Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885].Ernst von Wildenbruch. Meine Eltern sind todt -- im Walde allein, Großmutter und ich, wir wohnten zu Zwei'n. Großmutter kannte manch' heilsames Kraut, Manch' Tränklein hat sie für Kranke gebraut, Großmutter im Feuer verbrannten sie, Eine Teufelshexe sie nannten sie. Ein altes Lied Großmutter sang, Ich lernt' es ihr ab, weil so süß es klang, Sie sagte, es käme aus fernen Landen, Wo Liebeszauber die Menschen verstanden, Ich sang's und wußte nicht, was es bedeute, Da griffen sie mich, hartherzige Leute, Und sperrten mich in den finsteren Thurm; Sie sagen, es sei der höllische Wurm, Der singe aus mir, zu der Menschen Verderben, Drum soll ich morgen im Feuer sterben.' -- Ihre bebende Lippe berührte mein Ohr, Ihr Auge mich flehend in Aengsten beschwor, Ihr Busen drängte an meinen sich, ,Errette, sprach sie, errette mich! So süß ist zu leben, so bitter der Tod, Und Feuers zu sterben, ist schreckliche Noth! Kein Wesen hab' ich gekränkt und betrübt, Keine Sünde gethan, keinen Zauber geübt, Die Herzen der Menschen gleichen den Steinen, Du aber bist gut, Du kannst noch weinen; Der Wärter schläft, frei ist die Thür, Komm, laß mich fliehen, entflieh' mit mir! Wir gehen leise, man hört uns nicht, Die Fackel erlischt, uns verräth kein Licht, Die Thurmespforte geht in das Feld, Niemand uns sieht, Niemand uns hält; Wenn morgen der Schrei der Hähne schallt, Sind wir schon ferne, im fernen Wald; Der Wald ist dunkel, der Wald ist dicht, Ich weiß eine Stätte, sie finden uns nicht; Ich weiß eine Stelle, ich weiß einen Platz, Da liegt verborgen ein alter Schatz, Wir werden suchen, Du wirst ihn heben, Wir ziehen ferne, wir werden leben Ernſt von Wildenbruch. Meine Eltern ſind todt — im Walde allein, Großmutter und ich, wir wohnten zu Zwei’n. Großmutter kannte manch’ heilſames Kraut, Manch’ Tränklein hat ſie für Kranke gebraut, Großmutter im Feuer verbrannten ſie, Eine Teufelshexe ſie nannten ſie. Ein altes Lied Großmutter ſang, Ich lernt’ es ihr ab, weil ſo ſüß es klang, Sie ſagte, es käme aus fernen Landen, Wo Liebeszauber die Menſchen verſtanden, Ich ſang’s und wußte nicht, was es bedeute, Da griffen ſie mich, hartherzige Leute, Und ſperrten mich in den finſteren Thurm; Sie ſagen, es ſei der hölliſche Wurm, Der ſinge aus mir, zu der Menſchen Verderben, Drum ſoll ich morgen im Feuer ſterben.‘ — Ihre bebende Lippe berührte mein Ohr, Ihr Auge mich flehend in Aengſten beſchwor, Ihr Buſen drängte an meinen ſich, ‚Errette, ſprach ſie, errette mich! So ſüß iſt zu leben, ſo bitter der Tod, Und Feuers zu ſterben, iſt ſchreckliche Noth! Kein Weſen hab’ ich gekränkt und betrübt, Keine Sünde gethan, keinen Zauber geübt, Die Herzen der Menſchen gleichen den Steinen, Du aber biſt gut, Du kannſt noch weinen; Der Wärter ſchläft, frei iſt die Thür, Komm, laß mich fliehen, entflieh’ mit mir! Wir gehen leiſe, man hört uns nicht, Die Fackel erliſcht, uns verräth kein Licht, Die Thurmespforte geht in das Feld, Niemand uns ſieht, Niemand uns hält; Wenn morgen der Schrei der Hähne ſchallt, Sind wir ſchon ferne, im fernen Wald; Der Wald iſt dunkel, der Wald iſt dicht, Ich weiß eine Stätte, ſie finden uns nicht; Ich weiß eine Stelle, ich weiß einen Platz, Da liegt verborgen ein alter Schatz, Wir werden ſuchen, Du wirſt ihn heben, Wir ziehen ferne, wir werden leben <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="1"> <pb facs="#f0268" n="250"/> <fw place="top" type="header">Ernſt von Wildenbruch.</fw><lb/> <l>Meine Eltern ſind todt — im Walde allein,</l><lb/> <l>Großmutter und ich, wir wohnten zu Zwei’n.