Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Allgemeine Zeitung. Nr. 54. Augsburg, 23. Februar 1840.

Bild:
<< vorherige Seite

geistreiche Opposition sehe, die jedoch weder einig ist, noch dieß vielleicht unter den gegebenen Umständen seyn kann, und eben so wenig über ihre finalen Zwecke völlig klar zu seyn scheint, auch ein Land, welches trotz seines generellen Namens weit mehr Nichtungarn als Ungarn enthält, fast ausschließlich aus dem, nothwendig zu beschränkten, rein ungarischen Gesichtspunkt betrachtet - im Ganzen endlich eine noch halb dunkel, aber immer mehr um sich greifende Sehnsucht bemerke, die nach Emancipation der in vielen Dingen allerdings zurückgebliebenen Bevölkerung strebt - ich sage absichtlich Bevölkerung, denn Nation kann man eine Totalität von zehn oder eilf Millionen Individuen nicht nennen, von denen höchstens der zwölfte Theil auf diesen Namen Anspruch macht, während die übrigen eilf Theile noch gesetzlich mit "misera plebs" bezeichnet werden. Jenes seltsame Zurückbleiben Ungarns hinter dem übrigen Europa hat indeß neben großen Nachtheilen doch auch manche bedeutende Vorzüge conservirt, und nicht alles Alte ist hier als Veraltetes zu verdammen, was ein so besonnenes, mildes, väterliches, das Gute und Heilsame überall wollendes Gouvernement wie das hiesige, gewiß am besten wissen wird zu sondern, und mit Maaß und Ruhe, ohne alle Präcipitation, mit dem guten Wahlspruch festina lente zum erfreulichsten Resultat zu führen. Schon jetzt fällt einem in dieser Hinsicht das Sonderbare auf, daß die Regierung hier offenbar die liberale, den Fortschritt verlangende Partei ist, ein großer Theil der Oppositionsmitglieder aber die Ultras repräsentirt, welche auch das Schädliche, ja Unsinnige conserviren wollen, nur weil es alt ist. Gott bewahre die edelnn Ungarn vor allen unausführbaren Träumen der Ideologen, wie auch vor dem Schicksal solcher Länder, wo man das alte, schützende, wenn gleich hie und da etwas baufällige Haus zu jähling einriß, ohne bis jetzt den Architekten gefunden zu haben, der ein neues, besseres an seine Stelle zu setzen vermocht hätte - aber viel alten Sauerteig muß es dennoch ausmerzen, und manches momentane Opfer sollten seine Patrioten freudiger bringen zum Wohle des Ganzen, und folglich auch zu ihrem eigenen in nicht ferner Zukunft.

