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Allgemeine Zeitung. Nr. 21. Augsburg, 21. Januar 1840.

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Beilage zur Allgemeinen Zeitung
21 Januar 1840

Barthold Georg Niebuhrs Denkwürdigkeiten.

(Beschluß.)

Niebuhr nahm auf diese Reise etwas vom Gefühle Hume's mit, der, um seinen durch eine ungeleitete Erziehung in Unordnung gerathenen Geist ins Geleis zu bringen und seine Kräfte durch eine harmlose Einsamkeit zu stärken, unbekannt mehrere Jahre in Lafleche lebte, und dann zurückkam, ein ganz Anderer als der er ausgegangen war.1) Und auch der Erfolg war ein ähnlicher. Diese Reise bildete den Wendepunkt in seinem Leben: sie vermittelte seine Bestimmung zum Staatsmann. Zum Erstenmal gleichsam hatte er die Schwelle des engen Studierzimmers überschritten, schaute über Papiere und Acten hinaus in die großen Triebwerke einer mächtigen Nation. An der persönlichen Art der Engländer behagte ihm Manches nicht oder es führte ihn doch auf Parallelen mit den Deutschen, die für diese keineswegs nachtheilig ausfielen. Das Geistlose fast aller Unterhaltung fand er niederschlagend, die Formalitäten der Gesellschaftssprache einzwängend, in der Conversation wurde die deutsche Seuche, sich in Kannegießereien zu verlieren, nicht vermißt, desto widerlicher war der gänzliche Mangel an Philosophie, Begeisterung, erhabenem Ausdruck, die Beschränkung auf Gemeinplätze und Erzählung. Eine Zusammenkunft der Gesellschaft der Wissenschaften war ein Schmaus, sonst nichts, das Gespräch unter dem Alltäglichen einer Gesellschaft von Gelehrten in Deutschland. Befremdend war ihm auch die größere Achtung vor Namen und Autoritäten als vor der Selbstempfehlung durch Talente und Geist.2) Doch hatte er sich über seine Aufnahme nicht zu beschweren - auch ein Name, der Name seines Vaters, verschaffte ihm allenthalben Eingang. Aber da er gegen den Sommer 1798 nach London kam, so waren die meisten der angesehenen Personen, an die er Adressen hatte, entweder auf ihren Landhäusern oder verließen bald darauf die Stadt. Viele Empfehlungen gab er daher gar nicht ab, und sein Umgang mit Joseph Banks, Russell, dem Orientalisten Wilkins, dem Geographen Rennel, dem Historiker Dalrymple, dem Admiralitätssecretär Marsden, dem Capitän Bligh (den Byrons Eiland verewigt, Niebuhr nennt ihn eine herrliche Physiognomie), blieb in den Gränzen einer oberflächlichen Bekanntschaft. Was er an dem Betragen gegen Fremde lobte, war, daß, wie man in Deutschland zuvorkommender ist, sie eher lieb gewinnt und ihnen Freude zu machen sucht, die Engländer sich keine Mühe verdrießen lassen um zu dienen, übrigens es dem Andern anheimstellen für sein Vergnügen zu sorgen.3) Die Bibliotheken der Gesellschaft der Wissenschaften, von Banks und Dalrymple standen ihm offen: hier brachte er seine lehrreichsten Stunden zu. Die verwickelte Politik des Landes, Verfassung, Finanzwesen, Handel und Colonien, Einrichtungen und Privilegien der ostindischen Compagnie, englische Litteratur und Buchhandel, indische Alterthümer und Geschichte waren ein unerschöpfliches Feld.4) Zur Erholung des Abends ging er zu Schönborn, dem dänischen Legationssecretär, einem originellen Denker, mit dem er über alte