Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht durfte der unreife jünglinghafte Mann so entwur-
zelt weggeschleudert werden, und was hilft mich aller
Geist und alles Gefühl in Ottiliens Tagebuch? nicht
kindlich ist's, daß sie dem Geliebten verläßt und nicht
von Ihm die Entfaltung ihres Geschicks erwartet, nicht
weiblich ist's, daß sie nicht blos sein Geschick berathet;
und nicht mütterlich, da sie ahnen muß die jungen Keime
alle, deren Wurzeln mit den ihrigen verwebt sind, daß
sie ihrer nicht achtet und alles mit sich zu Grunde
richtet.

Es giebt eine Grenze zwischen einem Reich was
aus der Nothwendigkeit entsteht und jenem höheren was
der freie Geist anbaut; in die Nothwendigkeit sind wir
geboren, wir finden uns zuerst in ihr, aber zu jenem
freien werden wir erhoben. Wie die Flügel den Vogel
in die Lüfte tragen, der unbefiedert vorher in's Nest ge-
bannt war, so trägt jener Geist unser Glück stolz und
unabhängig in die Freiheit; hart an diese Grenze führst
Du deine Lieben, kein Wunder! wir alle die wir den-
ken und lieben, harren an dieser Grenze unserer Erlösung;
ja die ganze Welt kommt mir vor wie am Strand ver-
sammelt und einer Überfahrt harrend, durch alle Vorur-
theile böse Begierden und Laster hindurch zum Land da
einer himmlischen Freiheit gepflegt werde. Wir thun

un-

nicht durfte der unreife jünglinghafte Mann ſo entwur-
zelt weggeſchleudert werden, und was hilft mich aller
Geiſt und alles Gefühl in Ottiliens Tagebuch? nicht
kindlich iſt's, daß ſie dem Geliebten verläßt und nicht
von Ihm die Entfaltung ihres Geſchicks erwartet, nicht
weiblich iſt's, daß ſie nicht blos ſein Geſchick berathet;
und nicht mütterlich, da ſie ahnen muß die jungen Keime
alle, deren Wurzeln mit den ihrigen verwebt ſind, daß
ſie ihrer nicht achtet und alles mit ſich zu Grunde
richtet.

Es giebt eine Grenze zwiſchen einem Reich was
aus der Nothwendigkeit entſteht und jenem höheren was
der freie Geiſt anbaut; in die Nothwendigkeit ſind wir
geboren, wir finden uns zuerſt in ihr, aber zu jenem
freien werden wir erhoben. Wie die Flügel den Vogel
in die Lüfte tragen, der unbefiedert vorher in's Neſt ge-
bannt war, ſo trägt jener Geiſt unſer Glück ſtolz und
unabhängig in die Freiheit; hart an dieſe Grenze führſt
Du deine Lieben, kein Wunder! wir alle die wir den-
ken und lieben, harren an dieſer Grenze unſerer Erlöſung;
ja die ganze Welt kommt mir vor wie am Strand ver-
ſammelt und einer Überfahrt harrend, durch alle Vorur-
theile böſe Begierden und Laſter hindurch zum Land da
einer himmliſchen Freiheit gepflegt werde. Wir thun

un-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0154" n="144"/>
nicht durfte der unreife jünglinghafte Mann &#x017F;o entwur-<lb/>
zelt wegge&#x017F;chleudert werden, und was hilft mich aller<lb/>
Gei&#x017F;t und alles Gefühl in Ottiliens Tagebuch? nicht<lb/>
kindlich i&#x017F;t's, daß &#x017F;ie dem Geliebten verläßt und nicht<lb/>
von Ihm die Entfaltung ihres Ge&#x017F;chicks erwartet, nicht<lb/>
weiblich i&#x017F;t's, daß &#x017F;ie nicht blos &#x017F;ein Ge&#x017F;chick berathet;<lb/>
und nicht mütterlich, da &#x017F;ie ahnen muß die jungen Keime<lb/>
alle, deren Wurzeln mit den ihrigen verwebt &#x017F;ind, daß<lb/>
&#x017F;ie ihrer nicht achtet und alles mit &#x017F;ich zu Grunde<lb/>
richtet.</p><lb/>
          <p>Es giebt eine Grenze zwi&#x017F;chen einem Reich was<lb/>
aus der Nothwendigkeit ent&#x017F;teht und jenem höheren was<lb/>
der freie Gei&#x017F;t anbaut; in die Nothwendigkeit &#x017F;ind wir<lb/>
geboren, wir finden uns zuer&#x017F;t in ihr, aber zu jenem<lb/>
freien werden wir erhoben. Wie die Flügel den Vogel<lb/>
in die Lüfte tragen, der unbefiedert vorher in's Ne&#x017F;t ge-<lb/>
bannt war, &#x017F;o trägt jener Gei&#x017F;t un&#x017F;er Glück &#x017F;tolz und<lb/>
unabhängig in die Freiheit; hart an die&#x017F;e Grenze führ&#x017F;t<lb/>
Du deine Lieben, kein Wunder! wir alle die wir den-<lb/>
ken und lieben, harren an die&#x017F;er Grenze un&#x017F;erer Erlö&#x017F;ung;<lb/>
ja die ganze Welt kommt mir vor wie am Strand ver-<lb/>
&#x017F;ammelt und einer Überfahrt harrend, durch alle Vorur-<lb/>
theile bö&#x017F;e Begierden und La&#x017F;ter hindurch zum Land da<lb/>
einer himmli&#x017F;chen Freiheit gepflegt werde. Wir thun<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">un-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[144/0154] nicht durfte der unreife jünglinghafte Mann ſo entwur- zelt weggeſchleudert werden, und was hilft mich aller Geiſt und alles Gefühl in Ottiliens Tagebuch? nicht kindlich iſt's, daß ſie dem Geliebten verläßt und nicht von Ihm die Entfaltung ihres Geſchicks erwartet, nicht weiblich iſt's, daß ſie nicht blos ſein Geſchick berathet; und nicht mütterlich, da ſie ahnen muß die jungen Keime alle, deren Wurzeln mit den ihrigen verwebt ſind, daß ſie ihrer nicht achtet und alles mit ſich zu Grunde richtet. Es giebt eine Grenze zwiſchen einem Reich was aus der Nothwendigkeit entſteht und jenem höheren was der freie Geiſt anbaut; in die Nothwendigkeit ſind wir geboren, wir finden uns zuerſt in ihr, aber zu jenem freien werden wir erhoben. Wie die Flügel den Vogel in die Lüfte tragen, der unbefiedert vorher in's Neſt ge- bannt war, ſo trägt jener Geiſt unſer Glück ſtolz und unabhängig in die Freiheit; hart an dieſe Grenze führſt Du deine Lieben, kein Wunder! wir alle die wir den- ken und lieben, harren an dieſer Grenze unſerer Erlöſung; ja die ganze Welt kommt mir vor wie am Strand ver- ſammelt und einer Überfahrt harrend, durch alle Vorur- theile böſe Begierden und Laſter hindurch zum Land da einer himmliſchen Freiheit gepflegt werde. Wir thun un-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/154
Zitationshilfe: Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/154>, abgerufen am 21.11.2024.