Ihre Mutter schrieb wie von mir: daß ich keinen Anspruch an Antworten mache; daß ich keine Zeit rau- ben wolle, die Ewiges hervorbringen kann; so ist es aber nicht: meine Seele schreit, wie ein durstiges Kind- chen; alle Zeiten, zukünftige und verflossene, möchte ich in mich trinken, und mein Gewissen würde mir wenig Bedenken machen, wenn die Welt von nun an weniger von Ihnen zu erfahren bekäme, und ich mehr. Beden- ken Sie indeß, daß nur wenig Worte von Ihnen ein größeres Maaß von Freude ausfüllen werden, als ich von aller späteren Zeit erwarte.
Bettine.
Die Mutter ist sehr heiter und gesund, sie trinkt noch einmal so viel Wein wie vor'm Jahr, geht bei Wind und Wetter in's Theater; singt in ihrem Über- muth mir vor: "Zärtliche getreue Seele, deren Schwur kein Schicksal bricht."
Extrablatt.
Wir führen Krieg, ich und die Mutter, und nun ist's so weit gekommen, daß ich kapituliren muß; die harte Bedingung ist, daß ich selbst Ihnen alles erzäh-
Ihre Mutter ſchrieb wie von mir: daß ich keinen Anſpruch an Antworten mache; daß ich keine Zeit rau- ben wolle, die Ewiges hervorbringen kann; ſo iſt es aber nicht: meine Seele ſchreit, wie ein durſtiges Kind- chen; alle Zeiten, zukünftige und verfloſſene, möchte ich in mich trinken, und mein Gewiſſen würde mir wenig Bedenken machen, wenn die Welt von nun an weniger von Ihnen zu erfahren bekäme, und ich mehr. Beden- ken Sie indeß, daß nur wenig Worte von Ihnen ein größeres Maaß von Freude ausfüllen werden, als ich von aller ſpäteren Zeit erwarte.
Bettine.
Die Mutter iſt ſehr heiter und geſund, ſie trinkt noch einmal ſo viel Wein wie vor'm Jahr, geht bei Wind und Wetter in's Theater; ſingt in ihrem Über- muth mir vor: „Zärtliche getreue Seele, deren Schwur kein Schickſal bricht.“
Extrablatt.
Wir führen Krieg, ich und die Mutter, und nun iſt's ſo weit gekommen, daß ich kapituliren muß; die harte Bedingung iſt, daß ich ſelbſt Ihnen alles erzäh-
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Ihre Mutter ſchrieb wie von mir: daß ich keinen
Anſpruch an Antworten mache; daß ich keine Zeit rau-
ben wolle, die Ewiges hervorbringen kann; ſo iſt es
aber nicht: meine Seele ſchreit, wie ein durſtiges Kind-
chen; alle Zeiten, zukünftige und verfloſſene, möchte ich
in mich trinken, und mein Gewiſſen würde mir wenig
Bedenken machen, wenn die Welt von nun an weniger
von Ihnen zu erfahren bekäme, und ich mehr. Beden-
ken Sie indeß, daß nur wenig Worte von Ihnen ein
größeres Maaß von Freude ausfüllen werden, als ich
von aller ſpäteren Zeit erwarte.
Bettine.
Die Mutter iſt ſehr heiter und geſund, ſie trinkt
noch einmal ſo viel Wein wie vor'm Jahr, geht bei
Wind und Wetter in's Theater; ſingt in ihrem Über-
muth mir vor: „Zärtliche getreue Seele, deren Schwur
kein Schickſal bricht.“
Extrablatt.
Wir führen Krieg, ich und die Mutter, und nun
iſt's ſo weit gekommen, daß ich kapituliren muß; die
harte Bedingung iſt, daß ich ſelbſt Ihnen alles erzäh-
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/154>, abgerufen am 24.11.2024.
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