und neue Philosophie, Mathematik und Naturlehre disputiren konnte, der ihm jedoch vorkam wie ein Geometer, der die Erde in Gedanken ausmißt, aber ihr Antlitz nicht kennt, oder er genoß bei Mallet du Pan die Annehmlichkeiten einer französischen Gesellschaft: pikante Anekdoten, elegante Manieren, aber keine Würde, keine Weisheit, nichts das Herz Anziehendes.5) An öffentlichen Vergnügungsorten trieb er sich nicht sehr herum, wenig dünkte ihn des Geldes werth und der Zeit. Er wallfahrtete nach Twickenham, wandelte unter den riesigen Bäumen in Pope's Garten, saß in seiner Grotte und schaute, in Erinnerung versunken, auf die Themse und ihre unvergleichlich schönen Ufer. In der Westminster-Abtei verweilte er mit Ehrfurcht und Dank vor der Büste manches großen Mannes, aber er verwunderte sich über das viele geschmacklose Zeug an diesen Wänden, über das unsinnig überladene Denkmal Chathams, über Miltons Denkmal mit der trockenen Erwähnung des Verherrlichten und dem langen Titel seines Verherrlichers, über die Pedanterie der Inschriften, da ein Vater seiner Tochter eine hebräische, ein anderer einer Frau eine äthiopische gesetzt hatte, über die Eitelkeit so vieler Namenlosen mitten unter den Zierden ihrer Nation, über die Vergeßlichkeit gegen Sidney und Russell.6) Sein liebstes Vergnügen war das Theater, zunächst die Komödie: er glaubte, daß jeder Hypochondrist, wenn er nicht zu dumm sey um Scherz zu kosten, durch sie von Grund aus müsse erheitert werden, auch daß kein Land reicher sey an Gegenständen, welche die Lachmuskeln reizen, denn Fratzen und Caricaturen seyen in jeder Ecke zu suchen.7) Im Herbst begab er sich nach Edinburg: ein Jahrescurs in dem brittischen Athen sollte ihm einige Lücken in den Naturwissenschaften ausfüllen. Er fand die Universität nicht unter seiner Erwartung: die Professoren Männer von tiefen Einsichten, mit musterhaftem Vortrag, in Hope, Playfair, Robinson, Coventry, Lehrer der Chemie, der Physik und Astronomie, der Landwirthschaft, die er sich kaum besser wünschte, bei Francis Scott, einem Bekannten Carstens von Bombay her, liebevollen Familienumgang. Schottland gefiel ihm nicht übel; die Zahl kraftvoller, denkender Menschen schien größer als irgendwo, das Land war romantisch schön und hoch cultivirt, das Leben unglaublich wohlfeil und nicht unter dem Modezwang wie in England; freilich hatte das Volk auch nicht die englische Nettigkeit.8) Das Anschließen wurde dem Ausländer leichter: er machte mit Playfair mineralogische Spaziergänge, Coventry führte ihn auf seinem Landgut und bei benachbarten Pächtern und Grundherren ein, er traf biedere Sitten, einfache Herzlichkeit und Gastfreundschaft.9) Gleichwohl entbehrte er auch in Schottland jene Anregungen eines idealeren Strebens, das dem deutschen Gemüth Bedürfniß ist. Die Kirchlichkeit war kalte Formalität ohne tiefern Einfluß auf Gesinnung und Handlung.10) In den Familienbeziehungen war weniger Innigkeit, der Umgang zwischen jungen Leuten von beiden Geschlechtern steif oder, wo mehr Freiheit war, bestand er in muthwilligem Schäkern, Tanzen und Jubeln, zwar mit strenger Einhaltung der Gränzen des Schicklichen, aber wenige Männer schienen einen Begriff zu haben, daß man den Frauen mehr schuldig