Ungarns Lage hat allerdings etwas sehr Eigenthümliches. Nachdem es volle Jahrhunderte so zu sagen verschlafen hat, wird es plötzlich von den allerneuesten Ideen der neuen Zeit geweckt, in die es sich sehr begreiflich nicht so schnell zu finden weiß, weil ihm zwischen Anfang und Ende der nöthige Uebergang, die ganze dazwischen liegende Mitte fehlt. Und wie Ungarn nun in so Vielem auffallend noch dem Orient ähnlich geblieben ist, so hat es auch mehr oder weniger den eben erwähnten anomalen Zustand mit ihm gemein, nur unter christlich-europäischer Strahlenbrechung und - zu seinem Glück - unter einem rationellen und kräftigen Scepter. Manche Verwirrung kann aus allem dem wohl hervorgehen, aber die, welche nur von der Möglichkeit einer Revolution hier träumen, scheinen mir im größten Irrthum befangen. Nur die Regierung selbst hätte die Mittel dazu. Wer sonst gegen sie? Hätte die "misera plebs" eine solche Absicht, so würde sie ohne alle nachhaltige Macht nur einen Bauernaufstand, eine bald gebändigte Revolte zu Stande zu bringen vermögen, und wollten die achtmalhunderttausend Adeligen eine Revolution herbeiführen, so brauchte die Regierung nur eine Schleuße aufzuziehen, um sie schon durch jene misera plebs allein, mit ihrer zehnfach stärkeren Zahl und einem lang genährten Groll, unfehlbar zu Grunde richten zu lassen. Diese so disparaten Volkshälften aber in einem Interesse gegen die Regierung zu vereinigen, wäre unter den obwaltenden Verhältnissen eben so chimärisch, als Hund und Heerde gemeinschaftlich auf den Hirten hetzen zu wollen. Doch auch in anderer Rücksicht findet sich hier kein besorgliches Element. Der Ungar scheint mir schon im Allgemeinen, wie er jetzt ist, einen sehr ehrenwerthen, für ein wohlmeinendes Gouvernement ganz ungefährlichen Nationalcharakter zu besitzen. Frei und ungebunden, ja fast ein wenig renommistisch in der Rede, ist er doch sehr bedächtig - vielleicht zu sehr manchmal - im Handeln, worin er sich z. B. ganz vom phantastischen Leichtsinn des Polen unterscheidet, wie auch darin, daß er seinen Beherrschern aufrichtig zugethan ist, trotz aller vorübergehenden Bezeugung von Unzufriedenheit. Dem Fremden, der mit einem noch so ungebärdig raisonnirenden Ungarn zu lebhaft einstimmen wollte, würde es daher leicht eben so ergehen, wie dem unberufenen Schiedsrichter im Zadig mit dem streitenden Ehepaare. Dieß ist ein edler, schöner Zug des Volks, der auch, ungeachtet der ungünstigsten Verhältnisse, oft glänzend in seiner Geschichte hervortrat. Dagegen ist seine große Redesucht, die so häufig die heterogensten Dinge untereinandermischt, und nachdem sie sich in Worten erschöpft, dennoch sich so schwer zum definitiven Entschluß, der zum Handeln nöthig ist, bringen kann, so daß Alles angeregt, aber nichts gethan, noch selbst thun zu lassen gern gestattet wird, allerdings ein Nachtheil, welcher der Regierung viele Schwierigkeiten in den Weg legen muß, und ich habe es in dieser Hinsicht sehr charakteristisch gefunden, daß im Volk die Sage verbreitet ist, die Türken hätten bei ihrer Vertreibung den Fluch über Ungarn ausgesprochen: sie sollten Alles anfangen, aber nichts vollenden! *)*)

So steht es nun wirklich jetzt mit gar Vielem; was aber des Landes nächstes Wohl betrifft, so beharre ich fortwährend bei der schon früher geäußerten sehr einfachen Meinung, daß Ungarn vor Allem materielle Verbesserungen noth thun. Wäre erst die Donau regulirt, und das Land mit einem Netze guter Straßen durchzogen, wie es in allen prosperirenden Reichen der Fall ist, so würde, außer dem unermeßlichen directen Vortheil der Sache, auch die nächste Folge davon seyn, daß die Hälfte so vieler andern gewünschten Reformen so zu sagen wie von selbst, und ohne alle schädliche Reibung eintreten müßte. Darauf also hinzuarbeiten, das Wenige, was hieran hindert, zu beseitigen, und dann rasch zum Werk zu schreiten, wäre gewiß das Dringendste und Wohlthätigste.

(Fortsetzung folgt.)

Wiener Briefe.

(Beschluß.)

Die Leistungen der Wiener Bühnen betreffend, so haben wir den Standpunkt der Localtheater bereits in unserm früheren Aufsatz angegeben; mehr über sie zu sagen, wäre nur bei einem besondern Anlaß nöthig, der sich im Interesse der Kunst eben nicht darbietet. Die deutsche Oper fährt fort, eine lobenswerthe Thätigkeit zu entwickeln, und namentlich hat die Vorstellung

*) Als ein komisches Beispiel der wunderlichen Einfälle ungarischer Volksredner in ihrer Faconde kann folgender Zug dienen. Einer ihrer eifrigsten Motionssteller, der Advocat K....., machte zu gleicher Zeit in einer langen Rede die zwei nachstehenden Anträge: "Erstens von der Regierung unbedingte Rede- und Schreibfreiheit zu verlangen; zweitens darum anzusuchen, die Allgemeine Zeitung wegen ihrer gehässigen Gesinnung gegen Ungarn im Königreich gänzlich zu verbieten." Lauter Beifall erschallte, und erst als ein anderes Mitglied der Versammlung kalt bemerkte, daß es ihm doch gerathener schiene, beide Anträge wenigstens nicht Hand in Hand gehen zu lassen - zeigte ein allgemeines Gelächter, daß man die Inconsequenz des Redners erkannt hatte.

