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Allgemeine Zeitung. Nr. 57. Augsburg, 26. Februar 1840.

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Geologische Briefe.

Zweiter Brief. *)*)

Historische Orientirung.

Unser Wohnplatz im Universum ist ein Ball, dessen Masse gegen den Centralkörper unseres Sonnensystems fast verschwindet, der aber, gegen unsere eigene Leiblichkeit gehalten, unendlich groß erscheint. An der Oberfläche dieses "Sterns unter Sternen" spielt sich seit unbekannter Zeit das Drama der sogenannten Weltgeschichte ab. Der Mensch übersieht auch auf den höchsten Gebirgen immer nur einen ganz kleinen Abschnitt der Kugelfläche, er hat es noch nicht einmal dahin gebracht, weder die Silhouette des aus dem Meer hervorragenden Landes, noch das Relief dieses letztern rein und vollständig nachzuzeichnen, und sieht sich mit seiner Beobachtung und Wirksamkeit rein auf die Oberfläche, gleichsam auf die oberste Haut des Planeten beschränkt. Der Halbmesser der Erde beträgt etwa 860 geographische Meilen; von dieser Masse kennen wir, wenn man die mächtigsten Profile der Gebirge und die tiefsten Schachte zusammenrechnet, höchstens eine Rinde, die etwa 20,000 Fuß, also den tausendsten Theil des Erdhalbmessers, dick ist. Und selbst diese Rinde ist uns keineswegs überall, sondern nur an einzelnen Punkten aufgeschlossen, und überhaupt nur im Allgemeinsten bekannt. Alle Unebenheiten der Erdrinde, selbst die höchsten Gebirge, kommen gegen die Masse der Kugel in gar keinen Betracht. Es ließe sich leicht berechnen, welchem deutschen Bundesstaat ungefähr der Flächengehalt eines Globus entspräche, auf dem die Himalayas und unsere größten Landseen noch so groß erschienen, wie die Schneckenberge und Schwanenteiche in einem fürstlichen Schloßgarten. Wie klein das Verhältniß aller verticalen Erhebung des Landes zur Horizontalerstreckung ist, sieht man recht deutlich daraus, daß auf den Reliefkarten eines Districts, klein oder groß, nur die dominirenden Höhen angegeben werden können, und daß man, soll überhaupt noch ein sinnlicher Eindruck hervorgebracht werden, den Maaßstab der Höhen doppelt und mehrfach so groß nehmen muß als den der Fläche. Bei der überwältigenden Größe der gethürmten Massen, welche unsern Horizont begränzen oder drohend über unsern Häuptern hängen, wird es unserer Einbildungskraft schwer, den Erdball so weit zusammenzuziehen, daß alle seine Unebenheiten den Höckern, Schuppen und Ritzen einer Frucht gleichen, die auf geringe Entfernung glatt erscheint. Wenigstens hält der Mensch diesen Gedanken nicht leicht fest, wenn er über die Entstehung der gewaltigen Zerklüftungen und Auftreibungen der Erdrinde nachdenkt, weil er gleichsam körperlich auch dabei seyn und mitzählen will. Mit solch starker Reduction der Kugel vernichtet er aber sinnlich sich selbst und die ganze lebende Schöpfung; er setzt sie zu unsichtbaren Infusorien herab, und er besitzt kein geistiges Mikroskop, um in solcher Verkleinerung sich und seine Werke noch zu erkennen.

