Liebster, das macht mich glücklich, daß sich allmählig mein Leben durch Dich entwickelt, drum möcht' ich auch nicht falsch sein, lieber möcht' ich's dulden, daß alle Fehler und Schwächen von Dir gewußt wären, als Dir einen falschen Begriff von mir geben; weil dann deine Liebe nicht mit mir beschäftigt sein würde, sondern mit einem Wahnbild, was ich Dir statt meiner untergescho- ben hätte. -- Darum mahnt mich auch oft ein Gefühl, daß ich dies oder jenes Dir zu lieb meiden soll, weil ich es doch vor Dir läugnen würde.
Lieber Goethe, ich muß Dir die tiefsten Sachen sa- gen; sie kommen eigentlich allen Menschen zu, aber nur Du hörst mich an und glaubst an mich, und giebst mir in der Stille recht. -- Ich habe oft darüber nachge- dacht, daß der Geist nicht kann was er will, daß eine geheime Sehnsucht in ihm verborgen liegt, und daß er die nicht befriedigen kann; zum Beispiel, daß ich eine große Sehnsucht habe bei Dir zu sein, und daß ich doch nicht, wenn ich auch noch so sehr an Dich denke, Dir dies fühlbar machen kann; ich glaube es kommt daher, weil der Geist wirklich nicht im Reich der Wahrheit lebt, und er also sein eigentliches Leben noch nicht wahr machen kann, bis er ganz aus der Lüge heraus in das Reich der Offenbarung übergegangen ist; denn die Wahr-
Liebſter, das macht mich glücklich, daß ſich allmählig mein Leben durch Dich entwickelt, drum möcht' ich auch nicht falſch ſein, lieber möcht' ich's dulden, daß alle Fehler und Schwächen von Dir gewußt wären, als Dir einen falſchen Begriff von mir geben; weil dann deine Liebe nicht mit mir beſchäftigt ſein würde, ſondern mit einem Wahnbild, was ich Dir ſtatt meiner untergeſcho- ben hätte. — Darum mahnt mich auch oft ein Gefühl, daß ich dies oder jenes Dir zu lieb meiden ſoll, weil ich es doch vor Dir läugnen würde.
Lieber Goethe, ich muß Dir die tiefſten Sachen ſa- gen; ſie kommen eigentlich allen Menſchen zu, aber nur Du hörſt mich an und glaubſt an mich, und giebſt mir in der Stille recht. — Ich habe oft darüber nachge- dacht, daß der Geiſt nicht kann was er will, daß eine geheime Sehnſucht in ihm verborgen liegt, und daß er die nicht befriedigen kann; zum Beiſpiel, daß ich eine große Sehnſucht habe bei Dir zu ſein, und daß ich doch nicht, wenn ich auch noch ſo ſehr an Dich denke, Dir dies fühlbar machen kann; ich glaube es kommt daher, weil der Geiſt wirklich nicht im Reich der Wahrheit lebt, und er alſo ſein eigentliches Leben noch nicht wahr machen kann, bis er ganz aus der Lüge heraus in das Reich der Offenbarung übergegangen iſt; denn die Wahr-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0312"n="280"/>
Liebſter, das macht mich glücklich, daß ſich allmählig<lb/>
mein Leben durch Dich entwickelt, drum möcht' ich auch<lb/>
nicht falſch ſein, lieber möcht' ich's dulden, daß alle<lb/>
Fehler und Schwächen von Dir gewußt wären, als Dir<lb/>
einen falſchen Begriff von mir geben; weil dann deine<lb/>
Liebe nicht mit mir beſchäftigt ſein würde, ſondern mit<lb/>
einem Wahnbild, was ich Dir ſtatt meiner untergeſcho-<lb/>
ben hätte. — Darum mahnt mich auch oft ein Gefühl,<lb/>
daß ich dies oder jenes Dir zu lieb meiden ſoll, weil<lb/>
ich es doch vor Dir läugnen würde.</p><lb/><p>Lieber Goethe, ich muß Dir die tiefſten Sachen ſa-<lb/>
gen; ſie kommen eigentlich allen Menſchen zu, aber nur<lb/>
Du hörſt mich an und glaubſt an mich, und giebſt mir<lb/>
in der Stille recht. — Ich habe oft darüber nachge-<lb/>
dacht, daß der Geiſt nicht kann was er will, daß eine<lb/>
geheime Sehnſucht in ihm verborgen liegt, und daß er<lb/>
die nicht befriedigen kann; zum Beiſpiel, daß ich eine<lb/>
große Sehnſucht habe bei Dir zu ſein, und daß ich doch<lb/>
nicht, wenn ich auch noch ſo ſehr an Dich denke, Dir<lb/>
dies fühlbar machen kann; ich glaube es kommt daher,<lb/>
weil der Geiſt wirklich nicht im Reich der Wahrheit<lb/>
lebt, und er alſo ſein eigentliches Leben noch nicht wahr<lb/>
machen kann, bis er ganz aus der Lüge heraus in das<lb/>
Reich der Offenbarung übergegangen iſt; denn die Wahr-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[280/0312]
Liebſter, das macht mich glücklich, daß ſich allmählig
mein Leben durch Dich entwickelt, drum möcht' ich auch
nicht falſch ſein, lieber möcht' ich's dulden, daß alle
Fehler und Schwächen von Dir gewußt wären, als Dir
einen falſchen Begriff von mir geben; weil dann deine
Liebe nicht mit mir beſchäftigt ſein würde, ſondern mit
einem Wahnbild, was ich Dir ſtatt meiner untergeſcho-
ben hätte. — Darum mahnt mich auch oft ein Gefühl,
daß ich dies oder jenes Dir zu lieb meiden ſoll, weil
ich es doch vor Dir läugnen würde.
Lieber Goethe, ich muß Dir die tiefſten Sachen ſa-
gen; ſie kommen eigentlich allen Menſchen zu, aber nur
Du hörſt mich an und glaubſt an mich, und giebſt mir
in der Stille recht. — Ich habe oft darüber nachge-
dacht, daß der Geiſt nicht kann was er will, daß eine
geheime Sehnſucht in ihm verborgen liegt, und daß er
die nicht befriedigen kann; zum Beiſpiel, daß ich eine
große Sehnſucht habe bei Dir zu ſein, und daß ich doch
nicht, wenn ich auch noch ſo ſehr an Dich denke, Dir
dies fühlbar machen kann; ich glaube es kommt daher,
weil der Geiſt wirklich nicht im Reich der Wahrheit
lebt, und er alſo ſein eigentliches Leben noch nicht wahr
machen kann, bis er ganz aus der Lüge heraus in das
Reich der Offenbarung übergegangen iſt; denn die Wahr-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/312>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.