geistreiche Opposition sehe, die jedoch weder einig ist, noch dieß vielleicht unter den gegebenen Umständen seyn kann, und eben so wenig über ihre finalen Zwecke völlig klar zu seyn scheint, auch ein Land, welches trotz seines generellen Namens weit mehr Nichtungarn als Ungarn enthält, fast ausschließlich aus dem, nothwendig zu beschränkten, rein ungarischen Gesichtspunkt betrachtet – im Ganzen endlich eine noch halb dunkel, aber immer mehr um sich greifende Sehnsucht bemerke, die nach Emancipation der in vielen Dingen allerdings zurückgebliebenen Bevölkerung strebt – ich sage absichtlich Bevölkerung, denn Nation kann man eine Totalität von zehn oder eilf Millionen Individuen nicht nennen, von denen höchstens der zwölfte Theil auf diesen Namen Anspruch macht, während die übrigen eilf Theile noch gesetzlich mit „misera plebs“ bezeichnet werden. Jenes seltsame Zurückbleiben Ungarns hinter dem übrigen Europa hat indeß neben großen Nachtheilen doch auch manche bedeutende Vorzüge conservirt, und nicht alles Alte ist hier als Veraltetes zu verdammen, was ein so besonnenes, mildes, väterliches, das Gute und Heilsame überall wollendes Gouvernement wie das hiesige, gewiß am besten wissen wird zu sondern, und mit Maaß und Ruhe, ohne alle Präcipitation, mit dem guten Wahlspruch festina lente zum erfreulichsten Resultat zu führen. Schon jetzt fällt einem in dieser Hinsicht das Sonderbare auf, daß die Regierung hier offenbar die liberale, den Fortschritt verlangende Partei ist, ein großer Theil der Oppositionsmitglieder aber die Ultras repräsentirt, welche auch das Schädliche, ja Unsinnige conserviren wollen, nur weil es alt ist. Gott bewahre die edelnn Ungarn vor allen unausführbaren Träumen der Ideologen, wie auch vor dem Schicksal solcher Länder, wo man das alte, schützende, wenn gleich hie und da etwas baufällige Haus zu jähling einriß, ohne bis jetzt den Architekten gefunden zu haben, der ein neues, besseres an seine Stelle zu setzen vermocht hätte – aber viel alten Sauerteig muß es dennoch ausmerzen, und manches momentane Opfer sollten seine Patrioten freudiger bringen zum Wohle des Ganzen, und folglich auch zu ihrem eigenen in nicht ferner Zukunft.

Ungarns Lage hat allerdings etwas sehr Eigenthümliches. Nachdem es volle Jahrhunderte so zu sagen verschlafen hat, wird es plötzlich von den allerneuesten Ideen der neuen Zeit geweckt, in die es sich sehr begreiflich nicht so schnell zu finden weiß, weil ihm zwischen Anfang und Ende der nöthige Uebergang, die ganze dazwischen liegende Mitte fehlt. Und wie Ungarn nun in so Vielem auffallend noch dem Orient ähnlich geblieben ist, so hat es auch mehr oder weniger den eben erwähnten anomalen Zustand mit ihm gemein, nur unter christlich-europäischer Strahlenbrechung und – zu seinem Glück – unter einem rationellen und kräftigen Scepter. Manche Verwirrung kann aus allem dem wohl hervorgehen, aber die, welche nur von der Möglichkeit einer Revolution hier träumen, scheinen mir im größten Irrthum befangen. Nur die Regierung selbst hätte die Mittel dazu. Wer sonst gegen sie? Hätte die „misera plebs“ eine solche Absicht, so würde sie ohne alle nachhaltige Macht nur einen Bauernaufstand, eine bald gebändigte Revolte zu Stande zu bringen vermögen, und wollten die achtmalhunderttausend Adeligen eine Revolution herbeiführen, so brauchte die Regierung nur eine Schleuße aufzuziehen, um sie schon durch jene misera plebs allein, mit ihrer zehnfach stärkeren Zahl und einem lang genährten Groll, unfehlbar zu Grunde richten zu lassen. Diese so disparaten Volkshälften aber in einem Interesse gegen die Regierung zu vereinigen, wäre unter den obwaltenden Verhältnissen eben so chimärisch, als Hund und Heerde gemeinschaftlich auf den Hirten hetzen zu wollen. Doch auch in anderer Rücksicht findet sich hier kein besorgliches Element. Der Ungar scheint mir schon im Allgemeinen, wie er jetzt ist, einen sehr ehrenwerthen, für ein wohlmeinendes Gouvernement ganz ungefährlichen Nationalcharakter zu besitzen. Frei und ungebunden, ja fast ein wenig renommistisch in der Rede, ist er doch sehr bedächtig – vielleicht zu sehr manchmal – im Handeln, worin er sich z. B. ganz vom phantastischen Leichtsinn des Polen unterscheidet, wie auch darin, daß er seinen Beherrschern aufrichtig zugethan ist, trotz aller vorübergehenden Bezeugung von Unzufriedenheit. Dem Fremden, der mit einem noch so ungebärdig raisonnirenden Ungarn zu lebhaft einstimmen wollte, würde es daher leicht eben so ergehen, wie dem unberufenen Schiedsrichter im Zadig mit dem streitenden Ehepaare. Dieß ist ein edler, schöner Zug des Volks, der auch, ungeachtet der ungünstigsten Verhältnisse, oft glänzend in seiner Geschichte hervortrat. Dagegen ist seine große Redesucht, die so häufig die heterogensten Dinge untereinandermischt, und nachdem sie sich in Worten erschöpft, dennoch sich so schwer zum definitiven Entschluß, der zum Handeln nöthig ist, bringen kann, so daß Alles angeregt, aber nichts gethan, noch selbst thun zu lassen gern gestattet wird, allerdings ein Nachtheil, welcher der Regierung viele Schwierigkeiten in den Weg legen muß, und ich habe es in dieser Hinsicht sehr charakteristisch gefunden, daß im Volk die Sage verbreitet ist, die Türken hätten bei ihrer Vertreibung den Fluch über Ungarn ausgesprochen: sie sollten Alles anfangen, aber nichts vollenden! *)*)