1) Briefe von 1797, Bd. 1. S. 100.
2) Briefe aus England von 1798, Bd. 1. S. 180, 182, 200.
3) A. a. O. S. 179.
4) Studienplan in einem Tagebuch, Bd. 1., S. 166.
5) Briefe aus London, Bd. 1, S. 182, 187, 195.
6) A. a. O. S. 186, 194.
7) A. a. O. S. 191, 193.
8) Briefe aus Schottland von 1798, Bd. 1. S. 201-212.
9) Briefe aus Schottland von 1799, Bd. 1. S. 243 ff.
10) A. a. O. S. 235.

Beilage zur Allgemeinen Zeitung
21 Januar 1840

Barthold Georg Niebuhrs Denkwürdigkeiten.

(Beschluß.)

Niebuhr nahm auf diese Reise etwas vom Gefühle Hume's mit, der, um seinen durch eine ungeleitete Erziehung in Unordnung gerathenen Geist ins Geleis zu bringen und seine Kräfte durch eine harmlose Einsamkeit zu stärken, unbekannt mehrere Jahre in Laflêche lebte, und dann zurückkam, ein ganz Anderer als der er ausgegangen war.1) Und auch der Erfolg war ein ähnlicher. Diese Reise bildete den Wendepunkt in seinem Leben: sie vermittelte seine Bestimmung zum Staatsmann. Zum Erstenmal gleichsam hatte er die Schwelle des engen Studierzimmers überschritten, schaute über Papiere und Acten hinaus in die großen Triebwerke einer mächtigen Nation. An der persönlichen Art der Engländer behagte ihm Manches nicht oder es führte ihn doch auf Parallelen mit den Deutschen, die für diese keineswegs nachtheilig ausfielen. Das Geistlose fast aller Unterhaltung fand er niederschlagend, die Formalitäten der Gesellschaftssprache einzwängend, in der Conversation wurde die deutsche Seuche, sich in Kannegießereien zu verlieren, nicht vermißt, desto widerlicher war der gänzliche Mangel an Philosophie, Begeisterung, erhabenem Ausdruck, die Beschränkung auf Gemeinplätze und Erzählung. Eine Zusammenkunft der Gesellschaft der Wissenschaften war ein Schmaus, sonst nichts, das Gespräch unter dem Alltäglichen einer Gesellschaft von Gelehrten in Deutschland. Befremdend war ihm auch die größere Achtung vor Namen und Autoritäten als vor der Selbstempfehlung durch Talente und Geist.2) Doch hatte er sich über seine Aufnahme nicht zu beschweren – auch ein Name, der Name seines Vaters, verschaffte ihm allenthalben Eingang. Aber da er gegen den Sommer 1798 nach London kam, so waren die meisten der angesehenen Personen, an die er Adressen hatte, entweder auf ihren Landhäusern oder verließen bald darauf die Stadt. Viele Empfehlungen gab er daher gar nicht ab, und sein Umgang mit Joseph Banks, Russell, dem Orientalisten Wilkins, dem Geographen Rennel, dem Historiker Dalrymple, dem Admiralitätssecretär Marsden, dem Capitän Bligh (den Byrons Eiland verewigt, Niebuhr nennt ihn eine herrliche Physiognomie), blieb in den Gränzen einer oberflächlichen Bekanntschaft. Was er an dem Betragen gegen Fremde lobte, war, daß, wie man in Deutschland zuvorkommender ist, sie eher lieb gewinnt und ihnen Freude zu machen sucht, die Engländer sich keine Mühe verdrießen lassen um zu dienen, übrigens es dem Andern anheimstellen für sein Vergnügen zu sorgen.3) Die Bibliotheken der Gesellschaft der Wissenschaften, von Banks und Dalrymple standen ihm offen: hier brachte er seine lehrreichsten Stunden zu. Die verwickelte Politik des Landes, Verfassung, Finanzwesen, Handel und Colonien, Einrichtungen und Privilegien der ostindischen Compagnie, englische Litteratur und Buchhandel, indische Alterthümer und Geschichte waren ein unerschöpfliches Feld.4) Zur Erholung des Abends ging er zu Schönborn, dem dänischen Legationssecretär, einem originellen Denker, mit dem er über alte und neue Philosophie, Mathematik und Naturlehre disputiren konnte, der ihm jedoch vorkam wie ein Geometer, der die Erde in Gedanken ausmißt, aber ihr Antlitz nicht kennt, oder er genoß bei Mallet du Pan die Annehmlichkeiten einer französischen Gesellschaft: pikante Anekdoten, elegante Manieren, aber keine Würde, keine Weisheit, nichts das Herz Anziehendes.5) An öffentlichen Vergnügungsorten trieb er sich nicht sehr herum, wenig dünkte ihn des Geldes werth und der Zeit. Er wallfahrtete nach Twickenham, wandelte unter den riesigen Bäumen in Pope's Garten, saß in seiner Grotte und schaute, in Erinnerung versunken, auf die Themse und ihre unvergleichlich schönen Ufer. In der Westminster-Abtei verweilte er mit Ehrfurcht und Dank vor der Büste manches großen Mannes, aber er verwunderte sich über das viele geschmacklose Zeug an diesen Wänden, über das unsinnig überladene Denkmal Chathams, über Miltons Denkmal mit der trockenen Erwähnung des Verherrlichten und dem langen Titel seines Verherrlichers, über die Pedanterie der Inschriften, da ein Vater seiner Tochter eine hebräische, ein anderer einer Frau eine äthiopische gesetzt hatte, über die Eitelkeit so vieler Namenlosen mitten unter den Zierden ihrer Nation, über die Vergeßlichkeit gegen Sidney und Russell.6) Sein liebstes Vergnügen war das Theater, zunächst die Komödie: er glaubte, daß jeder Hypochondrist, wenn er nicht zu dumm sey um Scherz zu kosten, durch sie von Grund aus müsse erheitert werden, auch daß kein Land reicher sey an Gegenständen, welche die Lachmuskeln reizen, denn Fratzen und Caricaturen seyen in jeder Ecke zu suchen.7) Im Herbst begab er sich nach Edinburg: ein Jahrescurs in dem brittischen Athen sollte ihm einige Lücken in den Naturwissenschaften ausfüllen. Er fand die Universität nicht unter seiner Erwartung: die Professoren Männer von tiefen Einsichten, mit musterhaftem Vortrag, in Hope, Playfair, Robinson, Coventry, Lehrer der Chemie, der Physik und Astronomie, der Landwirthschaft, die er sich kaum besser wünschte, bei Francis Scott, einem Bekannten Carstens von Bombay her, liebevollen Familienumgang. Schottland gefiel ihm nicht übel; die Zahl kraftvoller, denkender Menschen schien größer als irgendwo, das Land war romantisch schön und hoch cultivirt, das Leben unglaublich wohlfeil und nicht unter dem Modezwang wie in England; freilich hatte das Volk auch nicht die englische Nettigkeit.8) Das Anschließen wurde dem Ausländer leichter: er machte mit Playfair mineralogische Spaziergänge, Coventry führte ihn auf seinem Landgut und bei benachbarten Pächtern und Grundherren ein, er traf biedere Sitten, einfache Herzlichkeit und Gastfreundschaft.9) Gleichwohl entbehrte er auch in Schottland jene Anregungen eines idealeren Strebens, das dem deutschen Gemüth Bedürfniß ist. Die Kirchlichkeit war kalte Formalität ohne tiefern Einfluß auf Gesinnung und Handlung.10) In den Familienbeziehungen war weniger Innigkeit, der Umgang zwischen jungen Leuten von beiden Geschlechtern steif oder, wo mehr Freiheit war, bestand er in muthwilligem Schäkern, Tanzen und Jubeln, zwar mit strenger Einhaltung der Gränzen des Schicklichen, aber wenige Männer schienen einen Begriff zu haben, daß man den Frauen mehr schuldig

