tens wandre, denn die langen Schatten am frühsten Morgen sind mir beßre Gefährten als alles was mir den ganzen Tag über begegnet.
Da besuche ich alle Morgen meinen alten Winter; bei schönem Wetter frühstückt er in der Gartenlaube mit der Frau, da muß ich immer den Streit zwischen beiden schlichten um die Sahne auf der Milch. Dann steigt er auf seinen Taubenschlag, so groß wie er ist muß er sich an den Boden ducken, hundert Tauben um- flattern ihn, setzen sich auf Kopf, Brust, Leib und Beine; zärtlich schielt er sie an, und vor Freundlichkeit kann er nicht pfeifen, da bittet er mich: o pfeifen Sie doch; so kommen denn noch hunderte von draußen hereinge- stürzt mit pfeifenden Schwingen; gurren, rucksen, lachen und umflattern ihn; da ist er selig und möchte eine Musik componiren, die grad so lautet. Da nun Win- ter ein wahrer Koloß ist, so stellt er ziemlich das Bild des Nils dar, der von einem kleinen Geschlecht um- krabbelt wird, und ich als Sphinx neben ihm kauernd, einen großen Korb voll Wicken und Erbsen auf dem Kopf. Dann werden Marcellos Psalmen gesungen, eine Musik, die mir in diesem Augenblick sehr zusagt, ihr Charakter ist fest und herrschend, man kann sie nicht durch Ausdruck heben, sie läßt sich nicht behandeln, man
tens wandre, denn die langen Schatten am frühſten Morgen ſind mir beßre Gefährten als alles was mir den ganzen Tag über begegnet.
Da beſuche ich alle Morgen meinen alten Winter; bei ſchönem Wetter frühſtückt er in der Gartenlaube mit der Frau, da muß ich immer den Streit zwiſchen beiden ſchlichten um die Sahne auf der Milch. Dann ſteigt er auf ſeinen Taubenſchlag, ſo groß wie er iſt muß er ſich an den Boden ducken, hundert Tauben um- flattern ihn, ſetzen ſich auf Kopf, Bruſt, Leib und Beine; zärtlich ſchielt er ſie an, und vor Freundlichkeit kann er nicht pfeifen, da bittet er mich: o pfeifen Sie doch; ſo kommen denn noch hunderte von draußen hereinge- ſtürzt mit pfeifenden Schwingen; gurren, ruckſen, lachen und umflattern ihn; da iſt er ſelig und möchte eine Muſik componiren, die grad ſo lautet. Da nun Win- ter ein wahrer Koloß iſt, ſo ſtellt er ziemlich das Bild des Nils dar, der von einem kleinen Geſchlecht um- krabbelt wird, und ich als Sphinx neben ihm kauernd, einen großen Korb voll Wicken und Erbſen auf dem Kopf. Dann werden Marcellos Pſalmen geſungen, eine Muſik, die mir in dieſem Augenblick ſehr zuſagt, ihr Charakter iſt feſt und herrſchend, man kann ſie nicht durch Ausdruck heben, ſie läßt ſich nicht behandeln, man
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tens wandre, denn die langen Schatten am frühſten
Morgen ſind mir beßre Gefährten als alles was mir
den ganzen Tag über begegnet.
Da beſuche ich alle Morgen meinen alten Winter;
bei ſchönem Wetter frühſtückt er in der Gartenlaube
mit der Frau, da muß ich immer den Streit zwiſchen
beiden ſchlichten um die Sahne auf der Milch. Dann
ſteigt er auf ſeinen Taubenſchlag, ſo groß wie er iſt
muß er ſich an den Boden ducken, hundert Tauben um-
flattern ihn, ſetzen ſich auf Kopf, Bruſt, Leib und Beine;
zärtlich ſchielt er ſie an, und vor Freundlichkeit kann
er nicht pfeifen, da bittet er mich: o pfeifen Sie doch;
ſo kommen denn noch hunderte von draußen hereinge-
ſtürzt mit pfeifenden Schwingen; gurren, ruckſen, lachen
und umflattern ihn; da iſt er ſelig und möchte eine
Muſik componiren, die grad ſo lautet. Da nun Win-
ter ein wahrer Koloß iſt, ſo ſtellt er ziemlich das Bild
des Nils dar, der von einem kleinen Geſchlecht um-
krabbelt wird, und ich als Sphinx neben ihm kauernd,
einen großen Korb voll Wicken und Erbſen auf dem
Kopf. Dann werden Marcellos Pſalmen geſungen, eine
Muſik, die mir in dieſem Augenblick ſehr zuſagt, ihr
Charakter iſt feſt und herrſchend, man kann ſie nicht
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 2. Berlin, 1835, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe02_1835/110>, abgerufen am 22.11.2024.
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