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Arnim, Bettina von: Die Günderode. Bd. 2. Grünberg u. a., 1840.

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Hütte von zwei Bettelkindern, wie traurig es sei daß
die nun die Mooshütte verlassen müßten um in den
stolzen Palast zu ziehen, und dann war mir bang er
könne die Gegend verstecken, und nichts deucht mir schö¬
ner als wenn die Natur, ihre Launen zärtlich durchflech¬
ten kann wo der Mensch etwas einrichtet; sollte das
nicht im Gefühl, im Gedanken auch sein? -- sollte
Poesie nicht so vertraut mit der Natur sein wie mit
der Schwester, und ihr auch einen Theil der Sorge
überlassen dürfen? -- so daß sie manchmal ihre gehei¬
ligten Gesetze ganz aufgäb aus Liebe zur Natur, und
alle sittlichen Fesseln sprengt und ihr sich in die Arme
stürzt voll heißem Drang ungehindert nur an ihrer
Brust zu athmen. Ich weiß wohl daß die Form der
schöne untadelhafte Leib ist der Poesie, in welchen der
Menschengeist sie erzeugt: aber sollte es denn nicht auch
eine unmittelbare Offenbarung der Poesie geben die
vielleicht tiefer schauerlicher ins Mark eindringt ohne
feste Grenzen der Form? -- die da schneller und na¬
türlicher in den Geist eingreift, vielleicht auch bewußtlo¬
ser, aber schaffend, erzeugend, wieder eine Geistesnatur?
-- Giebts nicht einen Moment in der Poesie wo der
Geist sich vergißt und dahin wallt wie der Quell dem
der Fels sich aufthut? daß der nun hinströmt im

Hütte von zwei Bettelkindern, wie traurig es ſei daß
die nun die Mooshütte verlaſſen müßten um in den
ſtolzen Palaſt zu ziehen, und dann war mir bang er
könne die Gegend verſtecken, und nichts deucht mir ſchö¬
ner als wenn die Natur, ihre Launen zärtlich durchflech¬
ten kann wo der Menſch etwas einrichtet; ſollte das
nicht im Gefühl, im Gedanken auch ſein? — ſollte
Poeſie nicht ſo vertraut mit der Natur ſein wie mit
der Schweſter, und ihr auch einen Theil der Sorge
überlaſſen dürfen? — ſo daß ſie manchmal ihre gehei¬
ligten Geſetze ganz aufgäb aus Liebe zur Natur, und
alle ſittlichen Feſſeln ſprengt und ihr ſich in die Arme
ſtürzt voll heißem Drang ungehindert nur an ihrer
Bruſt zu athmen. Ich weiß wohl daß die Form der
ſchöne untadelhafte Leib iſt der Poeſie, in welchen der
Menſchengeiſt ſie erzeugt: aber ſollte es denn nicht auch
eine unmittelbare Offenbarung der Poeſie geben die
vielleicht tiefer ſchauerlicher ins Mark eindringt ohne
feſte Grenzen der Form? — die da ſchneller und na¬
türlicher in den Geiſt eingreift, vielleicht auch bewußtlo¬
ſer, aber ſchaffend, erzeugend, wieder eine Geiſtesnatur?
— Giebts nicht einen Moment in der Poeſie wo der
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[90/0104] Hütte von zwei Bettelkindern, wie traurig es ſei daß die nun die Mooshütte verlaſſen müßten um in den ſtolzen Palaſt zu ziehen, und dann war mir bang er könne die Gegend verſtecken, und nichts deucht mir ſchö¬ ner als wenn die Natur, ihre Launen zärtlich durchflech¬ ten kann wo der Menſch etwas einrichtet; ſollte das nicht im Gefühl, im Gedanken auch ſein? — ſollte Poeſie nicht ſo vertraut mit der Natur ſein wie mit der Schweſter, und ihr auch einen Theil der Sorge überlaſſen dürfen? — ſo daß ſie manchmal ihre gehei¬ ligten Geſetze ganz aufgäb aus Liebe zur Natur, und alle ſittlichen Feſſeln ſprengt und ihr ſich in die Arme ſtürzt voll heißem Drang ungehindert nur an ihrer Bruſt zu athmen. Ich weiß wohl daß die Form der ſchöne untadelhafte Leib iſt der Poeſie, in welchen der Menſchengeiſt ſie erzeugt: aber ſollte es denn nicht auch eine unmittelbare Offenbarung der Poeſie geben die vielleicht tiefer ſchauerlicher ins Mark eindringt ohne feſte Grenzen der Form? — die da ſchneller und na¬ türlicher in den Geiſt eingreift, vielleicht auch bewußtlo¬ ſer, aber ſchaffend, erzeugend, wieder eine Geiſtesnatur? — Giebts nicht einen Moment in der Poeſie wo der Geiſt ſich vergißt und dahin wallt wie der Quell dem der Fels ſich aufthut? daß der nun hinſtrömt im

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Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Die Günderode. Bd. 2. Grünberg u. a., 1840, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_guenderode02_1840/104>, abgerufen am 24.11.2024.