1) Briefe von 1797, Bd. 1. S. 100.
2) Briefe aus England von 1798, Bd. 1. S. 180, 182, 200.
3) A. a. O. S. 179.
4) Studienplan in einem Tagebuch, Bd. 1., S. 166.
5) Briefe aus London, Bd. 1, S. 182, 187, 195.
6) A. a. O. S. 186, 194.
7) A. a. O. S. 191, 193.
8) Briefe aus Schottland von 1798, Bd. 1. S. 201-212.
9) Briefe aus Schottland von 1799, Bd. 1. S. 243 ff.
10) A. a. O. S. 235.
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Das Geistlose fast aller Unterhaltung fand er niederschlagend, die Formalitäten der Gesellschaftssprache einzwängend, in der Conversation wurde die deutsche Seuche, sich in Kannegießereien zu verlieren, nicht vermißt, desto widerlicher war der gänzliche Mangel an Philosophie, Begeisterung, erhabenem Ausdruck, die Beschränkung auf Gemeinplätze und Erzählung. Eine Zusammenkunft der <hi rendition="#g">Gesellschaft der Wissenschaften</hi> war ein Schmaus, sonst nichts, das Gespräch <hi rendition="#g">unter</hi> dem Alltäglichen einer Gesellschaft von Gelehrten in <hi rendition="#g">Deutschland</hi>. Befremdend war ihm auch die größere Achtung vor Namen und Autoritäten als vor der Selbstempfehlung durch Talente und Geist.<note place="foot" n="2)">Briefe aus <hi rendition="#g">England</hi> von 1798, Bd. 1. S. 180, 182, 200.</note> Doch hatte er sich über seine Aufnahme nicht zu beschweren &#x2013; auch ein Name, der Name seines Vaters, verschaffte ihm allenthalben Eingang. 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[0161/0009] Beilage zur Allgemeinen Zeitung 21 Januar 1840 Barthold Georg Niebuhrs Denkwürdigkeiten. (Beschluß.) Niebuhr nahm auf diese Reise etwas vom Gefühle Hume's mit, der, um seinen durch eine ungeleitete Erziehung in Unordnung gerathenen Geist ins Geleis zu bringen und seine Kräfte durch eine harmlose Einsamkeit zu stärken, unbekannt mehrere Jahre in Laflêche lebte, und dann zurückkam, ein ganz Anderer als der er ausgegangen war. 1) Und auch der Erfolg war ein ähnlicher. Diese Reise bildete den Wendepunkt in seinem Leben: sie vermittelte seine Bestimmung zum Staatsmann. Zum Erstenmal gleichsam hatte er die Schwelle des engen Studierzimmers überschritten, schaute über Papiere und Acten hinaus in die großen Triebwerke einer mächtigen Nation. An der persönlichen Art der Engländer behagte ihm Manches nicht oder es führte ihn doch auf Parallelen mit den Deutschen, die für diese keineswegs nachtheilig ausfielen. Das Geistlose fast aller Unterhaltung fand er niederschlagend, die Formalitäten der Gesellschaftssprache einzwängend, in der Conversation wurde die deutsche Seuche, sich in Kannegießereien zu verlieren, nicht vermißt, desto widerlicher war der gänzliche Mangel an Philosophie, Begeisterung, erhabenem Ausdruck, die Beschränkung auf Gemeinplätze und Erzählung. Eine Zusammenkunft der Gesellschaft der Wissenschaften war ein Schmaus, sonst nichts, das Gespräch unter dem Alltäglichen einer Gesellschaft von Gelehrten in Deutschland. Befremdend war ihm auch die größere Achtung vor Namen und Autoritäten als vor der Selbstempfehlung durch Talente und Geist. 2) Doch hatte er sich über seine Aufnahme nicht zu beschweren – auch ein Name, der Name seines Vaters, verschaffte ihm allenthalben Eingang. Aber da er gegen den Sommer 1798 nach London kam, so waren die meisten der angesehenen Personen, an die er Adressen hatte, entweder auf ihren Landhäusern oder verließen bald darauf die Stadt. Viele Empfehlungen gab er daher gar nicht ab, und sein Umgang mit Joseph Banks, Russell, dem Orientalisten Wilkins, dem Geographen Rennel, dem Historiker Dalrymple, dem Admiralitätssecretär Marsden, dem Capitän Bligh (den Byrons Eiland verewigt, Niebuhr nennt ihn eine herrliche Physiognomie), blieb in den Gränzen einer oberflächlichen Bekanntschaft. Was er an dem Betragen gegen Fremde lobte, war, daß, wie man in Deutschland zuvorkommender ist, sie eher lieb gewinnt und ihnen Freude zu machen sucht, die Engländer sich keine Mühe verdrießen lassen um zu dienen, übrigens es dem Andern anheimstellen für sein Vergnügen zu sorgen. 3) Die Bibliotheken der Gesellschaft der Wissenschaften, von Banks und Dalrymple standen ihm offen: hier brachte er seine lehrreichsten Stunden zu. 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Er wallfahrtete nach Twickenham, wandelte unter den riesigen Bäumen in Pope's Garten, saß in seiner Grotte und schaute, in Erinnerung versunken, auf die Themse und ihre unvergleichlich schönen Ufer. In der Westminster-Abtei verweilte er mit Ehrfurcht und Dank vor der Büste manches großen Mannes, aber er verwunderte sich über das viele geschmacklose Zeug an diesen Wänden, über das unsinnig überladene Denkmal Chathams, über Miltons Denkmal mit der trockenen Erwähnung des Verherrlichten und dem langen Titel seines Verherrlichers, über die Pedanterie der Inschriften, da ein Vater seiner Tochter eine hebräische, ein anderer einer Frau eine äthiopische gesetzt hatte, über die Eitelkeit so vieler Namenlosen mitten unter den Zierden ihrer Nation, über die Vergeßlichkeit gegen Sidney und Russell. 6) Sein liebstes Vergnügen war das Theater, zunächst die Komödie: er glaubte, daß jeder Hypochondrist, wenn er nicht zu dumm sey um Scherz zu kosten, durch sie von Grund aus müsse erheitert werden, auch daß kein Land reicher sey an Gegenständen, welche die Lachmuskeln reizen, denn Fratzen und Caricaturen seyen in jeder Ecke zu suchen. 7) Im Herbst begab er sich nach Edinburg: ein Jahrescurs in dem brittischen Athen sollte ihm einige Lücken in den Naturwissenschaften ausfüllen. Er fand die Universität nicht unter seiner Erwartung: die Professoren Männer von tiefen Einsichten, mit musterhaftem Vortrag, in Hope, Playfair, Robinson, Coventry, Lehrer der Chemie, der Physik und Astronomie, der Landwirthschaft, die er sich kaum besser wünschte, bei Francis Scott, einem Bekannten Carstens von Bombay her, liebevollen Familienumgang. Schottland gefiel ihm nicht übel; die Zahl kraftvoller, denkender Menschen schien größer als irgendwo, das Land war romantisch schön und hoch cultivirt, das Leben unglaublich wohlfeil und nicht unter dem Modezwang wie in England; freilich hatte das Volk auch nicht die englische Nettigkeit. 8) Das Anschließen wurde dem Ausländer leichter: er machte mit Playfair mineralogische Spaziergänge, Coventry führte ihn auf seinem Landgut und bei benachbarten Pächtern und Grundherren ein, er traf biedere Sitten, einfache Herzlichkeit und Gastfreundschaft. 9) Gleichwohl entbehrte er auch in Schottland jene Anregungen eines idealeren Strebens, das dem deutschen Gemüth Bedürfniß ist. Die Kirchlichkeit war kalte Formalität ohne tiefern Einfluß auf Gesinnung und Handlung. 10) In den Familienbeziehungen war weniger Innigkeit, der Umgang zwischen jungen Leuten von beiden Geschlechtern steif oder, wo mehr Freiheit war, bestand er in muthwilligem Schäkern, Tanzen und Jubeln, zwar mit strenger Einhaltung der Gränzen des Schicklichen, aber wenige Männer schienen einen Begriff zu haben, daß man den Frauen mehr schuldig 1) Briefe von 1797, Bd. 1. S. 100. 2) Briefe aus England von 1798, Bd. 1. S. 180, 182, 200. 3) A. a. O. S. 179. 4) Studienplan in einem Tagebuch, Bd. 1., S. 166. 5) Briefe aus London, Bd. 1, S. 182, 187, 195. 6) A. a. O. S. 186, 194. 7) A. a. O. S. 191, 193. 8) Briefe aus Schottland von 1798, Bd. 1. S. 201-212. 9) Briefe aus Schottland von 1799, Bd. 1. S. 243 ff. 10) A. a. O. S. 235.

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Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-06-28T11:37:15Z)

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 21. Augsburg, 21. Januar 1840, S. 0161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_021_18400121/9>, abgerufen am 23.11.2024.