Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Angst, der Schulmeister möge aufwachen, draußen
machte ich meinen Reim und schlich wieder auf den
Zehen herbei, um ihn mit einer einseitigen Feder, die
wahrscheinlich mit dem Brodkneip zugeschnitten war,
aufzuschreiben, zuletzt nahm ich das blaue Band von
meinem Strohhut und machte eine schöne Schleife um
das Buch, damit er's doch sehen möge, denn sonst hätte
dies schöne Gedicht leicht unter dem Wust der Schreib-
bücher verloren gehen können. Vor der Thür saß Ru-
mohr, mein Begleiter, und hatte unterdessen eine Schüs-
sel mit saurer Milch ausgespeist, ich wollte nichts essen
und auch mich nicht mehr aufhalten, aus Furcht, der
Schulmeister könne aufwachen, unterwegs sprach Ru-
mohr sehr schön über den Bauernstand, über ihre Be-
dürfnisse und wie das Wohl des Staats von dem ih-
rigen abhinge, und wie man ihnen keine Kenntnisse auf-
zwingen müsse, die sie nicht selbst in ihrem Beruf un-
mittelbar benützen könnten, und daß man sie zu freien
Menschen bilden müsse, das heißt: zu Leuten, die sich
alles selbst verschaffen was sie brauchen. Dann sprach
er auch über ihre Religion, und da hat er etwas sehr
schönes gesagt, er meinte nämlich, jedem Stand müsse
das als Religion gelten, was sein höchster Beruf sei,
des Bauern Beruf sei, das ganze Land vor Hungers-

Angſt, der Schulmeiſter möge aufwachen, draußen
machte ich meinen Reim und ſchlich wieder auf den
Zehen herbei, um ihn mit einer einſeitigen Feder, die
wahrſcheinlich mit dem Brodkneip zugeſchnitten war,
aufzuſchreiben, zuletzt nahm ich das blaue Band von
meinem Strohhut und machte eine ſchöne Schleife um
das Buch, damit er's doch ſehen möge, denn ſonſt hätte
dies ſchöne Gedicht leicht unter dem Wuſt der Schreib-
bücher verloren gehen können. Vor der Thür ſaß Ru-
mohr, mein Begleiter, und hatte unterdeſſen eine Schüſ-
ſel mit ſaurer Milch ausgeſpeiſt, ich wollte nichts eſſen
und auch mich nicht mehr aufhalten, aus Furcht, der
Schulmeiſter könne aufwachen, unterwegs ſprach Ru-
mohr ſehr ſchön über den Bauernſtand, über ihre Be-
dürfniſſe und wie das Wohl des Staats von dem ih-
rigen abhinge, und wie man ihnen keine Kenntniſſe auf-
zwingen müſſe, die ſie nicht ſelbſt in ihrem Beruf un-
mittelbar benützen könnten, und daß man ſie zu freien
Menſchen bilden müſſe, das heißt: zu Leuten, die ſich
alles ſelbſt verſchaffen was ſie brauchen. Dann ſprach
er auch über ihre Religion, und da hat er etwas ſehr
ſchönes geſagt, er meinte nämlich, jedem Stand müſſe
das als Religion gelten, was ſein höchſter Beruf ſei,
des Bauern Beruf ſei, das ganze Land vor Hungers-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0173" n="163"/>
Ang&#x017F;t, der Schulmei&#x017F;ter möge aufwachen, draußen<lb/>
machte ich meinen Reim und &#x017F;chlich wieder auf den<lb/>
Zehen herbei, um ihn mit einer <hi rendition="#g">ein&#x017F;eitigen</hi> Feder, die<lb/>
wahr&#x017F;cheinlich mit dem Brodkneip zuge&#x017F;chnitten war,<lb/>
aufzu&#x017F;chreiben, zuletzt nahm ich das blaue Band von<lb/>
