Ich gedenke der fröhlichen im schönen Wien verlebten Tage. Im Sommerhalbjahr war so reichliche Gelegenheit gegeben, im Freien zu essen, daß man sich kaum entschließen konnte, von der drückenden Enge einer Stube sich einschließen zu lassen. In solchen Eßgärten sah man die anständigsten Esser, die feinsten Cavaliere in eben so feinen schneeweißen bloßen Hemdärmeln sitzen und frisch und frei schmausen, welchem Beispiele man be- greiflicherweise auch unbedenklich folgte und sich höchst behaglich dabei befand. Ein enge zugeknöpfter schlanker Jüngling aus einer großen norddeutschen Stadt, welcher sich unserm Kreise zugesellen wollte, und den wir in einen solchen Garten mit uns nahmen, ging schreckensbleich rückwärts wieder zum Thor hin- aus, sobald er diesen Skandal, wie er es nannte, ansichtig wurde, wobei wir uns denn natürlich keineswegs Mühe gaben, den Zarten zu halten. Seine Mutter hatte ihm gesagt, so was schicke sich nicht.
Es giebt Leute, denen es anfängt unwohl zu werden, so wie sie sich's wohl sein lassen dürften, ja welche ihre eigene Exi- stenz genirt. Auch habe ich Physiognomieen gesehen, welche deutlich aussagten: Nehmen Sie es mir doch ja nicht ungnädig, daß ich auf der Welt bin. Andere freilich, wozu unser Zuge- knöpfter gehörte, scheinen gegentheils zu glauben, nur sie hätten das Recht dazusein, und wer nicht so da sei, wie sie und ihr Herr Vater und ihre Frau Mutter und die lieben Nachbarn und desgleichen, der sollte lieber gar nicht existiren. Ach wenn sich doch solche Unglückliche das ohnehin schon enge genug zuge- knöpfte Leben nicht selber noch enger bis zur Engbrüstigkeit zu- schnüren zu müssen glaubten!
Obgleich nun Schiller in seinem traurigen Lied an die Freude mit Wehmuth Unglücklicher gedenkt, die sich weinend fortstehlen sollen aus der Compagnie, so tragen doch solche Sei- tenblicke nicht sehr viel zur Plaisirlichkeit des Ganzen bei, weß- halb denn jenes genannten Zugeknöpften und seiner Unglücks-
Ich gedenke der froͤhlichen im ſchoͤnen Wien verlebten Tage. Im Sommerhalbjahr war ſo reichliche Gelegenheit gegeben, im Freien zu eſſen, daß man ſich kaum entſchließen konnte, von der druͤckenden Enge einer Stube ſich einſchließen zu laſſen. In ſolchen Eßgaͤrten ſah man die anſtaͤndigſten Eſſer, die feinſten Cavaliere in eben ſo feinen ſchneeweißen bloßen Hemdaͤrmeln ſitzen und friſch und frei ſchmauſen, welchem Beiſpiele man be- greiflicherweiſe auch unbedenklich folgte und ſich hoͤchſt behaglich dabei befand. Ein enge zugeknoͤpfter ſchlanker Juͤngling aus einer großen norddeutſchen Stadt, welcher ſich unſerm Kreiſe zugeſellen wollte, und den wir in einen ſolchen Garten mit uns nahmen, ging ſchreckensbleich ruͤckwaͤrts wieder zum Thor hin- aus, ſobald er dieſen Skandal, wie er es nannte, anſichtig wurde, wobei wir uns denn natuͤrlich keineswegs Muͤhe gaben, den Zarten zu halten. Seine Mutter hatte ihm geſagt, ſo was ſchicke ſich nicht.
Es giebt Leute, denen es anfaͤngt unwohl zu werden, ſo wie ſie ſich’s wohl ſein laſſen duͤrften, ja welche ihre eigene Exi- ſtenz genirt. Auch habe ich Phyſiognomieen geſehen, welche deutlich ausſagten: Nehmen Sie es mir doch ja nicht ungnaͤdig, daß ich auf der Welt bin. Andere freilich, wozu unſer Zuge- knoͤpfter gehoͤrte, ſcheinen gegentheils zu glauben, nur ſie haͤtten das Recht dazuſein, und wer nicht ſo da ſei, wie ſie und ihr Herr Vater und ihre Frau Mutter und die lieben Nachbarn und desgleichen, der ſollte lieber gar nicht exiſtiren. Ach wenn ſich doch ſolche Ungluͤckliche das ohnehin ſchon enge genug zuge- knoͤpfte Leben nicht ſelber noch enger bis zur Engbruͤſtigkeit zu- ſchnuͤren zu muͤſſen glaubten!