So steht es nun wirklich jetzt mit gar Vielem; was aber des Landes nächstes Wohl betrifft, so beharre ich fortwährend bei der schon früher geäußerten sehr einfachen Meinung, daß Ungarn vor Allem materielle Verbesserungen noth thun. Wäre erst die Donau regulirt, und das Land mit einem Netze guter Straßen durchzogen, wie es in allen prosperirenden Reichen der Fall ist, so würde, außer dem unermeßlichen directen Vortheil der Sache, auch die nächste Folge davon seyn, daß die Hälfte so vieler andern gewünschten Reformen so zu sagen wie von selbst, und ohne alle schädliche Reibung eintreten müßte. Darauf also hinzuarbeiten, das Wenige, was hieran hindert, zu beseitigen, und dann rasch zum Werk zu schreiten, wäre gewiß das Dringendste und Wohlthätigste.

(Fortsetzung folgt.)

Wiener Briefe.

(Beschluß.)

Die Leistungen der Wiener Bühnen betreffend, so haben wir den Standpunkt der Localtheater bereits in unserm früheren Aufsatz angegeben; mehr über sie zu sagen, wäre nur bei einem besondern Anlaß nöthig, der sich im Interesse der Kunst eben nicht darbietet. Die deutsche Oper fährt fort, eine lobenswerthe Thätigkeit zu entwickeln, und namentlich hat die Vorstellung

*) Als ein komisches Beispiel der wunderlichen Einfälle ungarischer Volksredner in ihrer Faconde kann folgender Zug dienen. Einer ihrer eifrigsten Motionssteller, der Advocat K....., machte zu gleicher Zeit in einer langen Rede die zwei nachstehenden Anträge: „Erstens von der Regierung unbedingte Rede- und Schreibfreiheit zu verlangen; zweitens darum anzusuchen, die Allgemeine Zeitung wegen ihrer gehässigen Gesinnung gegen Ungarn im Königreich gänzlich zu verbieten.“ Lauter Beifall erschallte, und erst als ein anderes Mitglied der Versammlung kalt bemerkte, daß es ihm doch gerathener schiene, beide Anträge wenigstens nicht Hand in Hand gehen zu lassen – zeigte ein allgemeines Gelächter, daß man die Inconsequenz des Redners erkannt hatte.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0010" n="0426"/>
geistreiche Opposition sehe, die jedoch weder einig ist, noch dieß vielleicht unter den gegebenen Umständen seyn kann, und eben so wenig über ihre finalen Zwecke völlig klar zu seyn scheint, auch ein Land, welches trotz seines generellen Namens weit mehr Nichtungarn als Ungarn enthält, fast ausschließlich aus dem, nothwendig zu beschränkten, rein ungarischen Gesichtspunkt betrachtet &#x2013; im Ganzen endlich eine noch halb dunkel, aber immer mehr um sich greifende Sehnsucht bemerke, die nach Emancipation der in vielen Dingen allerdings zurückgebliebenen Bevölkerung strebt &#x2013; ich sage absichtlich <hi rendition="#g">Bevölkerung</hi>, denn Nation kann man eine Totalität von zehn oder eilf Millionen Individuen nicht nennen, von denen höchstens der zwölfte Theil auf diesen Namen Anspruch macht, während die übrigen eilf Theile noch gesetzlich mit &#x201E;misera plebs&#x201C; bezeichnet werden. Jenes seltsame Zurückbleiben Ungarns hinter dem übrigen Europa hat indeß neben großen Nachtheilen doch auch manche bedeutende Vorzüge conservirt, und nicht alles Alte ist hier als <hi rendition="#g">Veraltetes</hi> zu verdammen, was ein so besonnenes, mildes, väterliches, das Gute und Heilsame überall wollendes Gouvernement wie das hiesige, gewiß am besten wissen wird zu sondern, und mit Maaß und Ruhe, ohne alle Präcipitation, mit dem guten Wahlspruch festina lente zum erfreulichsten Resultat zu führen. Schon jetzt fällt einem in dieser Hinsicht das Sonderbare auf, daß die Regierung hier offenbar die liberale, den Fortschritt verlangende Partei ist, ein großer Theil der Oppositionsmitglieder aber die Ultras repräsentirt, welche auch das Schädliche, ja Unsinnige conserviren wollen, nur weil es alt ist. Gott bewahre die edelnn Ungarn vor allen unausführbaren Träumen der Ideologen, wie auch vor dem Schicksal solcher Länder, wo man das alte, schützende, wenn gleich hie und da etwas baufällige Haus zu jähling einriß, ohne bis jetzt den Architekten gefunden zu haben, der ein neues, besseres an seine Stelle zu setzen vermocht hätte &#x2013; aber viel alten Sauerteig muß es dennoch ausmerzen, und manches momentane Opfer sollten seine Patrioten freudiger bringen zum Wohle des Ganzen, und folglich auch zu ihrem eigenen in nicht ferner Zukunft.</p><lb/>
        <p>Ungarns Lage hat allerdings etwas sehr Eigenthümliches. Nachdem es volle Jahrhunderte so zu sagen verschlafen hat, wird es plötzlich von den allerneuesten Ideen der neuen Zeit geweckt, in die es sich sehr begreiflich nicht so schnell zu finden weiß, weil ihm zwischen Anfang und Ende der nöthige Uebergang, die ganze dazwischen liegende Mitte fehlt. Und wie Ungarn nun in so Vielem auffallend noch dem Orient ähnlich geblieben ist, so hat es auch mehr oder weniger den eben erwähnten anomalen Zustand mit ihm gemein, nur unter christlich-europäischer Strahlenbrechung und &#x2013; zu seinem Glück &#x2013; unter einem rationellen und kräftigen Scepter. Manche Verwirrung kann aus allem dem wohl hervorgehen, aber die, welche nur von der <hi rendition="#g">Möglichkeit</hi> einer Revolution hier träumen, scheinen mir im größten Irrthum befangen. Nur die Regierung selbst hätte die Mittel dazu. Wer sonst gegen sie? Hätte die &#x201E;misera plebs&#x201C; eine solche Absicht, so würde sie ohne alle nachhaltige Macht nur einen Bauernaufstand, eine bald gebändigte Revolte zu Stande