Schon der alte Vater des Wissens, Aristoteles, dachte sich die Erde als ein lebendiges Wesen mit zusammengesetzter Organisation, und er gefiel sich darin, die Metamorphosen, die sie sichtbar in der Zeit durchlaufen, mit den Lebensverrichtungen der Thier- und Pflanzenwelt zu vergleichen. Die neuere Naturforschung ist in minder roher Form zu diesem Begriff zurückgekehrt. Besonders durch die Ausbildung der Lehren vom Galvanismus, Magnetismus und Elektrochemismus hat man sich immer mehr überzeugt, daß im Innern der Erde durch das Spiel mannichfaltiger Kräfte ein fortwährender Lebensproceß unterhalten wird, der auf die ganze Constitution der Oberfläche dynamisch und mechanisch heraufwirkt. Die Wissenschaft betrachtet den Erdball nicht mehr, wie früher gewöhnlich, als das träge, nothwendige Substrat der Oberflächenerscheinungen, als eine todte, gleichgültige Schlacke, auf deren verwitterter Oberfläche eine Decke von Organismen angeschossen ist, wie Flechten an der Felswand, sondern als einen großen Herd anziehender und abstoßender Kräfte, von deren Wechselwirkung mit dem rings umgebenden Luftkreis alles terrestrische Leben so gut abhängt und in seinen Phasen bestimmt wird, als vom Einfluß der Sonne. Zugleich mit diesem Begriff entwickelte sich aber durch die fortschreitende Kenntniß der Erdrinde die Ueberzeugung, daß diese Erdrinde eine Entwicklungsgeschichte von unendlicher Dauer hat, und daß damit ein unabsehbares Feld der Forschung aufgethan ist, welche ganz unabhängig von der Frage nach der ursprünglichen Bildung der Erde und der Beschaffenheit ihres Innern verfolgt werden muß. Die Geologie bescheidet sich, daß durch Alles, was sie über die Zusammensetzung und Lagerung der Mineralkörper an der Oberfläche in Erfahrung gebracht hat, für die Kenntniß des Erdinnern nicht das Mindeste gewonnen ist. Die größte Tiefe, zu welcher der Mensch niedergedrungen, gleicht kaum dem Stich, womit das Insect die oberste Haut einer Frucht ritzt. Wollten wir nun etwa aus der Kenntniß der uns erreichbaren Erdschichten schließen, der ganze Erdball sey gleichmäßig aus ähnlichen Körpern zusammengesetzt, so wäre dieß so viel, als wenn das Insect meinte, durch die Unebenheiten der Schale, die es betastet, das Innere der Frucht und ihre Structur kennengelernt zu haben. Es gibt lediglich keinen directen Beweis dafür, daß das Innere der Erde in ähnlicher Constitution aus denselben Mineralien besteht, wie ihre Oberhaut; allgemeine Gründe sprechen sogar durchaus gegen die Annahme, daß sich die Structur der Erdrinde auch nur in bedeutende Tiefe fortsetze. Die Physik muß es sehr wahrscheinlich finden, daß sich eben nicht sehr weit unter der Oberfläche die Werkstätte fortdauernder vulcanischer Thätigkeit befindet, und daß sich hier unter dem Einfluß von Kräften, deren letzten, sich zu uns herauf erstreckenden Bebungen wir noch keinen klaren Sinn zu geben wissen, beständig neue Mineralkörper bilden. Ja, ein Resultat der Wissenschaft, welche es mit der Kenntniß der Erde als allgemeine Persönlichkeit zu thun hat, und deren Ausbildung nach unsern obigen Andeutungen der rationellen Geologie vorausgehen mußte, ist unvereinbar mit der Voraussetzung, daß die Erde gleichförmig aus den uns bekannten Gebirgsarten zusammengesetzt sey. Es ist der Physik und Astronomie gelungen, das specifische Gewicht der Erde zu bestimmen: dasselbe beträgt, nach den Berechnungen von Playfair, Coulomb und Maskelyne, nicht viel weniger als 5, das Gewicht des Wassers gleich 1 gesetzt; die specifische Schwere der an der Oberfläche vorherrschenden Mineralien kann aber im Ganzen kaum mehr als halb so groß angenommen werden.

Durch die Gewinnung dieser allgemeinen, negativen Begriffe ist nun die Geologie auf die Bahn geleitet worden, welche wir im vorigen Artikel mit dem Gang der Astronomie seit Copernicus in Parallele gesetzt haben. Sie hat sich als rein empirische Wissenschaft und die Mannichfaltigkeit der vom Menschen sinnlich

*) Als Fortsetzung des Aufsatzes: Geschichtliches über Erdbildung. (Beilage der Allg. Zeitung vom 15 Febr.)
Geologische Briefe.

Zweiter Brief. *)*)

Historische Orientirung.

Unser Wohnplatz im Universum ist ein Ball, dessen Masse gegen den Centralkörper unseres Sonnensystems fast verschwindet, der aber, gegen unsere eigene Leiblichkeit gehalten, unendlich groß erscheint. An der Oberfläche dieses „Sterns unter Sternen“ spielt sich seit unbekannter Zeit das Drama der sogenannten Weltgeschichte ab. Der Mensch übersieht auch auf den höchsten Gebirgen immer nur einen ganz kleinen Abschnitt der Kugelfläche, er hat es noch nicht einmal dahin gebracht, weder die Silhouette des aus dem Meer hervorragenden Landes, noch das Relief dieses letztern rein und vollständig nachzuzeichnen, und sieht sich mit seiner Beobachtung und Wirksamkeit rein auf die Oberfläche, gleichsam auf die oberste Haut des Planeten beschränkt. Der Halbmesser der Erde beträgt etwa 860 geographische Meilen; von dieser Masse kennen wir, wenn man die mächtigsten Profile der Gebirge und die tiefsten Schachte zusammenrechnet, höchstens eine Rinde, die etwa 20,000 Fuß, also den tausendsten Theil des Erdhalbmessers, dick ist. Und selbst diese Rinde ist uns keineswegs überall, sondern nur an einzelnen Punkten aufgeschlossen, und überhaupt nur im Allgemeinsten bekannt. Alle Unebenheiten der Erdrinde, selbst die höchsten Gebirge, kommen gegen die Masse der Kugel in gar keinen Betracht. Es ließe sich leicht berechnen, welchem deutschen Bundesstaat ungefähr der Flächengehalt eines Globus entspräche, auf dem die Himalayas und unsere größten Landseen noch so groß erschienen, wie die Schneckenberge und Schwanenteiche in einem fürstlichen Schloßgarten. Wie klein das Verhältniß aller verticalen Erhebung des Landes zur Horizontalerstreckung ist, sieht man recht deutlich daraus, daß auf den Reliefkarten eines Districts, klein oder groß, nur die dominirenden Höhen angegeben werden können, und daß man, soll überhaupt noch ein sinnlicher Eindruck hervorgebracht werden, den Maaßstab der Höhen doppelt und mehrfach so groß nehmen muß als den der Fläche. Bei der überwältigenden Größe der gethürmten Massen, welche unsern Horizont begränzen oder drohend über unsern Häuptern hängen, wird es unserer Einbildungskraft schwer, den Erdball so weit zusammenzuziehen, daß alle seine Unebenheiten den Höckern, Schuppen und Ritzen einer Frucht gleichen, die auf geringe Entfernung glatt erscheint. Wenigstens hält der Mensch diesen Gedanken nicht leicht fest, wenn er über die Entstehung der gewaltigen Zerklüftungen und Auftreibungen der Erdrinde nachdenkt, weil er gleichsam körperlich auch dabei seyn und mitzählen will. Mit solch starker Reduction der Kugel vernichtet er aber sinnlich sich selbst und die ganze lebende Schöpfung; er setzt sie zu unsichtbaren Infusorien herab, und er besitzt kein geistiges Mikroskop, um in solcher Verkleinerung sich und seine Werke noch zu erkennen.