</l><lb/> <l>Großmutter kannte manch’ heilſames Kraut,</l><lb/> <l>Manch’ Tränklein hat ſie für Kranke gebraut,</l><lb/> <l>Großmutter im Feuer verbrannten ſie,</l><lb/> <l>Eine Teufelshexe ſie nannten ſie.</l><lb/> <l>Ein altes Lied Großmutter ſang,</l><lb/> <l>Ich lernt’ es ihr ab, weil ſo ſüß es klang,</l><lb/> <l>Sie ſagte, es käme aus fernen Landen,</l><lb/> <l>Wo Liebeszauber die Menſchen verſtanden,</l><lb/> <l>Ich ſang’s und wußte nicht, was es bedeute,</l><lb/> <l>Da griffen ſie mich, hartherzige Leute,</l><lb/> <l>Und ſperrten mich in den finſteren Thurm;</l><lb/> <l>Sie ſagen, es ſei der hölliſche Wurm,</l><lb/> <l>Der ſinge aus mir, zu der Menſchen Verderben,</l><lb/> <l>Drum ſoll ich morgen im Feuer ſterben.‘ —</l><lb/> <l>Ihre bebende Lippe berührte mein Ohr,</l><lb/> <l>Ihr Auge mich flehend in Aengſten beſchwor,</l><lb/> <l>Ihr Buſen drängte an meinen ſich,</l><lb/> <l>‚Errette, ſprach ſie, errette mich!</l><lb/> <l>So ſüß iſt zu leben, ſo bitter der Tod,</l><lb/> <l>Und Feuers zu ſterben, iſt ſchreckliche Noth!</l><lb/> <l>Kein Weſen hab’ ich gekränkt und betrübt,</l><lb/> <l>Keine Sünde gethan, keinen Zauber geübt,</l><lb/> <l>Die Herzen der Menſchen gleichen den Steinen,</l><lb/> <l>Du aber biſt gut, Du kannſt noch weinen;</l><lb/> <l>Der Wärter ſchläft, frei iſt die Thür,</l><lb/> <l>Komm, laß mich fliehen, entflieh’ mit mir!</l><lb/> <l>Wir gehen leiſe, man hört uns nicht,</l><lb/> <l>Die Fackel erliſcht, uns verräth kein Licht,</l><lb/> <l>Die Thurmespforte geht in das Feld,</l><lb/> <l>Niemand uns ſieht, Niemand uns hält;</l><lb/> <l>Wenn morgen der Schrei der Hähne ſchallt,</l><lb/> <l>Sind wir ſchon ferne, im fernen Wald;</l><lb/> <l>Der Wald iſt dunkel, der Wald iſt dicht,</l><lb/> <l>Ich weiß eine Stätte, ſie finden uns nicht;</l><lb/> <l>Ich weiß eine Stelle, ich weiß einen Platz,</l><lb/> <l>Da liegt verborgen ein alter Schatz,</l><lb/> <l>Wir werden ſuchen, Du wirſt ihn heben,</l><lb/> <l>Wir ziehen ferne, wir werden leben</l><lb/> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [250/0268]
Ernſt von Wildenbruch.
Meine Eltern ſind todt — im Walde allein,
Großmutter und ich, wir wohnten zu Zwei’n.
Großmutter kannte manch’ heilſames Kraut,
Manch’ Tränklein hat ſie für Kranke gebraut,
Großmutter im Feuer verbrannten ſie,
Eine Teufelshexe ſie nannten ſie.
Ein altes Lied Großmutter ſang,
Ich lernt’ es ihr ab, weil ſo ſüß es klang,
Sie ſagte, es käme aus fernen Landen,
Wo Liebeszauber die Menſchen verſtanden,
Ich ſang’s und wußte nicht, was es bedeute,
Da griffen ſie mich, hartherzige Leute,
Und ſperrten mich in den finſteren Thurm;
Sie ſagen, es ſei der hölliſche Wurm,
Der ſinge aus mir, zu der Menſchen Verderben,
Drum ſoll ich morgen im Feuer ſterben.‘ —
Ihre bebende Lippe berührte mein Ohr,
Ihr Auge mich flehend in Aengſten beſchwor,
Ihr Buſen drängte an meinen ſich,
‚Errette, ſprach ſie, errette mich!
So ſüß iſt zu leben, ſo bitter der Tod,
Und Feuers zu ſterben, iſt ſchreckliche Noth!
Kein Weſen hab’ ich gekränkt und betrübt,
Keine Sünde gethan, keinen Zauber geübt,
Die Herzen der Menſchen gleichen den Steinen,
Du aber biſt gut, Du kannſt noch weinen;
Der Wärter ſchläft, frei iſt die Thür,
Komm, laß mich fliehen, entflieh’ mit mir!
Wir gehen leiſe, man hört uns nicht,
Die Fackel erliſcht, uns verräth kein Licht,
Die Thurmespforte geht in das Feld,
Niemand uns ſieht, Niemand uns hält;
Wenn morgen der Schrei der Hähne ſchallt,
Sind wir ſchon ferne, im fernen Wald;
Der Wald iſt dunkel, der Wald iſt dicht,
Ich weiß eine Stätte, ſie finden uns nicht;
Ich weiß eine Stelle, ich weiß einen Platz,
Da liegt verborgen ein alter Schatz,
Wir werden ſuchen, Du wirſt ihn heben,
Wir ziehen ferne, wir werden leben
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