die sich wieder so fest an einander schließen, so scheint er, sehnsüchtig an das Ufer des Rheins gelagert, mit seinem sanften Anschmiegen an die Gegend, und mit den geglätteten Furchen die ganze Natur zur Lust er- wecken zu wollen. Er ist mir der liebste Platz im Rhein- gau; er liegt eine Stunde von unserer Wohnung; ich habe ihn schon Morgens und Abends, im Nebel, Regen und Sonnenschein besucht. Die Kapelle ist erst seit ein paar Jahren zerstört, das halbe Dach ist herunter, nur die Rippen eines Schiffgewölbes stehen noch, in welches Weihen ein großes Nest gebaut haben, die mit ihren Jungen ewig aus- und einfliegen, ein wildes Geschrei halten das sehr an die Wassergegend gemahnt. -- Der Hauptaltar steht noch zur Hälfte, auf demselben ein hohes Kreuz, an welches unten der heruntergestürzte Christusleib festgebunden ist. Ich kletterte an dem Al- tar hinauf; um den Trümmern noch eine letzte Ehre anzuthun, wollte ich einen großen Blumenstrauß, den ich unterwegs gesammelt hatte, zwischen eine Spalte des Kopfes stecken; zu meinem größten Schrecken fiel mir der Kopf vor die Füße, die Weihen und Spatzen und alles was da genistet hatte, flog durch das Gepol- ter auf, und die stille Einsamkeit des Orts war Minu- ten lang gestört. Durch die Öffnungen der Thüren
die ſich wieder ſo feſt an einander ſchließen, ſo ſcheint er, ſehnſüchtig an das Ufer des Rheins gelagert, mit ſeinem ſanften Anſchmiegen an die Gegend, und mit den geglätteten Furchen die ganze Natur zur Luſt er- wecken zu wollen. Er iſt mir der liebſte Platz im Rhein- gau; er liegt eine Stunde von unſerer Wohnung; ich habe ihn ſchon Morgens und Abends, im Nebel, Regen und Sonnenſchein beſucht. Die Kapelle iſt erſt ſeit ein paar Jahren zerſtört, das halbe Dach iſt herunter, nur die Rippen eines Schiffgewölbes ſtehen noch, in welches Weihen ein großes Neſt gebaut haben, die mit ihren Jungen ewig aus- und einfliegen, ein wildes Geſchrei halten das ſehr an die Waſſergegend gemahnt. — Der Hauptaltar ſteht noch zur Hälfte, auf demſelben ein hohes Kreuz, an welches unten der heruntergeſtürzte Chriſtusleib feſtgebunden iſt. Ich kletterte an dem Al- tar hinauf; um den Trümmern noch eine letzte Ehre anzuthun, wollte ich einen großen Blumenſtrauß, den ich unterwegs geſammelt hatte, zwiſchen eine Spalte des Kopfes ſtecken; zu meinem größten Schrecken fiel mir der Kopf vor die Füße, die Weihen und Spatzen und alles was da geniſtet hatte, flog durch das Gepol- ter auf, und die ſtille Einſamkeit des Orts war Minu- ten lang geſtört. Durch die Öffnungen der Thüren
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die ſich wieder ſo feſt an einander ſchließen, ſo ſcheint
er, ſehnſüchtig an das Ufer des Rheins gelagert, mit
ſeinem ſanften Anſchmiegen an die Gegend, und mit
den geglätteten Furchen die ganze Natur zur Luſt er-
wecken zu wollen. Er iſt mir der liebſte Platz im Rhein-
gau; er liegt eine Stunde von unſerer Wohnung; ich
habe ihn ſchon Morgens und Abends, im Nebel, Regen
und Sonnenſchein beſucht. Die Kapelle iſt erſt ſeit ein
paar Jahren zerſtört, das halbe Dach iſt herunter, nur
die Rippen eines Schiffgewölbes ſtehen noch, in welches
Weihen ein großes Neſt gebaut haben, die mit ihren
Jungen ewig aus- und einfliegen, ein wildes Geſchrei
halten das ſehr an die Waſſergegend gemahnt. — Der
Hauptaltar ſteht noch zur Hälfte, auf demſelben ein
hohes Kreuz, an welches unten der heruntergeſtürzte
Chriſtusleib feſtgebunden iſt. Ich kletterte an dem Al-
tar hinauf; um den Trümmern noch eine letzte Ehre
anzuthun, wollte ich einen großen Blumenſtrauß, den
ich unterwegs geſammelt hatte, zwiſchen eine Spalte
des Kopfes ſtecken; zu meinem größten Schrecken fiel
mir der Kopf vor die Füße, die Weihen und Spatzen
und alles was da geniſtet hatte, flog durch das Gepol-
ter auf, und die ſtille Einſamkeit des Orts war Minu-
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/283>, abgerufen am 22.11.2024.
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