Schon der alte Vater des Wissens, Aristoteles, dachte sich die Erde als ein lebendiges Wesen mit zusammengesetzter Organisation, und er gefiel sich darin, die Metamorphosen, die sie sichtbar in der Zeit durchlaufen, mit den Lebensverrichtungen der Thier- und Pflanzenwelt zu vergleichen. Die neuere Naturforschung ist in minder roher Form zu diesem Begriff zurückgekehrt. Besonders durch die Ausbildung der Lehren vom Galvanismus, Magnetismus und Elektrochemismus hat man sich immer mehr überzeugt, daß im Innern der Erde durch das Spiel mannichfaltiger Kräfte ein fortwährender Lebensproceß unterhalten wird, der auf die ganze Constitution der Oberfläche dynamisch und mechanisch heraufwirkt. Die Wissenschaft betrachtet den Erdball nicht mehr, wie früher gewöhnlich, als das träge, nothwendige Substrat der Oberflächenerscheinungen, als eine todte, gleichgültige Schlacke, auf deren verwitterter Oberfläche eine Decke von Organismen angeschossen ist, wie Flechten an der Felswand, sondern als einen großen Herd anziehender und abstoßender Kräfte, von deren Wechselwirkung mit dem rings umgebenden Luftkreis alles terrestrische Leben so gut abhängt und in seinen Phasen bestimmt wird, als vom Einfluß der Sonne. Zugleich mit diesem Begriff entwickelte sich aber durch die fortschreitende Kenntniß der Erdrinde die Ueberzeugung, daß diese Erdrinde eine Entwicklungsgeschichte von unendlicher Dauer hat, und daß damit ein unabsehbares Feld der Forschung aufgethan ist, welche ganz unabhängig von der Frage nach der ursprünglichen Bildung der Erde und der Beschaffenheit ihres Innern verfolgt werden muß. Die Geologie bescheidet sich, daß durch Alles, was sie über die Zusammensetzung und Lagerung der Mineralkörper an der Oberfläche in Erfahrung gebracht hat, für die Kenntniß des Erdinnern nicht das Mindeste gewonnen ist. Die größte Tiefe, zu welcher der Mensch niedergedrungen, gleicht kaum dem Stich, womit das Insect die oberste Haut einer Frucht ritzt. Wollten wir nun etwa aus der Kenntniß der uns erreichbaren Erdschichten schließen, der ganze Erdball sey gleichmäßig aus ähnlichen Körpern zusammengesetzt, so wäre dieß so viel, als wenn das Insect meinte, durch die Unebenheiten der Schale, die es betastet, das Innere der Frucht und ihre Structur kennengelernt zu haben. Es gibt lediglich keinen directen Beweis dafür, daß das Innere der Erde in ähnlicher Constitution aus denselben Mineralien besteht, wie ihre Oberhaut; allgemeine Gründe sprechen sogar durchaus gegen die Annahme, daß sich die Structur der Erdrinde auch nur in bedeutende Tiefe fortsetze. Die Physik muß es sehr wahrscheinlich finden, daß sich eben nicht sehr weit unter der Oberfläche die Werkstätte fortdauernder vulcanischer Thätigkeit befindet, und daß sich hier unter dem Einfluß von Kräften, deren letzten, sich zu uns herauf erstreckenden Bebungen wir noch keinen klaren Sinn zu geben wissen, beständig neue Mineralkörper bilden. Ja, ein Resultat der Wissenschaft, welche es mit der Kenntniß der Erde als allgemeine Persönlichkeit zu thun hat, und deren Ausbildung nach unsern obigen Andeutungen der rationellen Geologie vorausgehen mußte, ist unvereinbar mit der Voraussetzung, daß die Erde gleichförmig aus den uns bekannten Gebirgsarten zusammengesetzt sey. Es ist der Physik und Astronomie gelungen, das specifische Gewicht der Erde zu bestimmen: dasselbe beträgt, nach den Berechnungen von Playfair, Coulomb und Maskelyne, nicht viel weniger als 5, das Gewicht des Wassers gleich 1 gesetzt; die specifische Schwere der an der Oberfläche vorherrschenden Mineralien kann aber im Ganzen kaum mehr als halb so groß angenommen werden.

