Andreas-Salomé, Lou: Die Erotik. In: Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien (Hg. Martin Buber), 33. Band. Frankfurt (Main), 1910.aber wäre es denkbar, daß klare Erkenntnis sie der eigenen Leiblichkeit etwas anders gegenüberstellte als früher. Eine neue, feine Scham ließe sich denken, die nicht der leiblichen Hingegebenheit so prüde mehr gilt, wie die traditionelle Erziehung es zur zweiten Natur machte, sondern eher im Gegenteil grade deshalb zu jeder Selbstzucht sich erzieht, weil die physiologische Genußfreude seelischen Vorgängen Tür und Tor öffnen müßte: die Pforte zu dem innersten Selbst, das sich nicht preisgeben will, zu jenen kostbarsten Geschenken von Mensch zu Mensch, die, einmal vergeudet, sich nie wieder ganz zurücknehmen lassen, weil sie wir selber sind. Wird im weiblichen erotischen Affekt so viel Psychisches sogar wider Willen in die Physis mit hineingerissen, so gewahrt man aus den gleichen Ursachen das entgegengesetzte Schauspiel bei geistigen Erkrankungen. In seinem Werk "Die sexuelle Frage" erörtert Forel diese Tatsache, daß die Sexualität, bei den Männern die niedern Hirnzentren affizierend, beim Weibe im Großhirn lokalisiert erscheine, "dem Sitz der Geistesstörungen". "Wenn man, selbst in weiblicher Begleitung, durch die Männerabteilung der Irrenanstalt geht, ist man über die blöde Gleichgültigkeit und sexuelle Indifferenz fast aller geisteskranken Männer erstaunt," sagt er, und von den Frauen: "selbst die sittsamsten und sexuell kühlsten Frauen können, wenn sie geistig erkranken, dem wildesten Erotismus verfallen, und zeitweilig sich wie Prostituierte aufführen." So wird selbst das letzte Wort, selbst das geistiger Zerstörung, selbst das des tragisch ungewollt Dirnenhaften im Weibe, noch zur Bestätigung für das All-eine, das ihr die Liebe ist. Das Wesenbestimmendere des Sexualcharakters für das Weib läßt die Entwicklung auch des gesundesten in einer aber wäre es denkbar, daß klare Erkenntnis sie der eigenen Leiblichkeit etwas anders gegenüberstellte als früher. Eine neue, feine Scham ließe sich denken, die nicht der leiblichen Hingegebenheit so prüde mehr gilt, wie die traditionelle Erziehung es zur zweiten Natur machte, sondern eher im Gegenteil grade deshalb zu jeder Selbstzucht sich erzieht, weil die physiologische Genußfreude seelischen Vorgängen Tür und Tor öffnen müßte: die Pforte zu dem innersten Selbst, das sich nicht preisgeben will, zu jenen kostbarsten Geschenken von Mensch zu Mensch, die, einmal vergeudet, sich nie wieder ganz zurücknehmen lassen, weil sie wir selber sind. Wird im weiblichen erotischen Affekt so viel Psychisches sogar wider Willen in die Physis mit hineingerissen, so gewahrt man aus den gleichen Ursachen das entgegengesetzte Schauspiel bei geistigen Erkrankungen. In seinem Werk „Die sexuelle Frage“ erörtert Forel diese Tatsache, daß die Sexualität, bei den Männern die niedern Hirnzentren affizierend, beim Weibe im Großhirn lokalisiert erscheine, „dem Sitz der Geistesstörungen“. „Wenn man, selbst in weiblicher Begleitung, durch die Männerabteilung der Irrenanstalt geht, ist man über die blöde Gleichgültigkeit und sexuelle Indifferenz fast aller geisteskranken Männer erstaunt,“ sagt er, und von den Frauen: „selbst die sittsamsten und sexuell kühlsten Frauen können, wenn sie geistig erkranken, dem wildesten Erotismus verfallen, und zeitweilig sich wie Prostituierte aufführen.