Gelegenheit ergab in's Ohr zu sehen, da entdeckt' ich's gleich, eine Spinne hatte ihr Netz in's Ohr aufgestellt, eine Fliege war drinn gefangen und verzehrt, und ihre Reste hingen noch im unverletzten Gewebe; daraus wollte der Franz das versteinerte langweilige Leben recht deutlich erkennen, ich aber erkannte es auch am Tintefaß, das so pelzig war und so wenig Flüssiges enthielt. Das ist aber nur die eine Hälfte dieses Lochs der Einsamkeit. Man sollt's nicht meinen, aber geht man langsam in die Runde, so kommt man an eine Schlucht. Am Morgen, wie eben die Sonne aufge- gangen war, entdeckte ich sie, ich ging hindurch, da be- fand ich mich plötzlich auf dem steilen höchsten Rand eines noch tieferen und weiteren Thalkessels, sein sammt- ner Boden schmiegt sich sanft an die ebenmäßigen Berg- wände die es rund umgeben und ganz besäet sind mit Lämmer und Schafen; in der Mitte steht das Schäfer- haus und dabei die Mühle die vom Bach, der mitten durchbraust, getrieben wird. Die Gebäude sind hinter uralten himmelhohen Linden versteckt, die grade jetzt blühen und deren Duft zu mir heraufdampfte und zwischen deren dichtem Laub der Rauch des Schorn- steins sich durchdrängte. Der reine blaue Himmel, der goldne Sonnenschein hatte das ganze Thal erfüllt.
Gelegenheit ergab in's Ohr zu ſehen, da entdeckt' ich's gleich, eine Spinne hatte ihr Netz in's Ohr aufgeſtellt, eine Fliege war drinn gefangen und verzehrt, und ihre Reſte hingen noch im unverletzten Gewebe; daraus wollte der Franz das verſteinerte langweilige Leben recht deutlich erkennen, ich aber erkannte es auch am Tintefaß, das ſo pelzig war und ſo wenig Flüſſiges enthielt. Das iſt aber nur die eine Hälfte dieſes Lochs der Einſamkeit. Man ſollt's nicht meinen, aber geht man langſam in die Runde, ſo kommt man an eine Schlucht. Am Morgen, wie eben die Sonne aufge- gangen war, entdeckte ich ſie, ich ging hindurch, da be- fand ich mich plötzlich auf dem ſteilen höchſten Rand eines noch tieferen und weiteren Thalkeſſels, ſein ſammt- ner Boden ſchmiegt ſich ſanft an die ebenmäßigen Berg- wände die es rund umgeben und ganz beſäet ſind mit Lämmer und Schafen; in der Mitte ſteht das Schäfer- haus und dabei die Mühle die vom Bach, der mitten durchbrauſt, getrieben wird. Die Gebäude ſind hinter uralten himmelhohen Linden verſteckt, die grade jetzt blühen und deren Duft zu mir heraufdampfte und zwiſchen deren dichtem Laub der Rauch des Schorn- ſteins ſich durchdrängte. Der reine blaue Himmel, der goldne Sonnenſchein hatte das ganze Thal erfüllt.
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Gelegenheit ergab in's Ohr zu ſehen, da entdeckt' ich's
gleich, eine Spinne hatte ihr Netz in's Ohr aufgeſtellt,
eine Fliege war drinn gefangen und verzehrt, und ihre
Reſte hingen noch im unverletzten Gewebe; daraus
wollte der Franz das verſteinerte langweilige Leben
recht deutlich erkennen, ich aber erkannte es auch am
Tintefaß, das ſo pelzig war und ſo wenig Flüſſiges
enthielt. Das iſt aber nur die eine Hälfte dieſes Lochs
der Einſamkeit. Man ſollt's nicht meinen, aber geht
man langſam in die Runde, ſo kommt man an eine
Schlucht. Am Morgen, wie eben die Sonne aufge-
gangen war, entdeckte ich ſie, ich ging hindurch, da be-
fand ich mich plötzlich auf dem ſteilen höchſten Rand
eines noch tieferen und weiteren Thalkeſſels, ſein ſammt-
ner Boden ſchmiegt ſich ſanft an die ebenmäßigen Berg-
wände die es rund umgeben und ganz beſäet ſind mit
Lämmer und Schafen; in der Mitte ſteht das Schäfer-
haus und dabei die Mühle die vom Bach, der mitten
durchbrauſt, getrieben wird. Die Gebäude ſind hinter
uralten himmelhohen Linden verſteckt, die grade jetzt
blühen und deren Duft zu mir heraufdampfte und
zwiſchen deren dichtem Laub der Rauch des Schorn-
ſteins ſich durchdrängte. Der reine blaue Himmel, der
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/69>, abgerufen am 24.11.2024.
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