Auerbach, Berthold: Die Geschichte des Diethelm von Buchenberg. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 45–268. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.neun Kindern am Leben geblieben. Als der kleine Munde so verspätet und plötzlich geboren wurde, verließ Medard unter Verwünschungen das väterliche Haus und betrat sechs volle Jahre dessen Schwelle nicht mehr. Es war nicht Aerger wegen des Erbes -- da war ja nichts zu theilen -- aber Medard schämte und ärgerte sich über den nachgebornen Sohn, daß er von seinen Eltern gar nichts mehr wissen wollte; er verdingte sich weit weg und kam erst nach sechs Jahren wieder, als er aus dem Zuchthause entlassen wurde, wo er wegen einer Rauferei, in der er einen Nebenbuhler erschlagen hatte, fünf Jahre gebüßt hatte. Es war ihm nun doch nichts übrig geblieben, als in das elterliche Haus zurückzukehren. Als er zum ersten Male wieder in des Vaters Stube trat -- die Mutter war schon seit sechs Jahren gestorben und, wie der Vater sagte, an den Folgen der Verheimlichung ihrer Schwangerschaft, die sie vor dem erwachsenen Sohne verbergen wollte -- da war's, als ob der kleine Munde es dem Bruder wie mit Zauber angethan hätte, er umklammerte gleich beim Eintreten seine Füße und Medard ließ den schon ziemlich großen Bengel oft Stunden lang nicht vom Arm herunter und tollte mit ihm wie närrisch umher, die ganze verhaltene Bruderliebe schien auf Einmal sich zu entfalten und eine Sühne für seine früher verübte Härte zu Tage zu fördern. Diethelm that gerade um diese Zeit eine großartige Schäferei auf, und auf die Bitten des alten Schäferle und die Zureden seiner Frau nahm er den Medard in Dienst, der nun von Georgi bis Michaeli im freien Felde war und stets den Munde bei sich hatte und ihn mit einer Sorgfalt ohne Grenzen wartete und pflegte. Der alte Schäferle überließ ihm gerne das Kind; er war mit Allem zufrieden, wenn er nur hinlänglich Tabak hatte, um seine Holzpfeife in beständigem Brand zu erhalten. Medard versorgte ihn jetzt mit Tabak, während er sonst oft hatte dürre Nußblätter rauchen müssen. Wenn Medard manchmal dachte, daß ihm das Kind neun Kindern am Leben geblieben. Als der kleine Munde so verspätet und plötzlich geboren wurde, verließ Medard unter Verwünschungen das väterliche Haus und betrat sechs volle Jahre dessen Schwelle nicht mehr. Es war nicht Aerger wegen des Erbes — da war ja nichts zu theilen — aber Medard schämte und ärgerte sich über den nachgebornen Sohn, daß er von seinen Eltern gar nichts mehr wissen wollte; er verdingte sich weit weg und kam erst nach sechs Jahren wieder, als er aus dem Zuchthause entlassen wurde, wo er wegen einer Rauferei, in der er einen Nebenbuhler erschlagen hatte, fünf Jahre gebüßt hatte. Es war ihm nun doch nichts übrig geblieben, als in das elterliche Haus zurückzukehren. Als er zum ersten Male wieder in des Vaters Stube trat — die Mutter war schon seit sechs Jahren gestorben und, wie der Vater sagte, an den Folgen der Verheimlichung ihrer Schwangerschaft, die sie vor dem erwachsenen Sohne verbergen wollte — da war's, als ob der kleine Munde es dem Bruder wie mit Zauber angethan hätte, er umklammerte gleich beim Eintreten seine Füße und Medard ließ den schon ziemlich großen Bengel oft Stunden lang nicht vom Arm herunter und tollte mit ihm wie närrisch umher, die ganze verhaltene Bruderliebe schien auf Einmal sich zu entfalten und eine Sühne für seine früher verübte Härte zu Tage zu fördern. Diethelm that gerade um diese Zeit eine großartige Schäferei auf, und auf die Bitten des alten Schäferle und die Zureden seiner Frau nahm er den Medard in Dienst, der nun von Georgi bis Michaeli im freien Felde war und stets den Munde bei sich hatte und ihn mit einer Sorgfalt ohne Grenzen wartete und pflegte. Der alte Schäferle überließ ihm gerne das Kind; er war mit Allem zufrieden, wenn er nur hinlänglich Tabak hatte, um seine Holzpfeife in beständigem Brand zu erhalten. Medard versorgte ihn jetzt mit Tabak, während er sonst oft hatte dürre Nußblätter rauchen müssen. Wenn Medard manchmal dachte, daß ihm das Kind <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="4"> <p><pb facs="#f0028"/> neun Kindern am Leben geblieben. Als der kleine Munde so verspätet und plötzlich geboren wurde, verließ Medard unter Verwünschungen das väterliche Haus und betrat sechs volle Jahre dessen Schwelle nicht mehr. Es war nicht Aerger wegen des Erbes — da war ja nichts zu theilen — aber Medard schämte und ärgerte sich über den nachgebornen Sohn, daß er von seinen Eltern gar nichts mehr wissen wollte; er verdingte sich weit weg und kam erst nach sechs Jahren wieder, als er aus dem Zuchthause entlassen wurde, wo er wegen einer Rauferei, in der er einen Nebenbuhler erschlagen hatte, fünf Jahre gebüßt hatte. Es war ihm nun doch nichts übrig geblieben, als in das elterliche Haus zurückzukehren. Als er zum ersten Male wieder in des Vaters Stube trat — die Mutter war schon seit sechs Jahren gestorben und, wie der Vater sagte, an den Folgen der Verheimlichung ihrer Schwangerschaft, die sie vor dem erwachsenen Sohne verbergen wollte — da war's, als ob der kleine Munde es dem Bruder wie mit Zauber angethan hätte, er umklammerte gleich beim Eintreten seine Füße und Medard ließ den schon ziemlich großen Bengel oft Stunden lang nicht vom Arm herunter und tollte mit ihm wie närrisch umher, die ganze verhaltene Bruderliebe schien auf Einmal sich zu entfalten und eine Sühne für seine früher verübte Härte zu Tage zu fördern.</p><lb/> <p>Diethelm that gerade um diese Zeit eine großartige Schäferei auf, und auf die Bitten des alten Schäferle und die Zureden seiner Frau nahm er den Medard in Dienst, der nun von Georgi bis Michaeli im freien Felde war und stets den Munde bei sich hatte und ihn mit einer Sorgfalt ohne Grenzen wartete und pflegte. Der alte Schäferle überließ ihm gerne das Kind; er war mit Allem zufrieden, wenn er nur hinlänglich Tabak hatte, um seine Holzpfeife in beständigem Brand zu erhalten. Medard versorgte ihn jetzt mit Tabak, während er sonst oft hatte dürre Nußblätter rauchen müssen.</p><lb/> <p>Wenn Medard manchmal dachte, daß ihm das Kind<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0028]
neun Kindern am Leben geblieben. Als der kleine Munde so verspätet und plötzlich geboren wurde, verließ Medard unter Verwünschungen das väterliche Haus und betrat sechs volle Jahre dessen Schwelle nicht mehr. Es war nicht Aerger wegen des Erbes — da war ja nichts zu theilen — aber Medard schämte und ärgerte sich über den nachgebornen Sohn, daß er von seinen Eltern gar nichts mehr wissen wollte; er verdingte sich weit weg und kam erst nach sechs Jahren wieder, als er aus dem Zuchthause entlassen wurde, wo er wegen einer Rauferei, in der er einen Nebenbuhler erschlagen hatte, fünf Jahre gebüßt hatte. Es war ihm nun doch nichts übrig geblieben, als in das elterliche Haus zurückzukehren. Als er zum ersten Male wieder in des Vaters Stube trat — die Mutter war schon seit sechs Jahren gestorben und, wie der Vater sagte, an den Folgen der Verheimlichung ihrer Schwangerschaft, die sie vor dem erwachsenen Sohne verbergen wollte — da war's, als ob der kleine Munde es dem Bruder wie mit Zauber angethan hätte, er umklammerte gleich beim Eintreten seine Füße und Medard ließ den schon ziemlich großen Bengel oft Stunden lang nicht vom Arm herunter und tollte mit ihm wie närrisch umher, die ganze verhaltene Bruderliebe schien auf Einmal sich zu entfalten und eine Sühne für seine früher verübte Härte zu Tage zu fördern.
Diethelm that gerade um diese Zeit eine großartige Schäferei auf, und auf die Bitten des alten Schäferle und die Zureden seiner Frau nahm er den Medard in Dienst, der nun von Georgi bis Michaeli im freien Felde war und stets den Munde bei sich hatte und ihn mit einer Sorgfalt ohne Grenzen wartete und pflegte. Der alte Schäferle überließ ihm gerne das Kind; er war mit Allem zufrieden, wenn er nur hinlänglich Tabak hatte, um seine Holzpfeife in beständigem Brand zu erhalten. Medard versorgte ihn jetzt mit Tabak, während er sonst oft hatte dürre Nußblätter rauchen müssen.
Wenn Medard manchmal dachte, daß ihm das Kind
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Zitationshilfe: | Auerbach, Berthold: Die Geschichte des Diethelm von Buchenberg. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 45–268. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/auerbach_diethelm_1910/28>, abgerufen am 26.07.2024. |