“ So wird selbst das letzte Wort, selbst das geistiger Zerstörung, selbst das des tragisch ungewollt Dirnenhaften im Weibe, noch zur Bestätigung für das All-eine, das ihr die Liebe ist. Das Wesenbestimmendere des Sexualcharakters für das Weib läßt die Entwicklung auch des gesundesten in einer <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0047" n="47"/> aber wäre es denkbar, daß klare Erkenntnis sie der eigenen Leiblichkeit etwas anders gegenüberstellte als früher. Eine neue, feine Scham ließe sich denken, die nicht der leiblichen Hingegebenheit so prüde mehr gilt, wie die traditionelle Erziehung es zur zweiten Natur machte, sondern eher im Gegenteil grade deshalb zu jeder Selbstzucht sich erzieht, <hi rendition="#g">weil</hi> die physiologische Genußfreude seelischen Vorgängen Tür und Tor öffnen müßte: die Pforte zu dem innersten Selbst, das sich nicht preisgeben will, zu jenen kostbarsten Geschenken von Mensch zu Mensch, die, einmal vergeudet, sich nie wieder ganz zurücknehmen lassen, weil sie wir selber sind.</p> <p>Wird im weiblichen erotischen Affekt so viel Psychisches sogar wider Willen in die Physis mit hineingerissen, so gewahrt man aus den gleichen Ursachen das entgegengesetzte Schauspiel bei geistigen Erkrankungen. In seinem Werk „Die sexuelle Frage“ erörtert Forel diese Tatsache, daß die Sexualität, bei den Männern die niedern Hirnzentren affizierend, beim Weibe im Großhirn lokalisiert erscheine, „dem Sitz der Geistesstörungen“. „Wenn man, selbst in weiblicher Begleitung, durch die Männerabteilung der Irrenanstalt geht, ist man über die blöde Gleichgültigkeit und sexuelle Indifferenz fast aller geisteskranken Männer erstaunt,“ sagt er, und von den Frauen: „selbst die sittsamsten und sexuell kühlsten Frauen können, wenn sie geistig erkranken, dem wildesten Erotismus verfallen, und zeitweilig sich wie Prostituierte aufführen.“ So wird selbst das letzte Wort, selbst das geistiger Zerstörung, selbst das des tragisch ungewollt Dirnenhaften im Weibe, noch zur Bestätigung für das All-eine, das ihr die Liebe ist.</p> <p>Das Wesenbestimmendere des Sexualcharakters für das Weib läßt die Entwicklung auch des gesundesten in einer </p> </div> </body> </text> </TEI> [47/0047]
aber wäre es denkbar, daß klare Erkenntnis sie der eigenen Leiblichkeit etwas anders gegenüberstellte als früher. Eine neue, feine Scham ließe sich denken, die nicht der leiblichen Hingegebenheit so prüde mehr gilt, wie die traditionelle Erziehung es zur zweiten Natur machte, sondern eher im Gegenteil grade deshalb zu jeder Selbstzucht sich erzieht, weil die physiologische Genußfreude seelischen Vorgängen Tür und Tor öffnen müßte: die Pforte zu dem innersten Selbst, das sich nicht preisgeben will, zu jenen kostbarsten Geschenken von Mensch zu Mensch, die, einmal vergeudet, sich nie wieder ganz zurücknehmen lassen, weil sie wir selber sind.
Wird im weiblichen erotischen Affekt so viel Psychisches sogar wider Willen in die Physis mit hineingerissen, so gewahrt man aus den gleichen Ursachen das entgegengesetzte Schauspiel bei geistigen Erkrankungen. In seinem Werk „Die sexuelle Frage“ erörtert Forel diese Tatsache, daß die Sexualität, bei den Männern die niedern Hirnzentren affizierend, beim Weibe im Großhirn lokalisiert erscheine, „dem Sitz der Geistesstörungen“. „Wenn man, selbst in weiblicher Begleitung, durch die Männerabteilung der Irrenanstalt geht, ist man über die blöde Gleichgültigkeit und sexuelle Indifferenz fast aller geisteskranken Männer erstaunt,“ sagt er, und von den Frauen: „selbst die sittsamsten und sexuell kühlsten Frauen können, wenn sie geistig erkranken, dem wildesten Erotismus verfallen, und zeitweilig sich wie Prostituierte aufführen.“ So wird selbst das letzte Wort, selbst das geistiger Zerstörung, selbst das des tragisch ungewollt Dirnenhaften im Weibe, noch zur Bestätigung für das All-eine, das ihr die Liebe ist.
Das Wesenbestimmendere des Sexualcharakters für das Weib läßt die Entwicklung auch des gesundesten in einer
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2012-08-21T15:30:31Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2012-08-21T15:30:31Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |