Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Tugend die nicht die höchste Wollust ist währt nur kurz
und mühseelig, bald glaubt der Strebende sie zu er-
fassen, bald eilt er der Fliehenden nach, bald ist sie ihm
entschwunden, und er ist's zufrieden, da er der Mühe
überhoben wird sie zu erwerben. So seh ich denn auch
die Künstler vergnügt mit der Geschicklichkeit während
der Genius entfliehet, sie messen einander, und finden
das Maaß ihrer eignen Größe immer am höchsten, und
ahnden nicht, daß eine ungemeßne Begeistrung zum
kleinsten Maaßstab des Genies gehöre. -- Dies alles
hab ich bei Gelegenheit, da Deine Statue von Marmor
soll verfertigt werden, recht sehr empfunden, die bedäch-
tige vorsichtige Logik eines Bildhauers läßt keiner Be-
geistrung die Vorhand, er bildet einen todten Körper,
der nicht einmal durch die rechtskräftige Macht des er-
finderischen Geistes sanctionirt wird. Der erfundne
Goethe konnte nur so dargestellt werden, daß er zugleich
einen Adam, einen Abraham, einen Moses, einen Rechts-
gelehrten oder auch einen Dichter bezeichnet; keine In-
dividualität.

Indessen wuchs mir die Sehnsucht auch einmal nach
dem heiligen Ideal meiner Begeistrung Dich auszuspre-
chen; beifolgende Zeichnung gebe Dir einen Beweis
von dem was Inspiration vermag ohne Übung der

Tugend die nicht die höchſte Wolluſt iſt währt nur kurz
und mühſeelig, bald glaubt der Strebende ſie zu er-
faſſen, bald eilt er der Fliehenden nach, bald iſt ſie ihm
entſchwunden, und er iſt's zufrieden, da er der Mühe
überhoben wird ſie zu erwerben. So ſeh ich denn auch
die Künſtler vergnügt mit der Geſchicklichkeit während
der Genius entfliehet, ſie meſſen einander, und finden
das Maaß ihrer eignen Größe immer am höchſten, und
ahnden nicht, daß eine ungemeßne Begeiſtrung zum
kleinſten Maaßſtab des Genies gehöre. — Dies alles
hab ich bei Gelegenheit, da Deine Statue von Marmor
ſoll verfertigt werden, recht ſehr empfunden, die bedäch-
tige vorſichtige Logik eines Bildhauers läßt keiner Be-
geiſtrung die Vorhand, er bildet einen todten Körper,
der nicht einmal durch die rechtskräftige Macht des er-
finderiſchen Geiſtes ſanctionirt wird. Der erfundne
Goethe konnte nur ſo dargeſtellt werden, daß er zugleich
einen Adam, einen Abraham, einen Moſes, einen Rechts-
gelehrten oder auch einen Dichter bezeichnet; keine In-
dividualität.

Indeſſen wuchs mir die Sehnſucht auch einmal nach
dem heiligen Ideal meiner Begeiſtrung Dich auszuſpre-
chen; beifolgende Zeichnung gebe Dir einen Beweis
von dem was Inſpiration vermag ohne Übung der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0330" n="320"/>
Tugend die nicht die höch&#x017F;te Wollu&#x017F;t i&#x017F;t währt nur kurz<lb/>
und müh&#x017F;eelig, bald glaubt der Strebende &#x017F;ie zu er-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;en, bald eilt er der Fliehenden nach, bald i&#x017F;t &#x017F;ie ihm<lb/>
ent&#x017F;chwunden, und er i&#x017F;t's zufrieden, da er der Mühe<lb/>
überhoben wird &#x017F;ie zu erwerben. So &#x017F;eh ich denn auch<lb/>
die Kün&#x017F;tler vergnügt mit der Ge&#x017F;chicklichkeit während<lb/>
der Genius entfliehet, &#x017F;ie me&#x017F;&#x017F;en einander, und finden<lb/>
das Maaß ihrer eignen Größe immer am höch&#x017F;ten, und<lb/>
ahnden nicht, daß eine ungemeßne Begei&#x017F;trung zum<lb/>
klein&#x017F;ten Maaß&#x017F;tab des Genies gehöre. &#x2014; Dies alles<lb/>
hab ich bei Gelegenheit, da Deine Statue von Marmor<lb/>
&#x017F;oll verfertigt werden, recht &#x017F;ehr empfunden, die bedäch-<lb/>
tige vor&#x017F;ichtige Logik eines Bildhauers läßt keiner Be-<lb/>
gei&#x017F;trung die Vorhand, er bildet einen todten Körper,<lb/>
der nicht einmal durch die rechtskräftige Macht des er-<lb/>
finderi&#x017F;chen Gei&#x017F;tes &#x017F;anctionirt wird. Der <hi rendition="#g">erfundne</hi><lb/>
Goethe konnte nur &#x017F;o darge&#x017F;tellt werden, daß er zugleich<lb/>
einen Adam, einen Abraham, einen Mo&#x017F;es, einen Rechts-<lb/>
gelehrten oder auch einen Dichter bezeichnet; keine In-<lb/>
dividualität.</p><lb/>
          <p>Inde&#x017F;&#x017F;en wuchs mir die Sehn&#x017F;ucht auch einmal nach<lb/>
dem heiligen Ideal meiner Begei&#x017F;trung Dich auszu&#x017F;pre-<lb/>
chen; beifolgende Zeichnung gebe Dir einen Beweis<lb/>
von dem was In&#x017F;piration vermag ohne Übung der<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[320/0330] Tugend die nicht die höchſte Wolluſt iſt währt nur kurz und mühſeelig, bald glaubt der Strebende ſie zu er- faſſen, bald eilt er der Fliehenden nach, bald iſt ſie ihm entſchwunden, und er iſt's zufrieden, da er der Mühe überhoben wird ſie zu erwerben. So ſeh ich denn auch die Künſtler vergnügt mit der Geſchicklichkeit während der Genius entfliehet, ſie meſſen einander, und finden das Maaß ihrer eignen Größe immer am höchſten, und ahnden nicht, daß eine ungemeßne Begeiſtrung zum kleinſten Maaßſtab des Genies gehöre. — Dies alles hab ich bei Gelegenheit, da Deine Statue von Marmor ſoll verfertigt werden, recht ſehr empfunden, die bedäch- tige vorſichtige Logik eines Bildhauers läßt keiner Be- geiſtrung die Vorhand, er bildet einen todten Körper, der nicht einmal durch die rechtskräftige Macht des er- finderiſchen Geiſtes ſanctionirt wird. Der erfundne Goethe konnte nur ſo dargeſtellt werden, daß er zugleich einen Adam, einen Abraham, einen Moſes, einen Rechts- gelehrten oder auch einen Dichter bezeichnet; keine In- dividualität. Indeſſen wuchs mir die Sehnſucht auch einmal nach dem heiligen Ideal meiner Begeiſtrung Dich auszuſpre- chen; beifolgende Zeichnung gebe Dir einen Beweis von dem was Inſpiration vermag ohne Übung der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/330
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/330>, abgerufen am 26.11.2024.