Auerbach, Berthold: Die Geschichte des Diethelm von Buchenberg. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 45–268. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.kämpfende Menschen hin- und herrennen, Weiber grillten, wie sie unversehens in eine tiefe Schneewehe traten, Kinder jauchzten, Männer schrieen; man lief nach den Nachbarhäusern zu Vettern und Verwandten, als müßte man sich vergewissern, daß der Weg dahin noch offen sei, und Vorsorgliche eilten zu dem Krämer, um sich Salz zu holen, denn es hatte sich das Gerücht verbreitet, daß der Salzvorrath bald erschöpft sei, und man lange keines von außen bekommen könne. Vor allen Häusern wurde geschaufelt und Eis gehackt und mancher Scherz dabei verübt und die Kinder thaten überall mit, denn in der allgemeinen Aufregung war ein glücklicher schulfreier Tag. In das verschlossene, lautlose Winterleben des Dorfes war plötzlich ein buntes, lärmendes Straßentreiben gekommen, in dem das damit verbundene Ungemach fast vergessen schien; der Wirrwarr hatte seinen eigenen Reiz, und die Erwachsenen sind auch oft wie die Kinder, denen nichts lieber ist, als eine tummelfreie Umkehr der gewohnten Ordnung. Das meiste Leben war bei dem Bahnschlitten. Dieses noch aus dem Urzustande herstammende Werkzeug, aus starken, in einen spitzen Winkel gefugten Borden bestehend, einem in der Mitte zertheilten Schiffe gleichend, dessen Kiel mit Eisen beschlagen, wurde mit sechs Pferden bespannt, und mindestens dreißig Mann stellten sich als Beschwerungslast auf denselben, johlten und schrieen. Diethelm sah all dem Treiben mit unnennbarer Seelenangst zu. Das Herz im Leibe drückte ihn wie ein Stein, bald schlug es ihm wie Flammen zum Gesicht heraus, bald überrieselte es ihn eiskalt; den Schmerz am Arme spürte er kaum mehr. Am Bahnschlitten hörte er mehrmals den Namen Medard's nennen, der sonst immer bei dieser Ausfuhr gewesen war und sich heute nicht sehen ließ. Diethelm sagte, der Medard müsse daheim bleiben, da er verreise. Endlich fuhr das schwere Gefährt das Dorf hinaus, und es trat eine Weile Stille ein. Diethelm kehrte in das Waldhorn zurück. Der Vetter war froh, daß sich die Reise noch ver- kämpfende Menschen hin- und herrennen, Weiber grillten, wie sie unversehens in eine tiefe Schneewehe traten, Kinder jauchzten, Männer schrieen; man lief nach den Nachbarhäusern zu Vettern und Verwandten, als müßte man sich vergewissern, daß der Weg dahin noch offen sei, und Vorsorgliche eilten zu dem Krämer, um sich Salz zu holen, denn es hatte sich das Gerücht verbreitet, daß der Salzvorrath bald erschöpft sei, und man lange keines von außen bekommen könne. Vor allen Häusern wurde geschaufelt und Eis gehackt und mancher Scherz dabei verübt und die Kinder thaten überall mit, denn in der allgemeinen Aufregung war ein glücklicher schulfreier Tag. In das verschlossene, lautlose Winterleben des Dorfes war plötzlich ein buntes, lärmendes Straßentreiben gekommen, in dem das damit verbundene Ungemach fast vergessen schien; der Wirrwarr hatte seinen eigenen Reiz, und die Erwachsenen sind auch oft wie die Kinder, denen nichts lieber ist, als eine tummelfreie Umkehr der gewohnten Ordnung. Das meiste Leben war bei dem Bahnschlitten. Dieses noch aus dem Urzustande herstammende Werkzeug, aus starken, in einen spitzen Winkel gefugten Borden bestehend, einem in der Mitte zertheilten Schiffe gleichend, dessen Kiel mit Eisen beschlagen, wurde mit sechs Pferden bespannt, und mindestens dreißig Mann stellten sich als Beschwerungslast auf denselben, johlten und schrieen. Diethelm sah all dem Treiben mit unnennbarer Seelenangst zu. Das Herz im Leibe drückte ihn wie ein Stein, bald schlug es ihm wie Flammen zum Gesicht heraus, bald überrieselte es ihn eiskalt; den Schmerz am Arme spürte er kaum mehr. Am Bahnschlitten hörte er mehrmals den Namen Medard's nennen, der sonst immer bei dieser Ausfuhr gewesen war und sich heute nicht sehen ließ. Diethelm sagte, der Medard müsse daheim bleiben, da er verreise. Endlich fuhr das schwere Gefährt das Dorf hinaus, und es trat eine Weile Stille ein. Diethelm kehrte in das Waldhorn zurück. Der Vetter war froh, daß sich die Reise noch ver- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="15"> <p><pb facs="#f0105"/> kämpfende Menschen hin- und herrennen, Weiber