den reinen Thau, den die tragische Muse aus ihrer Urne sprengt, um den Staub der Gemeinheit zu däm- pfen, indem ich in tiefer, bewußtloser Betrachtung über ihn versunken war. -- Es war in seinem zwanzigsten Jahr, im tollen, glühenden Übermuth der Jugend, im Gefühl seiner überwiegenden Schönheit, und im gehei- men Bewußtsein alles dessen, was dieser zu Gebot stand, daß er am Tag der Jagd über die gedeckte Tafel sprang, mit seinen Sporn das Tischzeug mit Service und Pracht- aufsatz auf die Erde riß und am Boden zerschmetterte, um seinem liebsten Freund an den Hals zu springen, zu umarmen, mit ihm tausend Abentheuer zu besprechen. Sie theilten sich auf der Jagd, und der erste Schuß, den der Freund that, war in beide Augensterne des Herzogs.
Ich habe den Herzog nie bedauert, ich bin nie zum Bewußtsein über sein Unglück gekommen; so wie ich ihn sah, erschien er mir ganz zu sich und seinem Schicksal sich verhaltend, ohne Mangel, wenn ich andre hörte sa- gen: "wie schade, wie traurig, daß der Herzog blind ist!" so fühlte ich's nicht mit, im Gegentheil dachte ich; "wie schade, daß ihr nicht alle blind seid, um die Ge- meinheit eurer Züge nicht mit diesen vergleichen zu dür- fen!" Ja Goethe! Schönheit ist ja das sehende Aug'
den reinen Thau, den die tragiſche Muſe aus ihrer Urne ſprengt, um den Staub der Gemeinheit zu däm- pfen, indem ich in tiefer, bewußtloſer Betrachtung über ihn verſunken war. — Es war in ſeinem zwanzigſten Jahr, im tollen, glühenden Übermuth der Jugend, im Gefühl ſeiner überwiegenden Schönheit, und im gehei- men Bewußtſein alles deſſen, was dieſer zu Gebot ſtand, daß er am Tag der Jagd über die gedeckte Tafel ſprang, mit ſeinen Sporn das Tiſchzeug mit Service und Pracht- aufſatz auf die Erde riß und am Boden zerſchmetterte, um ſeinem liebſten Freund an den Hals zu ſpringen, zu umarmen, mit ihm tauſend Abentheuer zu beſprechen. Sie theilten ſich auf der Jagd, und der erſte Schuß, den der Freund that, war in beide Augenſterne des Herzogs.
Ich habe den Herzog nie bedauert, ich bin nie zum Bewußtſein über ſein Unglück gekommen; ſo wie ich ihn ſah, erſchien er mir ganz zu ſich und ſeinem Schickſal ſich verhaltend, ohne Mangel, wenn ich andre hörte ſa- gen: „wie ſchade, wie traurig, daß der Herzog blind iſt!“ ſo fühlte ich's nicht mit, im Gegentheil dachte ich; „wie ſchade, daß ihr nicht alle blind ſeid, um die Ge- meinheit eurer Züge nicht mit dieſen vergleichen zu dür- fen!“ Ja Goethe! Schönheit iſt ja das ſehende Aug'
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den reinen Thau, den die tragiſche Muſe aus ihrer
Urne ſprengt, um den Staub der Gemeinheit zu däm-
pfen, indem ich in tiefer, bewußtloſer Betrachtung über
ihn verſunken war. — Es war in ſeinem zwanzigſten
Jahr, im tollen, glühenden Übermuth der Jugend, im
Gefühl ſeiner überwiegenden Schönheit, und im gehei-
men Bewußtſein alles deſſen, was dieſer zu Gebot ſtand,
daß er am Tag der Jagd über die gedeckte Tafel ſprang,
mit ſeinen Sporn das Tiſchzeug mit Service und Pracht-
aufſatz auf die Erde riß und am Boden zerſchmetterte,
um ſeinem liebſten Freund an den Hals zu ſpringen,
zu umarmen, mit ihm tauſend Abentheuer zu beſprechen.
Sie theilten ſich auf der Jagd, und der erſte Schuß,
den der Freund that, war in beide Augenſterne des
Herzogs.
Ich habe den Herzog nie bedauert, ich bin nie zum
Bewußtſein über ſein Unglück gekommen; ſo wie ich ihn
ſah, erſchien er mir ganz zu ſich und ſeinem Schickſal
ſich verhaltend, ohne Mangel, wenn ich andre hörte ſa-
gen: „wie ſchade, wie traurig, daß der Herzog blind
iſt!“ ſo fühlte ich's nicht mit, im Gegentheil dachte ich;
„wie ſchade, daß ihr nicht alle blind ſeid, um die Ge-
meinheit eurer Züge nicht mit dieſen vergleichen zu dür-
fen!“ Ja Goethe! Schönheit iſt ja das ſehende Aug'
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[Arnim, Bettina von]: Tagebuch. Berlin, 1835, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe03_1835/160>, abgerufen am 16.02.2025.
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