Durch die Gewinnung dieser allgemeinen, negativen Begriffe ist nun die Geologie auf die Bahn geleitet worden, welche wir im vorigen Artikel mit dem Gang der Astronomie seit Copernicus in Parallele gesetzt haben. Sie hat sich als rein empirische Wissenschaft und die Mannichfaltigkeit der vom Menschen sinnlich

*) Als Fortsetzung des Aufsatzes: Geschichtliches über Erdbildung. (Beilage der Allg. Zeitung vom 15 Febr.)
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[0449/0009] Geologische Briefe. Zweiter Brief. *) *) Historische Orientirung. Unser Wohnplatz im Universum ist ein Ball, dessen Masse gegen den Centralkörper unseres Sonnensystems fast verschwindet, der aber, gegen unsere eigene Leiblichkeit gehalten, unendlich groß erscheint. An der Oberfläche dieses „Sterns unter Sternen“ spielt sich seit unbekannter Zeit das Drama der sogenannten Weltgeschichte ab. Der Mensch übersieht auch auf den höchsten Gebirgen immer nur einen ganz kleinen Abschnitt der Kugelfläche, er hat es noch nicht einmal dahin gebracht, weder die Silhouette des aus dem Meer hervorragenden Landes, noch das Relief dieses letztern rein und vollständig nachzuzeichnen, und sieht sich mit seiner Beobachtung und Wirksamkeit rein auf die Oberfläche, gleichsam auf die oberste Haut des Planeten beschränkt. Der Halbmesser der Erde beträgt etwa 860 geographische Meilen; von dieser Masse kennen wir, wenn man die mächtigsten Profile der Gebirge und die tiefsten Schachte zusammenrechnet, höchstens eine Rinde, die etwa 20,000 Fuß, also den tausendsten Theil des Erdhalbmessers, dick ist. Und selbst diese Rinde ist uns keineswegs überall, sondern nur an einzelnen Punkten aufgeschlossen, und überhaupt nur im Allgemeinsten bekannt. Alle Unebenheiten der Erdrinde, selbst die höchsten Gebirge, kommen gegen die Masse der Kugel in gar keinen Betracht. Es ließe sich leicht berechnen, welchem deutschen Bundesstaat ungefähr der Flächengehalt eines Globus entspräche, auf dem die Himalayas und unsere größten Landseen noch so groß erschienen, wie die Schneckenberge und Schwanenteiche in einem fürstlichen Schloßgarten. Wie klein das Verhältniß aller verticalen Erhebung des Landes zur Horizontalerstreckung ist, sieht man recht deutlich daraus, daß auf den Reliefkarten eines Districts, klein oder groß, nur die dominirenden Höhen angegeben werden können, und daß man, soll überhaupt noch ein sinnlicher Eindruck hervorgebracht werden, den Maaßstab der Höhen doppelt und mehrfach so groß nehmen muß als den der Fläche. Bei der überwältigenden Größe der gethürmten Massen, welche unsern Horizont begränzen oder drohend über unsern Häuptern hängen, wird es unserer Einbildungskraft schwer, den Erdball so weit zusammenzuziehen, daß alle seine Unebenheiten den Höckern, Schuppen und Ritzen einer Frucht gleichen, die auf geringe Entfernung glatt erscheint. Wenigstens hält der Mensch diesen Gedanken nicht leicht fest, wenn er über die Entstehung der gewaltigen Zerklüftungen und Auftreibungen der Erdrinde nachdenkt, weil er gleichsam körperlich auch dabei seyn und mitzählen will. Mit solch starker Reduction der Kugel vernichtet er aber sinnlich sich selbst und die ganze lebende Schöpfung; er setzt sie zu unsichtbaren Infusorien herab, und er besitzt kein geistiges Mikroskop, um in solcher Verkleinerung sich und seine Werke noch zu erkennen. Schon der alte Vater des Wissens, Aristoteles, dachte sich die Erde als ein lebendiges Wesen mit zusammengesetzter Organisation, und er gefiel sich darin, die Metamorphosen, die sie sichtbar in der Zeit durchlaufen, mit den Lebensverrichtungen der Thier- und Pflanzenwelt zu vergleichen. Die neuere Naturforschung ist in minder roher Form zu diesem Begriff zurückgekehrt. Besonders durch die Ausbildung der Lehren vom Galvanismus, Magnetismus und