Zusammenhang steht. Seit dem Alterthum hatte sich neben der natürlichen, sinnlich aufgedrungenen Ansicht, nach welcher die in den Erdschichten eingeschlossenen Thier- und Pflanzenformen Reste von Organismen sind, welche einst im Wasser und auf dem Lande gelebt haben, fortwährend eine andere geltend gemacht, wornach jene Versteinerungen zufällige Mineralbildungen, sogenannte Naturspiele, seyn sollten. Diese Vorstellung war bei einem gewissen Stande der allgemeinen Kenntnisse wohl zu begreifen; sie wurde aber auch dann noch festgehalten, als die vollkommene Analogie zwischen den fossilen Thieren und Pflanzen und den noch lebenden tausendfältig erwiesen war; nur nahm man jetzt zu einer in der Erde vorausgesetzten sogenannten plastischen Kraft seine Zuflucht, und dachte sich die thier- und pflanzenähnlichen Steinkerne gleichsam als Skizzen der sich im Mineralreich träumend zu höhern Formen emporringenden Natur. Es ist natürlich, daß diese wunderliche Ansicht vielfach denen willkommen war, die alle Consequenzen, welche sie mit der Mosaischen Genesis in Widerspruch bringen konnten, ängstlich von der Hand wiesen; es entspricht ganz zahlreichen Vorgängen in den Wissenschaften, daß die vis plastica und die Naturspiele erst dann einen Anstrich von philosophischer Begründung erhielten, als die vorgeschrittene Beobachtung es unmöglich machte, alle Versteinerungen geradezu auf Rechnung der Sündfluth zu schreiben. Daß aber dieser Glaube selbst in unsere Zeit hereinragt,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0009" n="0473"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Geologische Briefe</hi>.</hi> </head><lb/>
        <p>II. <hi rendition="#g">Historische Orientirung</hi>.</p><lb/>
        <p>(Beschluß.)</p><lb/>
        <p>Bis auf die Zeit, welche den deutschen Werner gebar, hat kein Forscher das Problem der Erdbildung so klar und tief gefaßt, als Stenon. Die meisten seiner Nachfolger sind nicht nur unendlich weit unter ihm geblieben; viele seiner eigenen Ansichten konnten sich nicht einmal Geltung verschaffen, und zwar hauptsächlich weil die Neigung, alle Ideen über Erdbildung an die Mosaische Genesis anzuknüpfen, in der zweiten Hälfte des 17ten Jahrhunderts eher zu- als abnahm, und in demselben Verhältniß der Beobachtungsgeist sank, so daß die Wissenschaft eher zurück als vorwärts ging. Jetzt begann die eigentliche Periode der Speculationen, wobei man, festhaltend am Buchstaben der Schrift, den Oberflächenzustand der Erde aus ihrer ursprünglichen Entstehung, und zugleich mit dieser zu erklären suchte. Diese Periode verlängerte sich bis in die Mitte des 18ten Jahrhunderts und gebar eine ganze Reihe ausschweifender Hypothesen, welche den Ausspruch Lichtenbergs rechtfertigen, daß alle diese Versuche nicht sowohl Beiträge zur Geschichte der Erde, als zur Geschichte der Verirrungen des menschlichen Verstandes seyen. Besonders thätig waren dabei die hochkirchlichen Engländer (Burnet, Woodward, Whiston). In diesen träumerischen Systemen war die Erde ursprünglich bald ein Komet, bald eine Sonne, bald ein Mond gewesen. Die Erklärung der Oberflächenbildung lief, je nachdem die Theorie vorherrschend neptunistisch oder vulcanistisch war, darauf hinaus, daß die wässerige Erdkruste beim Trocknen, oder die geschmolzene beim Erkalten, barst und theilweise einstürzte. Man rüttelte an den schon bekannten Thatsachen so lange, bis sie sich in das Mosaische Schema hineinbiegen ließen; wo nicht, so negirte man sie oder griff zu den sonderbarsten Voraussetzungen. Die Fähigkeit, Erscheinungen zu deuten, welche mit den ersten Worten des alten Testaments in Widerspruch zu stehen schienen, ging allermittelst fast ganz verloren. Wie man sich dabei auch mit den Mosaischen <hi rendition="#g">Tagen</hi> abfand, in allen Systemen war der Erdbildungsproceß ein sehr rascher, und diese dramatischen Kosmogenien gleichen den französischen Tragödien, wo der Dichter auch an den conventionellen poetischen Glauben der Zuschauer appellirt, indem er Handlungen in vierundzwanzig Stunden sich abspielen läßt, die naturgemäß Entwicklungen einer weit längern Zeit sind.</p><lb/>
        <p>Der damalige Zustand der Wissenschaft gibt aber auch zu einer ernsteren Betrachtung Anlaß. Kaum hatte der Mensch durch die Entdeckung von Amerika die sinnliche Ueberzeugung von der wahren Gestalt der Erde und von der Existenz der Gegenfüßler gewonnen, so muthete man ihm zu, die Bewegungen der Himmelskörper am Firmament für optische Täuschung zu erkennen, und sich die Erde in doppelter, reißender Bewegung und dazu als ein Sandkorn in der Wüste des Universums zu denken. Und nicht lange, so sah er sich sogar aus der Erdtiefe erhobene Thatsachen vor Augen gerückt, welche seinen Glauben erschüttern wollten, daß die Erde von jeher nur um seinetwillen dagewesen. Die mit dem Christenthum verknüpften heiligen Urkunden schienen beiderlei, für den menschlichen Stolz so demüthigenden Ansichten zu widersprechen; und so wirkte das Gefühl der Selbstsucht im Bunde mit dem religiösen Glauben, wenn sich selbst die Wissenschaft längere Zeit gegen jene Vorstellungen sträubte, wenn man Tycho Brahe's Vorschlag zur Güte annehmlicher fand, als das radicale System des Copernicus, und die fossilen Organismen beharrlich als Zeugen der Sündfluth in Anspruch nahm. Es war ein so trostreicher Gedanke: das wohnliche Nest der Erde ruhend inmitten des Weltalls, Sonne und Mond und die Gewölbe der Himmel um ihretwillen da, und die Erde nur aus dem Chaos hervorgegangen, um sogleich ein Garten und Park für den Herrn der Schöpfung zu werden! Mit diesem engen Begriff war des Menschen Gemüth in sich befriedigt und abgeschlossen; es strahlte seine Wärme nicht aus in die Oede des Raums und der Zeit, und der Himmel war kein Gedanke, der die nach dem Begriff ringende Phantasie lähmte, sondern ein Gefühl, das die Seele ausfüllte. Durch die astronomischen und geologischen Ueberzeugungen der neuern Zeit hat sich des menschlichen Geistes eine tiefe Unruhe bemächtigt, und er fühlt sich, wenn er in den Raum und die Zeit hinausblickt, wechselnd gespannt und erhoben, erschreckt und gedemüthigt. Diese Stimmung wäre eine sehr unheimliche, ohne die gewisse Hoffnung, daß jene Unruhe einem Begriff entgegentreibt, der für die Menschheit auf höherer Stufe so trostvoll seyn wird, als der Glaube an die ruhende Erde und die Schöpfung der Welt um des Menschen willen. Es lag übrigens, wie schon im vorigen Artikel bemerkt, in der Natur der Sache, daß sich der Mensch den astronomischen Wahrheiten weit leichter gefangen gab als den geologischen. Bei der erhabenen Einfachheit der räumlichen Verhältnisse der Erde zum Weltall war das Dogma von der wahren Bewegung der Himmelskörper eine Synthese, die durch die einfachen Gesetze unseres eigenen Geistes leicht aufgelöst und verificirt wurde. Dagegen bei der materiellen Verwirrung in der zeitlichen Evolution der Erde gelangte man nur durch lange Analysis zum festen Begriff der Aeonen, welche dem jetzigen Zustande vorausgegangen, und der langen Reihe organischer Schöpfungen, die im Lauf der Erdbildung einander abgelöst.</p><lb/>
        <p>Noch ist hier eines Moments zu erwähnen, das mit dem sich so lange erhaltenden Triebe, die Naturbeobachtung mit der biblischen Tradition in Einklang zu bringen, in Zusammenhang steht. Seit dem Alterthum hatte sich neben der natürlichen, sinnlich aufgedrungenen Ansicht, nach welcher die in den Erdschichten eingeschlossenen Thier- und Pflanzenformen Reste von Organismen sind, welche einst im Wasser und auf dem Lande gelebt haben, fortwährend eine andere geltend gemacht, wornach jene Versteinerungen zufällige Mineralbildungen, sogenannte <hi rendition="#g">Naturspiele</hi>, seyn sollten. Diese Vorstellung war bei einem gewissen Stande der allgemeinen Kenntnisse wohl zu begreifen; sie wurde aber auch dann noch festgehalten, als die vollkommene Analogie zwischen den fossilen Thieren und Pflanzen und den noch lebenden tausendfältig erwiesen war; nur nahm man jetzt zu einer in der Erde vorausgesetzten sogenannten plastischen Kraft seine Zuflucht, und dachte sich die thier- und pflanzenähnlichen Steinkerne gleichsam als Skizzen der sich im Mineralreich träumend zu höhern Formen emporringenden Natur. Es ist natürlich, daß diese wunderliche Ansicht vielfach denen willkommen war, die alle Consequenzen, welche sie mit der Mosaischen Genesis in Widerspruch bringen konnten, ängstlich von der Hand wiesen; es entspricht ganz zahlreichen Vorgängen in den Wissenschaften, daß die vis plastica und die Naturspiele erst dann einen Anstrich von philosophischer Begründung erhielten, als die vorgeschrittene Beobachtung es unmöglich machte, alle Versteinerungen geradezu auf Rechnung der Sündfluth zu schreiben. Daß aber dieser Glaube selbst in unsere Zeit hereinragt,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0473/0009] Geologische Briefe. II. Historische Orientirung. (Beschluß.) Bis auf die Zeit, welche den deutschen Werner gebar, hat kein Forscher das Problem der Erdbildung so klar und tief gefaßt, als Stenon. Die meisten seiner Nachfolger sind nicht nur unendlich weit unter ihm geblieben; viele seiner eigenen Ansichten konnten sich nicht einmal Geltung verschaffen, und zwar hauptsächlich weil die Neigung, alle Ideen über Erdbildung an die Mosaische Genesis anzuknüpfen, in der zweiten Hälfte des 17ten Jahrhunderts eher zu- als abnahm, und in demselben Verhältniß der Beobachtungsgeist sank, so daß die Wissenschaft eher zurück als vorwärts ging. Jetzt begann die eigentliche Periode der Speculationen, wobei man, festhaltend am Buchstaben der Schrift, den Oberflächenzustand der Erde aus ihrer ursprünglichen Entstehung, und zugleich mit dieser zu erklären suchte. Diese Periode verlängerte sich bis in die Mitte des 18ten Jahrhunderts und gebar eine ganze Reihe ausschweifender Hypothesen, welche den Ausspruch Lichtenbergs rechtfertigen, daß alle diese Versuche nicht sowohl Beiträge zur Geschichte der Erde, als zur Geschichte der Verirrungen des menschlichen Verstandes seyen. Besonders thätig waren dabei die hochkirchlichen Engländer (Burnet, Woodward, Whiston). In diesen träumerischen Systemen war die Erde ursprünglich bald ein Komet, bald eine Sonne, bald ein Mond gewesen. Die Erklärung der Oberflächenbildung lief, je nachdem die Theorie vorherrschend neptunistisch oder vulcanistisch war, darauf hinaus, daß die wässerige Erdkruste beim Trocknen, oder die geschmolzene beim Erkalten, barst und theilweise einstürzte. Man rüttelte an den schon bekannten Thatsachen so lange, bis sie sich in das Mosaische Schema hineinbiegen ließen; wo nicht, so negirte man sie oder griff zu den sonderbarsten Voraussetzungen. Die Fähigkeit, Erscheinungen zu deuten, welche mit den ersten Worten des alten Testaments in Widerspruch zu stehen schienen, ging allermittelst fast ganz verloren. Wie man sich dabei auch mit den Mosaischen Tagen abfand, in allen Systemen war der Erdbildungsproceß ein sehr rascher, und diese dramatischen Kosmogenien gleichen den französischen Tragödien, wo der Dichter auch an den conventionellen poetischen Glauben der Zuschauer appellirt, indem er Handlungen in vierundzwanzig Stunden sich abspielen läßt, die naturgemäß Entwicklungen einer weit längern Zeit sind. Der damalige Zustand der Wissenschaft gibt aber auch zu einer ernsteren Betrachtung Anlaß. Kaum hatte der Mensch durch die Entdeckung von Amerika die sinnliche Ueberzeugung von der wahren Gestalt der Erde und von der Existenz der Gegenfüßler gewonnen, so muthete man ihm zu, die Bewegungen der Himmelskörper am Firmament für optische Täuschung zu erkennen, und sich die Erde in doppelter, reißender Bewegung und dazu als ein Sandkorn in der Wüste des Universums zu denken. Und nicht lange, so sah er sich sogar aus der Erdtiefe erhobene Thatsachen vor Augen gerückt, welche seinen Glauben erschüttern wollten, daß die Erde von jeher nur um seinetwillen dagewesen. Die mit dem Christenthum verknüpften heiligen Urkunden schienen beiderlei, für den menschlichen Stolz so demüthigenden Ansichten zu widersprechen; und so wirkte das Gefühl der Selbstsucht im Bunde mit dem religiösen