Tiedemann sagt aber; "es darf als Grundsatz aufgestellt werden, daß Personen, welche von der Aufnahme von Geträn- ken bei dem Mahle keine nachtheiligen Wirkungen spüren, wohl thun, sich des Trinkens nicht ganz zu enthalten, denn der Genuß sehr trockner, zäher, gesalzner und gewürzter Speisen verursacht Durst, und wenn er nicht befriedigt wird, so ent- steht dadurch das Gefühl von Völle, Spannen und Druck im Magen."
Was folgt daraus? -- Wem's schmeckt und wohl be- kommt, der soll trinken, aber eingedenk der einfachen Wahrheit, daß bei'm Essen das Essen die Hauptsache bleibt.
Ich berücksichtige absichtlich Diätetiker bei dieser Frage, weil sich die Antwort von dem künstlerischen Gesichtspunkt aus zu Gunsten des Trinkens, als poetischer Verstärkung, eben so von selbst ergiebt, als nach unserem Prinzip, da der Wein nicht nur den schönsten flüssigen Gegensatz des Festen, sondern zugleich die edelste vegetabilisch flüssige Gegensätzlichkeit überhaupt re- präsentirt. Doch will ich der Untersuchung nicht vorgreifen.
Es ist ein chemischer Grundsatz, daß trockne, spröde Körper niemals sich innig verbinden und durchdringen, ja gar nicht auf einander wirken, es müßte denn rein abstoßend sein (cor- pora non agunt nisi fluida). Die Application liegt auf der Hand. Doch sorgen die Köche durch gehörige Tunken und Brühen, und der Hauptkoch, der Magen, vor Allem, selbst schon für das nöthigste Verflüssigende.
Die Salernitaner sagen über diesen Gegenstand: die Wahr- heit liegt in der Mitte. Das heißt einmal lehren sie: man solle oft, aber nicht viel (inter prandendum sit saepe parumque bibendum), das andere Mal: man solle gar nicht über Tisch trinken (ut minus aegrotes, non inter fercula potes). Man kann hieraus im Vorbeigehen lernen, wie klug die in der Mitte sind. Wenn auch einige Einfältige meinen, es sei charakterlos und absurd: ja und nein zugleich zu sagen, so ist doch leicht
Tiedemann ſagt aber; „es darf als Grundſatz aufgeſtellt werden, daß Perſonen, welche von der Aufnahme von Getraͤn- ken bei dem Mahle keine nachtheiligen Wirkungen ſpuͤren, wohl thun, ſich des Trinkens nicht ganz zu enthalten, denn der Genuß ſehr trockner, zaͤher, geſalzner und gewuͤrzter Speiſen verurſacht Durſt, und wenn er nicht befriedigt wird, ſo ent- ſteht dadurch das Gefuͤhl von Voͤlle, Spannen und Druck im Magen.“
Was folgt daraus? — Wem’s ſchmeckt und wohl be- kommt, der ſoll trinken, aber eingedenk der einfachen Wahrheit, daß bei’m Eſſen das Eſſen die Hauptſache bleibt.
Ich beruͤckſichtige abſichtlich Diaͤtetiker bei dieſer Frage, weil ſich die Antwort von dem kuͤnſtleriſchen Geſichtspunkt aus zu Gunſten des Trinkens, als poetiſcher Verſtaͤrkung, eben ſo von ſelbſt ergiebt, als nach unſerem Prinzip, da der Wein nicht nur den ſchoͤnſten fluͤſſigen Gegenſatz des Feſten, ſondern zugleich die edelſte vegetabiliſch fluͤſſige Gegenſaͤtzlichkeit uͤberhaupt re- praͤſentirt. Doch will ich der Unterſuchung nicht vorgreifen.
Es iſt ein chemiſcher Grundſatz, daß trockne, ſproͤde Koͤrper niemals ſich innig verbinden und durchdringen, ja gar nicht auf einander wirken, es muͤßte denn rein abſtoßend ſein (cor- pora non agunt nisi fluida). Die Application liegt auf der Hand. Doch ſorgen die Koͤche durch gehoͤrige Tunken und Bruͤhen, und der Hauptkoch, der Magen, vor Allem, ſelbſt ſchon fuͤr das noͤthigſte Verfluͤſſigende.
Die Salernitaner ſagen uͤber dieſen Gegenſtand: die Wahr- heit liegt in der Mitte. Das heißt einmal lehren ſie: man ſolle oft, aber nicht viel (inter prandendum sit saepe parumque bibendum), das andere Mal: man ſolle gar nicht uͤber Tiſch trinken (ut minus aegrotes, non inter fercula potes). Man kann hieraus im Vorbeigehen lernen, wie klug die in der Mitte ſind. Wenn auch einige Einfaͤltige meinen, es ſei charakterlos und abſurd: ja und nein zugleich zu ſagen, ſo iſt doch leicht
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Tiedemann ſagt aber; „es darf als Grundſatz aufgeſtellt
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thun, ſich des Trinkens nicht ganz zu enthalten, denn der
Genuß ſehr trockner, zaͤher, geſalzner und gewuͤrzter Speiſen
verurſacht Durſt, und wenn er nicht befriedigt wird, ſo ent-
ſteht dadurch das Gefuͤhl von Voͤlle, Spannen und Druck im
Magen.“
Was folgt daraus? — Wem’s ſchmeckt und wohl be-
kommt, der ſoll trinken, aber eingedenk der einfachen Wahrheit,
daß bei’m Eſſen das Eſſen die Hauptſache bleibt.
Ich beruͤckſichtige abſichtlich Diaͤtetiker bei dieſer Frage,
weil ſich die Antwort von dem kuͤnſtleriſchen Geſichtspunkt aus
zu Gunſten des Trinkens, als poetiſcher Verſtaͤrkung, eben ſo
von ſelbſt ergiebt, als nach unſerem Prinzip, da der Wein nicht
nur den ſchoͤnſten fluͤſſigen Gegenſatz des Feſten, ſondern zugleich
die edelſte vegetabiliſch fluͤſſige Gegenſaͤtzlichkeit uͤberhaupt re-
praͤſentirt. Doch will ich der Unterſuchung nicht vorgreifen.
Es iſt ein chemiſcher Grundſatz, daß trockne, ſproͤde Koͤrper
niemals ſich innig verbinden und durchdringen, ja gar nicht
auf einander wirken, es muͤßte denn rein abſtoßend ſein (cor-
pora non agunt nisi fluida). Die Application liegt auf der
Hand. Doch ſorgen die Koͤche durch gehoͤrige Tunken und
Bruͤhen, und der Hauptkoch, der Magen, vor Allem, ſelbſt
ſchon fuͤr das noͤthigſte Verfluͤſſigende.
Die Salernitaner ſagen uͤber dieſen Gegenſtand: die Wahr-
heit liegt in der Mitte. Das heißt einmal lehren ſie: man ſolle
oft, aber nicht viel (inter prandendum sit saepe parumque
bibendum), das andere Mal: man ſolle gar nicht uͤber Tiſch
trinken (ut minus aegrotes, non inter fercula potes). Man
kann hieraus im Vorbeigehen lernen, wie klug die in der Mitte
ſind. Wenn auch einige Einfaͤltige meinen, es ſei charakterlos
und abſurd: ja und nein zugleich zu ſagen, ſo iſt doch leicht
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Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/259>, abgerufen am 16.02.2025.
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