doch schreitet er zu Dir heran durch die Vergangenheit, die eilt in die Zukunft hinüber sie zu befruchten; das ist Gegenwart, das eigentliche Leben; jeder Moment, der nicht von ihr durchdrungen in die Zukunft hinein¬ wächst, ist verlorne Zeit von der wir Rechenschaft zu geben haben. Rechenschaft ist nichts anders als Zurück¬ holen des Vergangenen, ein Mittel das Verlorne wieder einzubringen, denn mit dem Erkennen des Versäumten fällt der Thau auf den vernachlässigten Acker der Ver¬ gangenheit, und belebt die Keime noch in die Zukunft zu wachsen. -- Hast Du's nicht selbst letzten Herbst im Stiftsgarten gesagt, wie der Distelbusch an der Treppe, den wir im Frühling so viele Bienen und Hummeln hatten umschwärmen sehen, seine Samenflocken aus¬ streute: "Da führt der Wind, der Vergangenheit Sa¬ men in die Zukunft." Und auf der grünen Burg in der Nacht, wo wir vor dem Sturm nicht schlafen konnten, -- sagtest Du damals nicht, der Wind komme aus der Ferne, seine Stimme töne herüber aus der Vergangen¬ heit, und sein feines Pfeifen sei der Drang in die Zu¬ kunft hinüber zu eilen. -- Unter dem Vielen, was Du in jener Nacht schwäztest, lachtest, ja freveltest, hab ich dies behalten, und kann Dir nun auch zum Dessert mit Deinen eignen großen Rosinen aufwarten, deren Du so
doch ſchreitet er zu Dir heran durch die Vergangenheit, die eilt in die Zukunft hinüber ſie zu befruchten; das iſt Gegenwart, das eigentliche Leben; jeder Moment, der nicht von ihr durchdrungen in die Zukunft hinein¬ wächſt, iſt verlorne Zeit von der wir Rechenſchaft zu geben haben. Rechenſchaft iſt nichts anders als Zurück¬ holen des Vergangenen, ein Mittel das Verlorne wieder einzubringen, denn mit dem Erkennen des Verſäumten fällt der Thau auf den vernachläſſigten Acker der Ver¬ gangenheit, und belebt die Keime noch in die Zukunft zu wachſen. — Haſt Du's nicht ſelbſt letzten Herbſt im Stiftsgarten geſagt, wie der Diſtelbuſch an der Treppe, den wir im Frühling ſo viele Bienen und Hummeln hatten umſchwärmen ſehen, ſeine Samenflocken aus¬ ſtreute: „Da führt der Wind, der Vergangenheit Sa¬ men in die Zukunft.“ Und auf der grünen Burg in der Nacht, wo wir vor dem Sturm nicht ſchlafen konnten, — ſagteſt Du damals nicht, der Wind komme aus der Ferne, ſeine Stimme töne herüber aus der Vergangen¬ heit, und ſein feines Pfeifen ſei der Drang in die Zu¬ kunft hinüber zu eilen. — Unter dem Vielen, was Du in jener Nacht ſchwäzteſt, lachteſt, ja frevelteſt, hab ich dies behalten, und kann Dir nun auch zum Deſſert mit Deinen eignen großen Roſinen aufwarten, deren Du ſo
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doch ſchreitet er zu Dir heran durch die Vergangenheit,
die eilt in die Zukunft hinüber ſie zu befruchten; das
iſt Gegenwart, das eigentliche Leben; jeder Moment,
der nicht von ihr durchdrungen in die Zukunft hinein¬
wächſt, iſt verlorne Zeit von der wir Rechenſchaft zu
geben haben. Rechenſchaft iſt nichts anders als Zurück¬
holen des Vergangenen, ein Mittel das Verlorne wieder
einzubringen, denn mit dem Erkennen des Verſäumten
fällt der Thau auf den vernachläſſigten Acker der Ver¬
gangenheit, und belebt die Keime noch in die Zukunft
zu wachſen. — Haſt Du's nicht ſelbſt letzten Herbſt im
Stiftsgarten geſagt, wie der Diſtelbuſch an der Treppe,
den wir im Frühling ſo viele Bienen und Hummeln
hatten umſchwärmen ſehen, ſeine Samenflocken aus¬
ſtreute: „Da führt der Wind, der Vergangenheit Sa¬
men in die Zukunft.“ Und auf der grünen Burg in der
Nacht, wo wir vor dem Sturm nicht ſchlafen konnten, —
ſagteſt Du damals nicht, der Wind komme aus der
Ferne, ſeine Stimme töne herüber aus der Vergangen¬
heit, und ſein feines Pfeifen ſei der Drang in die Zu¬
kunft hinüber zu eilen. — Unter dem Vielen, was Du
in jener Nacht ſchwäzteſt, lachteſt, ja frevelteſt, hab ich
dies behalten, und kann Dir nun auch zum Deſſert mit
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Arnim, Bettina von: Die Günderode. Bd. 1. Grünberg u. a., 1840, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_guenderode01_1840/195>, abgerufen am 24.11.2024.
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