Glauben, wenn sich selbst die Wissenschaft längere Zeit gegen jene Vorstellungen sträubte, wenn man Tycho Brahe's Vorschlag zur Güte annehmlicher fand, als das radicale System des Copernicus, und die fossilen Organismen beharrlich als Zeugen der Sündfluth in Anspruch nahm. Es war ein so trostreicher Gedanke: das wohnliche Nest der Erde ruhend inmitten des Weltalls, Sonne und Mond und die Gewölbe der Himmel um ihretwillen da, und die Erde nur aus dem Chaos hervorgegangen, um sogleich ein Garten und Park für den Herrn der Schöpfung zu werden! Mit diesem engen Begriff war des Menschen Gemüth in sich befriedigt und abgeschlossen; es strahlte seine Wärme nicht aus in die Oede des Raums und der Zeit, und der Himmel war kein Gedanke, der die nach dem Begriff ringende Phantasie lähmte, sondern ein Gefühl, das die Seele ausfüllte. Durch die astronomischen und geologischen Ueberzeugungen der neuern Zeit hat sich des menschlichen Geistes eine tiefe Unruhe bemächtigt, und er fühlt sich, wenn er in den Raum und die Zeit hinausblickt, wechselnd gespannt und erhoben, erschreckt und gedemüthigt. Diese Stimmung wäre eine sehr unheimliche, ohne die gewisse Hoffnung, daß jene Unruhe einem Begriff entgegentreibt, der für die Menschheit auf höherer Stufe so trostvoll seyn wird, als der Glaube an die ruhende Erde und die Schöpfung der Welt um des Menschen willen. Es lag übrigens, wie schon im vorigen Artikel bemerkt, in der Natur der Sache, daß sich der Mensch den astronomischen Wahrheiten weit leichter gefangen gab als den geologischen. Bei der erhabenen Einfachheit der räumlichen Verhältnisse der Erde zum Weltall war das Dogma von der wahren Bewegung der Himmelskörper eine Synthese, die durch die einfachen Gesetze unseres eigenen Geistes leicht aufgelöst und verificirt wurde. Dagegen bei der materiellen Verwirrung in der zeitlichen Evolution der Erde gelangte man nur durch lange Analysis zum festen Begriff der Aeonen, welche dem jetzigen Zustande vorausgegangen, und der langen Reihe organischer Schöpfungen, die im Lauf der Erdbildung einander abgelöst. Noch ist hier eines Moments zu erwähnen, das mit dem sich so lange erhaltenden Triebe, die Naturbeobachtung mit der biblischen Tradition in Einklang zu bringen, in Zusammenhang steht. Seit dem Alterthum hatte sich neben der natürlichen, sinnlich aufgedrungenen Ansicht, nach welcher die in den Erdschichten eingeschlossenen Thier- und Pflanzenformen Reste von Organismen sind, welche einst im Wasser und auf dem Lande gelebt haben, fortwährend eine andere geltend gemacht, wornach jene Versteinerungen zufällige Mineralbildungen, sogenannte Naturspiele, seyn sollten. Diese Vorstellung war bei einem gewissen Stande der allgemeinen Kenntnisse wohl zu begreifen; sie wurde aber auch dann noch festgehalten, als die vollkommene Analogie zwischen den fossilen Thieren und Pflanzen und den noch lebenden tausendfältig erwiesen war; nur nahm man jetzt zu einer in der Erde vorausgesetzten sogenannten plastischen Kraft seine Zuflucht, und dachte sich die thier- und pflanzenähnlichen Steinkerne gleichsam als Skizzen der sich im Mineralreich träumend zu höhern Formen emporringenden Natur. Es ist natürlich, daß diese wunderliche Ansicht vielfach denen willkommen war, die alle Consequenzen, welche sie mit der Mosaischen Genesis in Widerspruch bringen konnten, ängstlich von der Hand wiesen; es entspricht ganz zahlreichen Vorgängen in den Wissenschaften, daß die vis plastica und die Naturspiele erst dann einen Anstrich von philosophischer Begründung erhielten, als die vorgeschrittene Beobachtung es unmöglich machte, alle Versteinerungen geradezu auf Rechnung der Sündfluth zu schreiben. Daß aber dieser Glaube selbst in unsere Zeit hereinragt,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_060_18400229
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_060_18400229/9
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 60. Augsburg, 29. Februar 1840, S. 0473. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_060_18400229/9>, abgerufen am 23.11.2024.