Obgleich nun Schiller in ſeinem traurigen Lied an die Freude mit Wehmuth Ungluͤcklicher gedenkt, die ſich weinend fortſtehlen ſollen aus der Compagnie, ſo tragen doch ſolche Sei- tenblicke nicht ſehr viel zur Plaiſirlichkeit des Ganzen bei, weß- halb denn jenes genannten Zugeknoͤpften und ſeiner Ungluͤcks-
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0208"n="194"/><p>Ich gedenke der froͤhlichen im ſchoͤnen Wien verlebten Tage.<lb/>
Im Sommerhalbjahr war ſo reichliche Gelegenheit gegeben, im<lb/>
Freien zu eſſen, daß man ſich kaum entſchließen konnte, von der<lb/>
druͤckenden Enge einer Stube ſich einſchließen zu laſſen. In<lb/>ſolchen Eßgaͤrten ſah man die anſtaͤndigſten Eſſer, die feinſten<lb/>
Cavaliere in eben ſo feinen ſchneeweißen bloßen Hemdaͤrmeln<lb/>ſitzen und friſch und frei ſchmauſen, welchem Beiſpiele man be-<lb/>
greiflicherweiſe auch unbedenklich folgte und ſich hoͤchſt behaglich<lb/>
dabei befand. Ein enge zugeknoͤpfter ſchlanker Juͤngling aus<lb/>
einer großen norddeutſchen Stadt, welcher ſich unſerm Kreiſe<lb/>
zugeſellen wollte, und den wir in einen ſolchen Garten mit uns<lb/>
nahmen, ging ſchreckensbleich ruͤckwaͤrts wieder zum Thor hin-<lb/>
aus, ſobald er dieſen Skandal, wie er es nannte, anſichtig<lb/>
wurde, wobei wir uns denn natuͤrlich keineswegs Muͤhe gaben,<lb/>
den Zarten zu halten. Seine Mutter hatte ihm geſagt, ſo was<lb/>ſchicke ſich nicht.</p><lb/><p>Es giebt Leute, denen es anfaͤngt unwohl zu werden, ſo<lb/>
wie ſie ſich’s wohl ſein laſſen duͤrften, ja welche ihre eigene Exi-<lb/>ſtenz genirt. Auch habe ich Phyſiognomieen geſehen, welche<lb/>
deutlich ausſagten: Nehmen Sie es mir doch ja nicht ungnaͤdig,<lb/>
daß ich auf der Welt bin. Andere freilich, wozu unſer Zuge-<lb/>
knoͤpfter gehoͤrte, ſcheinen gegentheils zu glauben, nur ſie haͤtten<lb/>
das Recht dazuſein, und wer nicht ſo da ſei, wie ſie und ihr<lb/>
Herr Vater und ihre Frau Mutter und die lieben Nachbarn und<lb/>
desgleichen, der ſollte lieber gar nicht exiſtiren. Ach wenn ſich<lb/>
doch ſolche Ungluͤckliche das ohnehin ſchon enge genug zuge-<lb/>
knoͤpfte Leben nicht ſelber noch enger bis zur Engbruͤſtigkeit zu-<lb/>ſchnuͤren zu muͤſſen glaubten!</p><lb/><p>Obgleich nun <hirendition="#g">Schiller</hi> in ſeinem traurigen Lied an die<lb/>
Freude mit Wehmuth Ungluͤcklicher gedenkt, die ſich weinend<lb/>
fortſtehlen ſollen aus der Compagnie, ſo tragen doch ſolche Sei-<lb/>
tenblicke nicht ſehr viel zur Plaiſirlichkeit des Ganzen bei, weß-<lb/>
halb denn jenes genannten Zugeknoͤpften und ſeiner Ungluͤcks-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[194/0208]
Ich gedenke der froͤhlichen im ſchoͤnen Wien verlebten Tage.
Im Sommerhalbjahr war ſo reichliche Gelegenheit gegeben, im
Freien zu eſſen, daß man ſich kaum entſchließen konnte, von der
druͤckenden Enge einer Stube ſich einſchließen zu laſſen. In
ſolchen Eßgaͤrten ſah man die anſtaͤndigſten Eſſer, die feinſten
Cavaliere in eben ſo feinen ſchneeweißen bloßen Hemdaͤrmeln
ſitzen und friſch und frei ſchmauſen, welchem Beiſpiele man be-
greiflicherweiſe auch unbedenklich folgte und ſich hoͤchſt behaglich
dabei befand. Ein enge zugeknoͤpfter ſchlanker Juͤngling aus
einer großen norddeutſchen Stadt, welcher ſich unſerm Kreiſe
zugeſellen wollte, und den wir in einen ſolchen Garten mit uns
nahmen, ging ſchreckensbleich ruͤckwaͤrts wieder zum Thor hin-
aus, ſobald er dieſen Skandal, wie er es nannte, anſichtig
wurde, wobei wir uns denn natuͤrlich keineswegs Muͤhe gaben,
den Zarten zu halten. Seine Mutter hatte ihm geſagt, ſo was
ſchicke ſich nicht.
Es giebt Leute, denen es anfaͤngt unwohl zu werden, ſo
wie ſie ſich’s wohl ſein laſſen duͤrften, ja welche ihre eigene Exi-
ſtenz genirt. Auch habe ich Phyſiognomieen geſehen, welche
deutlich ausſagten: Nehmen Sie es mir doch ja nicht ungnaͤdig,
daß ich auf der Welt bin. Andere freilich, wozu unſer Zuge-
knoͤpfter gehoͤrte, ſcheinen gegentheils zu glauben, nur ſie haͤtten
das Recht dazuſein, und wer nicht ſo da ſei, wie ſie und ihr
Herr Vater und ihre Frau Mutter und die lieben Nachbarn und
desgleichen, der ſollte lieber gar nicht exiſtiren. Ach wenn ſich
doch ſolche Ungluͤckliche das ohnehin ſchon enge genug zuge-
knoͤpfte Leben nicht ſelber noch enger bis zur Engbruͤſtigkeit zu-
ſchnuͤren zu muͤſſen glaubten!
Obgleich nun Schiller in ſeinem traurigen Lied an die
Freude mit Wehmuth Ungluͤcklicher gedenkt, die ſich weinend
fortſtehlen ſollen aus der Compagnie, ſo tragen doch ſolche Sei-
tenblicke nicht ſehr viel zur Plaiſirlichkeit des Ganzen bei, weß-
halb denn jenes genannten Zugeknoͤpften und ſeiner Ungluͤcks-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Antonius Anthus [i. e. Blumröder, Gustav]: Vorlesungen über Esskunst. Leipzig, 1838, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/anthus_esskunst_1838/208>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.