Elektrochemismus hat man sich immer mehr überzeugt, daß im Innern der Erde durch das Spiel mannichfaltiger Kräfte ein fortwährender Lebensproceß unterhalten wird, der auf die ganze Constitution der Oberfläche dynamisch und mechanisch heraufwirkt. Die Wissenschaft betrachtet den Erdball nicht mehr, wie früher gewöhnlich, als das träge, nothwendige Substrat der Oberflächenerscheinungen, als eine todte, gleichgültige Schlacke, auf deren verwitterter Oberfläche eine Decke von Organismen angeschossen ist, wie Flechten an der Felswand, sondern als einen großen Herd anziehender und abstoßender Kräfte, von deren Wechselwirkung mit dem rings umgebenden Luftkreis alles terrestrische Leben so gut abhängt und in seinen Phasen bestimmt wird, als vom Einfluß der Sonne. Zugleich mit diesem Begriff entwickelte sich aber durch die fortschreitende Kenntniß der Erdrinde die Ueberzeugung, daß diese Erdrinde eine Entwicklungsgeschichte von unendlicher Dauer hat, und daß damit ein unabsehbares Feld der Forschung aufgethan ist, welche ganz unabhängig von der Frage nach der ursprünglichen Bildung der Erde und der Beschaffenheit ihres Innern verfolgt werden muß. Die Geologie bescheidet sich, daß durch Alles, was sie über die Zusammensetzung und Lagerung der Mineralkörper an der Oberfläche in Erfahrung gebracht hat, für die Kenntniß des Erdinnern nicht das Mindeste gewonnen ist. Die größte Tiefe, zu welcher der Mensch niedergedrungen, gleicht kaum dem Stich, womit das Insect die oberste Haut einer Frucht ritzt. Wollten wir nun etwa aus der Kenntniß der uns erreichbaren Erdschichten schließen, der ganze Erdball sey gleichmäßig aus ähnlichen Körpern zusammengesetzt, so wäre dieß so viel, als wenn das Insect meinte, durch die Unebenheiten der Schale, die es betastet, das Innere der Frucht und ihre Structur kennengelernt zu haben. Es gibt lediglich keinen directen Beweis dafür, daß das Innere der Erde in ähnlicher Constitution aus denselben Mineralien besteht, wie ihre Oberhaut; allgemeine Gründe sprechen sogar durchaus gegen die Annahme, daß sich die Structur der Erdrinde auch nur in bedeutende Tiefe fortsetze. Die Physik muß es sehr wahrscheinlich finden, daß sich eben nicht sehr weit unter der Oberfläche die Werkstätte fortdauernder vulcanischer Thätigkeit befindet, und daß sich hier unter dem Einfluß von Kräften, deren letzten, sich zu uns herauf erstreckenden Bebungen wir noch keinen klaren Sinn zu geben wissen, beständig neue Mineralkörper bilden. Ja, ein Resultat der Wissenschaft, welche es mit der Kenntniß der Erde als allgemeine Persönlichkeit zu thun hat, und deren Ausbildung nach unsern obigen Andeutungen der rationellen Geologie vorausgehen mußte, ist unvereinbar mit der Voraussetzung, daß die Erde gleichförmig aus den uns bekannten Gebirgsarten zusammengesetzt sey. Es ist der Physik und Astronomie gelungen, das specifische Gewicht der Erde zu bestimmen: dasselbe beträgt, nach den Berechnungen von Playfair, Coulomb und Maskelyne, nicht viel weniger als 5, das Gewicht des Wassers gleich 1 gesetzt; die specifische Schwere der an der Oberfläche vorherrschenden Mineralien kann aber im Ganzen kaum mehr als halb so groß angenommen werden. Durch die Gewinnung dieser allgemeinen, negativen Begriffe ist nun die Geologie auf die Bahn geleitet worden, welche wir im vorigen Artikel mit dem Gang der Astronomie seit Copernicus in Parallele gesetzt haben. Sie hat sich als rein empirische Wissenschaft und die Mannichfaltigkeit der vom Menschen sinnlich *) Als Fortsetzung des Aufsatzes: Geschichtliches über Erdbildung. (Beilage der Allg. Zeitung vom 15 Febr.)

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 57. Augsburg, 26. Februar 1840, S. 0449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_057_18400226/9>, abgerufen am 29.03.2024.