zu bringen vermögen, und wollten die achtmalhunderttausend Adeligen eine Revolution herbeiführen, so brauchte die Regierung nur eine Schleuße aufzuziehen, um sie schon durch jene misera plebs allein, mit ihrer zehnfach stärkeren Zahl und einem lang genährten Groll, unfehlbar zu Grunde richten zu lassen. Diese so disparaten Volkshälften aber in <hi rendition="#g">einem</hi> Interesse gegen die Regierung zu vereinigen, wäre unter den obwaltenden Verhältnissen eben so chimärisch, als Hund und Heerde gemeinschaftlich auf den Hirten hetzen zu wollen. Doch auch in anderer Rücksicht findet sich hier kein besorgliches Element. Der Ungar scheint mir schon im Allgemeinen, wie er jetzt ist, einen sehr ehrenwerthen, für ein wohlmeinendes Gouvernement ganz ungefährlichen Nationalcharakter zu besitzen. Frei und ungebunden, ja fast ein wenig renommistisch in der Rede, ist er doch sehr bedächtig &#x2013; vielleicht zu sehr manchmal &#x2013; im Handeln, worin er sich z. B. ganz vom phantastischen Leichtsinn des Polen unterscheidet, wie auch darin, daß er seinen Beherrschern aufrichtig zugethan ist, trotz aller vorübergehenden Bezeugung von Unzufriedenheit. Dem Fremden, der mit einem noch so ungebärdig raisonnirenden Ungarn zu lebhaft einstimmen wollte, würde es daher leicht eben so ergehen, wie dem unberufenen Schiedsrichter im Zadig mit dem streitenden Ehepaare. Dieß ist ein edler, schöner Zug des Volks, der auch, ungeachtet der ungünstigsten Verhältnisse, oft glänzend in seiner Geschichte hervortrat. Dagegen ist seine große Redesucht, die so häufig die heterogensten Dinge untereinandermischt, und nachdem sie sich in Worten erschöpft, dennoch sich so schwer zum definitiven Entschluß, der zum Handeln nöthig ist, bringen kann, so daß Alles angeregt, aber nichts gethan, noch selbst thun zu lassen gern gestattet wird, allerdings ein Nachtheil, welcher der Regierung viele Schwierigkeiten in den Weg legen muß, und ich habe es in dieser Hinsicht sehr charakteristisch gefunden, daß im Volk die Sage verbreitet ist, die Türken hätten bei ihrer Vertreibung den Fluch über Ungarn ausgesprochen: sie sollten Alles anfangen, aber nichts vollenden! <hi rendition="#sup">*)</hi><note place="foot" n="*)">Als ein komisches Beispiel der wunderlichen Einfälle ungarischer Volksredner in ihrer Faconde kann folgender Zug dienen. Einer ihrer eifrigsten Motionssteller, der Advocat K....., machte zu gleicher Zeit in einer langen Rede die zwei nachstehenden Anträge: &#x201E;Erstens von der Regierung unbedingte Rede- und Schreibfreiheit zu verlangen; zweitens darum anzusuchen, die Allgemeine Zeitung wegen ihrer gehässigen Gesinnung gegen Ungarn im Königreich gänzlich zu verbieten.&#x201C; Lauter Beifall erschallte, und erst als ein anderes Mitglied der Versammlung kalt bemerkte, daß es ihm doch gerathener schiene, beide Anträge wenigstens nicht <hi rendition="#g">Hand in Hand</hi> gehen zu lassen &#x2013; zeigte ein allgemeines Gelächter, daß man die Inconsequenz des Redners erkannt hatte.</note></p><lb/>
        <p>So steht es nun wirklich jetzt mit gar Vielem; was aber des Landes nächstes Wohl betrifft, so beharre ich fortwährend bei der schon früher geäußerten sehr einfachen Meinung, daß Ungarn vor Allem <hi rendition="#g">materielle</hi> Verbesserungen noth thun. Wäre erst die Donau regulirt, und das Land mit einem Netze guter Straßen durchzogen, wie es in allen prosperirenden Reichen der Fall ist, so würde, außer dem unermeßlichen directen Vortheil der Sache, auch die nächste Folge davon seyn, daß die Hälfte so vieler andern gewünschten Reformen so zu sagen wie von selbst, und ohne alle schädliche Reibung eintreten müßte. Darauf also hinzuarbeiten, das Wenige, was hieran hindert, zu beseitigen, und dann rasch zum Werk zu schreiten, wäre gewiß das Dringendste und Wohlthätigste.</p><lb/>
        <p>(Fortsetzung folgt.)</p>
      </div><lb/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Wiener Briefe</hi>.</hi> </head><lb/>
        <p>(Beschluß.)</p><lb/>
        <p>Die Leistungen der Wiener Bühnen betreffend, so haben wir den Standpunkt der Localtheater bereits in unserm früheren Aufsatz angegeben; mehr über sie zu sagen, wäre nur bei einem besondern Anlaß nöthig, der sich im Interesse der Kunst eben nicht darbietet. Die deutsche Oper fährt fort, eine lobenswerthe Thätigkeit zu entwickeln, und namentlich hat die Vorstellung<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0426/0010] geistreiche Opposition sehe, die jedoch weder einig ist, noch dieß vielleicht unter den gegebenen Umständen seyn kann, und eben so wenig über ihre finalen Zwecke völlig klar zu seyn scheint, auch ein Land, welches trotz seines generellen Namens weit mehr Nichtungarn als Ungarn enthält, fast ausschließlich aus dem, nothwendig zu beschränkten, rein ungarischen Gesichtspunkt betrachtet – im Ganzen endlich eine noch halb dunkel, aber immer mehr um sich greifende Sehnsucht bemerke, die nach Emancipation der in vielen Dingen allerdings zurückgebliebenen Bevölkerung strebt – ich sage absichtlich Bevölkerung, denn Nation kann man eine Totalität von zehn oder eilf Millionen Individuen nicht nennen, von denen höchstens der zwölfte Theil auf diesen Namen Anspruch macht, während die übrigen eilf Theile noch gesetzlich mit „misera plebs“ bezeichnet werden. Jenes seltsame Zurückbleiben Ungarns hinter dem übrigen Europa hat indeß neben großen Nachtheilen doch auch manche bedeutende Vorzüge conservirt, und nicht alles Alte ist hier als Veraltetes zu verdammen, was ein so besonnenes, mildes, väterliches, das Gute und Heilsame überall wollendes Gouvernement wie das hiesige, gewiß am besten wissen wird zu sondern, und mit Maaß und Ruhe, ohne alle Präcipitation, mit dem guten Wahlspruch festina lente zum erfreulichsten Resultat zu führen. Schon jetzt fällt einem in dieser Hinsicht das Sonderbare auf, daß die Regierung hier offenbar die liberale, den Fortschritt verlangende Partei ist, ein großer Theil der Oppositionsmitglieder aber die Ultras repräsentirt, welche auch das Schädliche, ja Unsinnige conserviren wollen, nur weil es alt ist. Gott bewahre die edelnn Ungarn vor allen unausführbaren Träumen der Ideologen, wie auch vor dem Schicksal solcher Länder, wo man das alte, schützende, wenn gleich hie und da etwas baufällige Haus zu jähling einriß, ohne bis jetzt den Architekten gefunden zu haben, der ein neues, besseres an seine Stelle zu setzen vermocht hätte – aber viel alten Sauerteig muß es dennoch ausmerzen, und manches momentane Opfer sollten seine Patrioten freudiger bringen zum Wohle des Ganzen, und folglich auch zu ihrem eigenen in nicht ferner Zukunft. Ungarns Lage hat allerdings etwas sehr Eigenthümliches. Nachdem es volle Jahrhunderte so zu sagen verschlafen hat, wird es plötzlich von den allerneuesten Ideen der neuen Zeit geweckt, in die es sich sehr begreiflich nicht so schnell zu finden weiß, weil ihm zwischen Anfang und Ende der nöthige Uebergang, die ganze dazwischen liegende Mitte fehlt. Und wie Ungarn nun in so Vielem auffallend noch dem Orient ähnlich geblieben ist, so hat es auch mehr oder weniger den eben erwähnten anomalen Zustand mit ihm gemein, nur unter christlich-europäischer Strahlenbrechung und – zu seinem Glück – unter einem rationellen und kräftigen Scepter. Manche Verwirrung kann aus allem dem wohl hervorgehen, aber die, welche nur von der Möglichkeit einer Revolution hier träumen, scheinen mir im größten Irrthum befangen. Nur die Regierung selbst hätte die Mittel dazu. Wer sonst gegen sie? Hätte die „misera plebs“ eine solche Absicht, so würde sie ohne alle nachhaltige Macht nur einen Bauernaufstand, eine bald gebändigte Revolte zu Stande zu bringen vermögen, und wollten die achtmalhunderttausend Adeligen eine Revolution herbeiführen, so brauchte die Regierung nur eine Schleuße aufzuziehen, um sie schon durch jene misera plebs allein, mit ihrer zehnfach stärkeren Zahl und einem lang genährten Groll, unfehlbar zu Grunde richten zu lassen. Diese so disparaten Volkshälften aber in einem Interesse gegen die Regierung zu vereinigen, wäre unter den obwaltenden Verhältnissen eben so chimärisch, als Hund und Heerde gemeinschaftlich auf den Hirten hetzen zu wollen. Doch auch in anderer Rücksicht findet sich hier kein besorgliches Element. Der Ungar scheint mir schon im Allgemeinen, wie er jetzt ist, einen sehr ehrenwerthen, für ein wohlmeinendes Gouvernement