meinem Strohhut und machte eine &#x017F;chöne Schleife um<lb/>
das Buch, damit er's doch &#x017F;ehen möge, denn &#x017F;on&#x017F;t hätte<lb/>
dies &#x017F;chöne Gedicht leicht unter dem Wu&#x017F;t der Schreib-<lb/>
bücher verloren gehen können. Vor der Thür &#x017F;aß Ru-<lb/>
mohr, mein Begleiter, und hatte unterde&#x017F;&#x017F;en eine Schü&#x017F;-<lb/>
&#x017F;el mit &#x017F;aurer Milch ausge&#x017F;pei&#x017F;t, ich wollte nichts e&#x017F;&#x017F;en<lb/>
und auch mich nicht mehr aufhalten, aus Furcht, der<lb/>
Schulmei&#x017F;ter könne aufwachen, unterwegs &#x017F;prach Ru-<lb/>
mohr &#x017F;ehr &#x017F;chön über den Bauern&#x017F;tand, über ihre Be-<lb/>
dürfni&#x017F;&#x017F;e und wie das Wohl des Staats von dem ih-<lb/>
rigen abhinge, und wie man ihnen keine Kenntni&#x017F;&#x017F;e auf-<lb/>
zwingen mü&#x017F;&#x017F;e, die &#x017F;ie nicht &#x017F;elb&#x017F;t in ihrem Beruf un-<lb/>
mittelbar benützen könnten, und daß man &#x017F;ie zu freien<lb/>
Men&#x017F;chen bilden mü&#x017F;&#x017F;e, das heißt: zu Leuten, die &#x017F;ich<lb/>
alles &#x017F;elb&#x017F;t ver&#x017F;chaffen was &#x017F;ie brauchen. Dann &#x017F;prach<lb/>
er auch über ihre Religion, und da hat er etwas &#x017F;ehr<lb/>
&#x017F;chönes ge&#x017F;agt, er meinte nämlich, jedem Stand mü&#x017F;&#x017F;e<lb/>
das als Religion gelten, was &#x017F;ein höch&#x017F;ter Beruf &#x017F;ei,<lb/>
des Bauern Beruf &#x017F;ei, das ganze Land vor Hungers-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[163/0173] Angſt, der Schulmeiſter möge aufwachen, draußen machte ich meinen Reim und ſchlich wieder auf den Zehen herbei, um ihn mit einer einſeitigen Feder, die wahrſcheinlich mit dem Brodkneip zugeſchnitten war, aufzuſchreiben, zuletzt nahm ich das blaue Band von meinem Strohhut und machte eine ſchöne Schleife um das Buch, damit er's doch ſehen möge, denn ſonſt hätte dies ſchöne Gedicht leicht unter dem Wuſt der Schreib- bücher verloren gehen können. Vor der Thür ſaß Ru- mohr, mein Begleiter, und hatte unterdeſſen eine Schüſ- ſel mit ſaurer Milch ausgeſpeiſt, ich wollte nichts eſſen und auch mich nicht mehr aufhalten, aus Furcht, der Schulmeiſter könne aufwachen, unterwegs ſprach Ru- mohr ſehr ſchön über den Bauernſtand, über ihre Be- dürfniſſe und wie das Wohl des Staats von dem ih- rigen abhinge, und wie man ihnen keine Kenntniſſe auf- zwingen müſſe, die ſie nicht ſelbſt in ihrem Beruf un- mittelbar benützen könnten, und daß man ſie zu freien Menſchen bilden müſſe, das heißt: zu Leuten, die ſich alles ſelbſt verſchaffen was ſie brauchen. Dann ſprach er auch über ihre Religion, und da hat er etwas ſehr ſchönes geſagt, er meinte nämlich, jedem Stand müſſe das als Religion gelten, was ſein höchſter Beruf ſei, des Bauern Beruf ſei, das ganze Land vor Hungers-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/173
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 163. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/173>, abgerufen am 25.11.2024.