die Fittige senken und mich gelassen der stillen Allmacht Deiner Augen hingeben.
Die Menschen werden Dich nicht immer verstehen; und die Dir am nächsten zu stehen behaupten, die wer- den am meisten Dich verläugnen; ich seh' in die Zukunft, da sie rufen werden: "Steiniget ihn!" Jetzt, wo Deine eigne Begeistrung, gleich einem Löwen sich an Dich schmiegt und Dich bewacht, da wagt sich die Gemein- heit nicht an Dich.
Deine Mutter sagte letzt: Die Menschen sind zu jetziger Zeit alle wie Gerning, der immer spricht: "wir übrigen Gelehrten," und ganz wahr spricht, denn er ist übrig. --
Lieber todt als übrig sein! Ich bin es aber nicht, denn ich bin Dein, weil ich Dich erkenne in allem. -- Ich weiß, daß wenn sich auch die Wolken vor dem Sonnengott aufthürmen, daß er sie bald wieder nieder- drückt mit glänzender Hand; ich weiß, daß er keinen Schatten duldet, als den er unter den Sprossen seines Ruhmes sich selber sucht. -- Die Ruhe des Bewußtseins wird Dich überschatten; -- ich weiß, daß wenn er sich über den Abend hinwegbeugt, so erhebt er wieder im Morgen das goldne Haupt. -- Du bist ewig. -- D'rum ist es gut mit Dir sein.
die Fittige ſenken und mich gelaſſen der ſtillen Allmacht Deiner Augen hingeben.
Die Menſchen werden Dich nicht immer verſtehen; und die Dir am nächſten zu ſtehen behaupten, die wer- den am meiſten Dich verläugnen; ich ſeh' in die Zukunft, da ſie rufen werden: „Steiniget ihn!“ Jetzt, wo Deine eigne Begeiſtrung, gleich einem Löwen ſich an Dich ſchmiegt und Dich bewacht, da wagt ſich die Gemein- heit nicht an Dich.
Deine Mutter ſagte letzt: Die Menſchen ſind zu jetziger Zeit alle wie Gerning, der immer ſpricht: „wir übrigen Gelehrten,“ und ganz wahr ſpricht, denn er iſt übrig. —
Lieber todt als übrig ſein! Ich bin es aber nicht, denn ich bin Dein, weil ich Dich erkenne in allem. — Ich weiß, daß wenn ſich auch die Wolken vor dem Sonnengott aufthürmen, daß er ſie bald wieder nieder- drückt mit glänzender Hand; ich weiß, daß er keinen Schatten duldet, als den er unter den Sproſſen ſeines Ruhmes ſich ſelber ſucht. — Die Ruhe des Bewußtſeins wird Dich überſchatten; — ich weiß, daß wenn er ſich über den Abend hinwegbeugt, ſo erhebt er wieder im Morgen das goldne Haupt. — Du biſt ewig. — D'rum iſt es gut mit Dir ſein.
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die Fittige ſenken und mich gelaſſen der ſtillen Allmacht
Deiner Augen hingeben.
Die Menſchen werden Dich nicht immer verſtehen;
und die Dir am nächſten zu ſtehen behaupten, die wer-
den am meiſten Dich verläugnen; ich ſeh' in die Zukunft,
da ſie rufen werden: „Steiniget ihn!“ Jetzt, wo Deine
eigne Begeiſtrung, gleich einem Löwen ſich an Dich
ſchmiegt und Dich bewacht, da wagt ſich die Gemein-
heit nicht an Dich.
Deine Mutter ſagte letzt: Die Menſchen ſind zu
jetziger Zeit alle wie Gerning, der immer ſpricht: „wir
übrigen Gelehrten,“ und ganz wahr ſpricht, denn er
iſt übrig. —
Lieber todt als übrig ſein! Ich bin es aber nicht,
denn ich bin Dein, weil ich Dich erkenne in allem. —
Ich weiß, daß wenn ſich auch die Wolken vor dem
Sonnengott aufthürmen, daß er ſie bald wieder nieder-
drückt mit glänzender Hand; ich weiß, daß er keinen
Schatten duldet, als den er unter den Sproſſen ſeines
Ruhmes ſich ſelber ſucht. — Die Ruhe des Bewußtſeins
wird Dich überſchatten; — ich weiß, daß wenn er ſich
über den Abend hinwegbeugt, ſo erhebt er wieder im
Morgen das goldne Haupt. — Du biſt ewig. —
D'rum iſt es gut mit Dir ſein.
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/175>, abgerufen am 22.11.2024.
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