ganz ungefährlichen Nationalcharakter zu besitzen. Frei und ungebunden, ja fast ein wenig renommistisch in der Rede, ist er doch sehr bedächtig – vielleicht zu sehr manchmal – im Handeln, worin er sich z. B. ganz vom phantastischen Leichtsinn des Polen unterscheidet, wie auch darin, daß er seinen Beherrschern aufrichtig zugethan ist, trotz aller vorübergehenden Bezeugung von Unzufriedenheit. Dem Fremden, der mit einem noch so ungebärdig raisonnirenden Ungarn zu lebhaft einstimmen wollte, würde es daher leicht eben so ergehen, wie dem unberufenen Schiedsrichter im Zadig mit dem streitenden Ehepaare. Dieß ist ein edler, schöner Zug des Volks, der auch, ungeachtet der ungünstigsten Verhältnisse, oft glänzend in seiner Geschichte hervortrat. Dagegen ist seine große Redesucht, die so häufig die heterogensten Dinge untereinandermischt, und nachdem sie sich in Worten erschöpft, dennoch sich so schwer zum definitiven Entschluß, der zum Handeln nöthig ist, bringen kann, so daß Alles angeregt, aber nichts gethan, noch selbst thun zu lassen gern gestattet wird, allerdings ein Nachtheil, welcher der Regierung viele Schwierigkeiten in den Weg legen muß, und ich habe es in dieser Hinsicht sehr charakteristisch gefunden, daß im Volk die Sage verbreitet ist, die Türken hätten bei ihrer Vertreibung den Fluch über Ungarn ausgesprochen: sie sollten Alles anfangen, aber nichts vollenden! *) *) So steht es nun wirklich jetzt mit gar Vielem; was aber des Landes nächstes Wohl betrifft, so beharre ich fortwährend bei der schon früher geäußerten sehr einfachen Meinung, daß Ungarn vor Allem materielle Verbesserungen noth thun. Wäre erst die Donau regulirt, und das Land mit einem Netze guter Straßen durchzogen, wie es in allen prosperirenden Reichen der Fall ist, so würde, außer dem unermeßlichen directen Vortheil der Sache, auch die nächste Folge davon seyn, daß die Hälfte so vieler andern gewünschten Reformen so zu sagen wie von selbst, und ohne alle schädliche Reibung eintreten müßte. Darauf also hinzuarbeiten, das Wenige, was hieran hindert, zu beseitigen, und dann rasch zum Werk zu schreiten, wäre gewiß das Dringendste und Wohlthätigste. (Fortsetzung folgt.) Wiener Briefe. (Beschluß.) Die Leistungen der Wiener Bühnen betreffend, so haben wir den Standpunkt der Localtheater bereits in unserm früheren Aufsatz angegeben; mehr über sie zu sagen, wäre nur bei einem besondern Anlaß nöthig, der sich im Interesse der Kunst eben nicht darbietet. Die deutsche Oper fährt fort, eine lobenswerthe Thätigkeit zu entwickeln, und namentlich hat die Vorstellung *) Als ein komisches Beispiel der wunderlichen Einfälle ungarischer Volksredner in ihrer Faconde kann folgender Zug dienen. Einer ihrer eifrigsten Motionssteller, der Advocat K....., machte zu gleicher Zeit in einer langen Rede die zwei nachstehenden Anträge: „Erstens von der Regierung unbedingte Rede- und Schreibfreiheit zu verlangen; zweitens darum anzusuchen, die Allgemeine Zeitung wegen ihrer gehässigen Gesinnung gegen Ungarn im Königreich gänzlich zu verbieten.“ Lauter Beifall erschallte, und erst als ein anderes Mitglied der Versammlung kalt bemerkte, daß es ihm doch gerathener schiene, beide Anträge wenigstens nicht Hand in Hand gehen zu lassen – zeigte ein allgemeines Gelächter, daß man die Inconsequenz des Redners erkannt hatte.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Deutsches Textarchiv: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-06-28T11:37:15Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: gekennzeichnet; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: Lautwert transkribiert; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: gekennzeichnet; Kustoden: gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: Lautwert transkribiert; Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert; Vollständigkeit: teilweise erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_054_18400223
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_054_18400223/10
Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 54. Augsburg, 23. Februar 1840, S. 0426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_054_18400223/10>, abgerufen am 01.05.2024.