ich über den ersten musikalischen Gedanken, sehn Sie, das ist eine Symphonie; ja, Musik ist so recht die Ver- mittelung des geistigen Lebens zum sinnlichen. Ich möchte mit Goethe hierüber sprechen, ob der mich ver- stehen würde? -- Melodie ist das sinnliche Leben der Poesie. Wird nicht der geistige Inhalt eines Gedichts zum sinnlichen Gefühl durch die Melodie? -- empfindet man nicht in dem Lied der Mignon ihre ganze sinnliche Stimmung durch die Melodie? und erregt diese Empfin- dung nicht wieder zu neuen Erzeugungen? -- Da will der Geist zu schrankenloser Allgemeinheit sich ausdehnen, wo alles in Allem sich bildet zum Bett der Gefühle, die aus dem einfachen musikalischen Gedanken entsprin- gen, und die sonst ungeahnt verhallen würden; das ist Harmonie, das spricht sich in meinen Symphonieen aus, der Schmelz vielseitiger Formen wogt dahin in ei- nem Bett bis zum Ziel. Da fühlt man denn wohl, daß ein Ewiges, Unendliches, nie ganz zu Umfassendes in allem geistigen liege, und obschon ich bei meinen Werken immer die Empfindung des Gelingens habe, so fühle ich einen ewigen Hunger, was mir eben erschöpft schien mit dem letzten Paukenschlag, mit dem ich mei- nen Genuß, meine musikalische Überzeugung den Zuhö- rern einkeilte, wie ein Kind von neuem anzufangen.
ich über den erſten muſikaliſchen Gedanken, ſehn Sie, das iſt eine Symphonie; ja, Muſik iſt ſo recht die Ver- mittelung des geiſtigen Lebens zum ſinnlichen. Ich möchte mit Goethe hierüber ſprechen, ob der mich ver- ſtehen würde? — Melodie iſt das ſinnliche Leben der Poeſie. Wird nicht der geiſtige Inhalt eines Gedichts zum ſinnlichen Gefühl durch die Melodie? — empfindet man nicht in dem Lied der Mignon ihre ganze ſinnliche Stimmung durch die Melodie? und erregt dieſe Empfin- dung nicht wieder zu neuen Erzeugungen? — Da will der Geiſt zu ſchrankenloſer Allgemeinheit ſich ausdehnen, wo alles in Allem ſich bildet zum Bett der Gefühle, die aus dem einfachen muſikaliſchen Gedanken entſprin- gen, und die ſonſt ungeahnt verhallen würden; das iſt Harmonie, das ſpricht ſich in meinen Symphonieen aus, der Schmelz vielſeitiger Formen wogt dahin in ei- nem Bett bis zum Ziel. Da fühlt man denn wohl, daß ein Ewiges, Unendliches, nie ganz zu Umfaſſendes in allem geiſtigen liege, und obſchon ich bei meinen Werken immer die Empfindung des Gelingens habe, ſo fühle ich einen ewigen Hunger, was mir eben erſchöpft ſchien mit dem letzten Paukenſchlag, mit dem ich mei- nen Genuß, meine muſikaliſche Überzeugung den Zuhö- rern einkeilte, wie ein Kind von neuem anzufangen.
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ich über den erſten muſikaliſchen Gedanken, ſehn Sie,
das iſt eine Symphonie; ja, Muſik iſt ſo recht die Ver-
mittelung des geiſtigen Lebens zum ſinnlichen. Ich
möchte mit Goethe hierüber ſprechen, ob der mich ver-
ſtehen würde? — Melodie iſt das ſinnliche Leben der
Poeſie. Wird nicht der geiſtige Inhalt eines Gedichts
zum ſinnlichen Gefühl durch die Melodie? — empfindet
man nicht in dem Lied der Mignon ihre ganze ſinnliche
Stimmung durch die Melodie? und erregt dieſe Empfin-
dung nicht wieder zu neuen Erzeugungen? — Da will der
Geiſt zu ſchrankenloſer Allgemeinheit ſich ausdehnen,
wo alles in Allem ſich bildet zum Bett der Gefühle,
die aus dem einfachen muſikaliſchen Gedanken entſprin-
gen, und die ſonſt ungeahnt verhallen würden; das iſt
Harmonie, das ſpricht ſich in meinen Symphonieen
aus, der Schmelz vielſeitiger Formen wogt dahin in ei-
nem Bett bis zum Ziel. Da fühlt man denn wohl,
daß ein Ewiges, Unendliches, nie ganz zu Umfaſſendes
in allem geiſtigen liege, und obſchon ich bei meinen
Werken immer die Empfindung des Gelingens habe, ſo
fühle ich einen ewigen Hunger, was mir eben erſchöpft
ſchien mit dem letzten Paukenſchlag, mit dem ich mei-
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/206>, abgerufen am 23.11.2024.
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