grillten, wie sie unversehens in eine tiefe Schneewehe traten, Kinder jauchzten, Männer schrieen; man lief nach den Nachbarhäusern zu Vettern und Verwandten, als müßte man sich vergewissern, daß der Weg dahin noch offen sei, und Vorsorgliche eilten zu dem Krämer, um sich Salz zu holen, denn es hatte sich das Gerücht verbreitet, daß der Salzvorrath bald erschöpft sei, und man lange keines von außen bekommen könne. Vor allen Häusern wurde geschaufelt und Eis gehackt und mancher Scherz dabei verübt und die Kinder thaten überall mit, denn in der allgemeinen Aufregung war ein glücklicher schulfreier Tag. In das verschlossene, lautlose Winterleben des Dorfes war plötzlich ein buntes, lärmendes Straßentreiben gekommen, in dem das damit verbundene Ungemach fast vergessen schien; der Wirrwarr hatte seinen eigenen Reiz, und die Erwachsenen sind auch oft wie die Kinder, denen nichts lieber ist, als eine tummelfreie Umkehr der gewohnten Ordnung.</p><lb/> <p>Das meiste Leben war bei dem Bahnschlitten. Dieses noch aus dem Urzustande herstammende Werkzeug, aus starken, in einen spitzen Winkel gefugten Borden bestehend, einem in der Mitte zertheilten Schiffe gleichend, dessen Kiel mit Eisen beschlagen, wurde mit sechs Pferden bespannt, und mindestens dreißig Mann stellten sich als Beschwerungslast auf denselben, johlten und schrieen.</p><lb/> <p>Diethelm sah all dem Treiben mit unnennbarer Seelenangst zu. Das Herz im Leibe drückte ihn wie ein Stein, bald schlug es ihm wie Flammen zum Gesicht heraus, bald überrieselte es ihn eiskalt; den Schmerz am Arme spürte er kaum mehr. Am Bahnschlitten hörte er mehrmals den Namen Medard's nennen, der sonst immer bei dieser Ausfuhr gewesen war und sich heute nicht sehen ließ. Diethelm sagte, der Medard müsse daheim bleiben, da er verreise. Endlich fuhr das schwere Gefährt das Dorf hinaus, und es trat eine Weile Stille ein. Diethelm kehrte in das Waldhorn zurück. Der Vetter war froh, daß sich die Reise noch ver-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0105]
kämpfende Menschen hin- und herrennen, Weiber grillten, wie sie unversehens in eine tiefe Schneewehe traten, Kinder jauchzten, Männer schrieen; man lief nach den Nachbarhäusern zu Vettern und Verwandten, als müßte man sich vergewissern, daß der Weg dahin noch offen sei, und Vorsorgliche eilten zu dem Krämer, um sich Salz zu holen, denn es hatte sich das Gerücht verbreitet, daß der Salzvorrath bald erschöpft sei, und man lange keines von außen bekommen könne. Vor allen Häusern wurde geschaufelt und Eis gehackt und mancher Scherz dabei verübt und die Kinder thaten überall mit, denn in der allgemeinen Aufregung war ein glücklicher schulfreier Tag. In das verschlossene, lautlose Winterleben des Dorfes war plötzlich ein buntes, lärmendes Straßentreiben gekommen, in dem das damit verbundene Ungemach fast vergessen schien; der Wirrwarr hatte seinen eigenen Reiz, und die Erwachsenen sind auch oft wie die Kinder, denen nichts lieber ist, als eine tummelfreie Umkehr der gewohnten Ordnung.
Das meiste Leben war bei dem Bahnschlitten. Dieses noch aus dem Urzustande herstammende Werkzeug, aus starken, in einen spitzen Winkel gefugten Borden bestehend, einem in der Mitte zertheilten Schiffe gleichend, dessen Kiel mit Eisen beschlagen, wurde mit sechs Pferden bespannt, und mindestens dreißig Mann stellten sich als Beschwerungslast auf denselben, johlten und schrieen.
Diethelm sah all dem Treiben mit unnennbarer Seelenangst zu. Das Herz im Leibe drückte ihn wie ein Stein, bald schlug es ihm wie Flammen zum Gesicht heraus, bald überrieselte es ihn eiskalt; den Schmerz am Arme spürte er kaum mehr. Am Bahnschlitten hörte er mehrmals den Namen Medard's nennen, der sonst immer bei dieser Ausfuhr gewesen war und sich heute nicht sehen ließ. Diethelm sagte, der Medard müsse daheim bleiben, da er verreise. Endlich fuhr das schwere Gefährt das Dorf hinaus, und es trat eine Weile Stille ein. Diethelm kehrte in das Waldhorn zurück. Der Vetter war froh, daß sich die Reise noch ver-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-14T13:04:01Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-14T13:04:01Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: nicht gekennzeichnet; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |