Andolt, Ernst [d. i. Bernhard Abeken]: Eine Nacht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–287. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.erfüllen, nach Helmstedt in die Arme meiner schwergeprüften Mutter. Welch ein Wiedersehen! -- Ja, das waren glückliche Tage. Aber sie waren kurz. Meine Mutter lebte in den dürftigsten Verhältnissen; und so sehr sie mir ihren Mangel unter einem Aufwand von Pflege und Frohsinn zu verbergen suchte, so erröthete ich doch bei dem Gedanken, ihr anstatt eine Stütze -- noch immer eine Bürde zu sein. Ich hatte bereits an Herrn von Stawitz geschrieben und die freilich Wohl zu erwartende Antwort erhalten, daß die mir zugedachte Stelle längst anderweit vergeben sei. Ueber den Baron, für den ich ins Gefängniß gewandert, erfuhr ich bei dieser Gelegenheit, daß er damals glücklich nach Rußland entkommen sei und daselbst in der Armee Dienste genommen habe. Auch von ihm war also vor der Hand nichts zu hoffen. In dieser niederdrückenden Lage erhielt ich von einem benachbarten Gutsbesitzer, Amtmann O., die Aufforderung, gegen ein allerdings sehr geringes Honorar den Unterricht seiner Sohne zu übernehmen. Obgleich mir der Charakter des Mannes nicht eben günstig geschildert wurde, betrachtete ich doch dieses Anerbieten als eine gütige Fügung des Himmels, wobei mich besonders der Gedanke beglückte, meiner armen Mutter in diesen gefahrvollen Zeiten so nahe zu bleiben. Ich eilte daher, den Amtmann brieflich von der Annahme des Engagements zu benachrichtigen, und einige Tage darauf schickte er mir eine Calesche, welche mich nach seinem Gute beförderte. Ich langte gegen Mittag daselbst an und wurde sogleich durch einen wohlgepflegten Gemüsegarten zu meinem neuen Patron geführt, welcher in einer dunklen Laube bei einer halbgeleerten Flasche Burgunder saß und seine Pfeife rauchte. Ohne bei meiner Begrüsung sich zu erheben, deutete er auf eine in der Laube befindliche Bank und befahl dem Bedienten, welcher mich zu ihm geführt hatte, noch ein Glas und eine Flasche erfüllen, nach Helmstedt in die Arme meiner schwergeprüften Mutter. Welch ein Wiedersehen! — Ja, das waren glückliche Tage. Aber sie waren kurz. Meine Mutter lebte in den dürftigsten Verhältnissen; und so sehr sie mir ihren Mangel unter einem Aufwand von Pflege und Frohsinn zu verbergen suchte, so erröthete ich doch bei dem Gedanken, ihr anstatt eine Stütze — noch immer eine Bürde zu sein. Ich hatte bereits an Herrn von Stawitz geschrieben und die freilich Wohl zu erwartende Antwort erhalten, daß die mir zugedachte Stelle längst anderweit vergeben sei. Ueber den Baron, für den ich ins Gefängniß gewandert, erfuhr ich bei dieser Gelegenheit, daß er damals glücklich nach Rußland entkommen sei und daselbst in der Armee Dienste genommen habe. Auch von ihm war also vor der Hand nichts zu hoffen. In dieser niederdrückenden Lage erhielt ich von einem benachbarten Gutsbesitzer, Amtmann O., die Aufforderung, gegen ein allerdings sehr geringes Honorar den Unterricht seiner Sohne zu übernehmen. Obgleich mir der Charakter des Mannes nicht eben günstig geschildert wurde, betrachtete ich doch dieses Anerbieten als eine gütige Fügung des Himmels, wobei mich besonders der Gedanke beglückte, meiner armen Mutter in diesen gefahrvollen Zeiten so nahe zu bleiben. Ich eilte daher, den Amtmann brieflich von der Annahme des Engagements zu benachrichtigen, und einige Tage darauf schickte er mir eine Calesche, welche mich nach seinem Gute beförderte. Ich langte gegen Mittag daselbst an und wurde sogleich durch einen wohlgepflegten Gemüsegarten zu meinem neuen Patron geführt, welcher in einer dunklen Laube bei einer halbgeleerten Flasche Burgunder saß und seine Pfeife rauchte. Ohne bei meiner Begrüsung sich zu erheben, deutete er auf eine in der Laube befindliche Bank und befahl dem Bedienten, welcher mich zu ihm geführt hatte, noch ein Glas und eine Flasche <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0039"/> erfüllen, nach Helmstedt in die Arme meiner schwergeprüften Mutter. Welch ein Wiedersehen! — Ja, das waren glückliche Tage. </p><lb/> <p>Aber sie waren kurz. Meine Mutter lebte in den dürftigsten Verhältnissen; und so sehr sie mir ihren Mangel unter einem Aufwand von Pflege und Frohsinn zu verbergen suchte, so erröthete ich doch bei dem Gedanken, ihr anstatt eine Stütze — noch immer eine Bürde zu sein. Ich hatte bereits an Herrn von Stawitz geschrieben und die freilich Wohl zu erwartende Antwort erhalten, daß die mir zugedachte Stelle längst anderweit vergeben sei. Ueber den Baron, für den ich ins Gefängniß gewandert, erfuhr ich bei dieser Gelegenheit, daß er damals glücklich nach Rußland entkommen sei und daselbst in der Armee Dienste genommen habe. Auch von ihm war also vor der Hand nichts zu hoffen. </p><lb/> <p>In dieser niederdrückenden Lage erhielt ich von einem benachbarten Gutsbesitzer, Amtmann O., die Aufforderung, gegen ein allerdings sehr geringes Honorar den Unterricht seiner Sohne zu übernehmen. Obgleich mir der Charakter des Mannes nicht eben günstig geschildert wurde, betrachtete ich doch dieses Anerbieten als eine gütige Fügung des Himmels, wobei mich besonders der Gedanke beglückte, meiner armen Mutter in diesen gefahrvollen Zeiten so nahe zu bleiben. Ich eilte daher, den Amtmann brieflich von der Annahme des Engagements zu benachrichtigen, und einige Tage darauf schickte er mir eine Calesche, welche mich nach seinem Gute beförderte. </p><lb/> <p>Ich langte gegen Mittag daselbst an und wurde sogleich durch einen wohlgepflegten Gemüsegarten zu meinem neuen Patron geführt, welcher in einer dunklen Laube bei einer halbgeleerten Flasche Burgunder saß und seine Pfeife rauchte. Ohne bei meiner Begrüsung sich zu erheben, deutete er auf eine in der Laube befindliche Bank und befahl dem Bedienten, welcher mich zu ihm geführt hatte, noch ein Glas und eine Flasche<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0039]
erfüllen, nach Helmstedt in die Arme meiner schwergeprüften Mutter. Welch ein Wiedersehen! — Ja, das waren glückliche Tage.
Aber sie waren kurz. Meine Mutter lebte in den dürftigsten Verhältnissen; und so sehr sie mir ihren Mangel unter einem Aufwand von Pflege und Frohsinn zu verbergen suchte, so erröthete ich doch bei dem Gedanken, ihr anstatt eine Stütze — noch immer eine Bürde zu sein. Ich hatte bereits an Herrn von Stawitz geschrieben und die freilich Wohl zu erwartende Antwort erhalten, daß die mir zugedachte Stelle längst anderweit vergeben sei. Ueber den Baron, für den ich ins Gefängniß gewandert, erfuhr ich bei dieser Gelegenheit, daß er damals glücklich nach Rußland entkommen sei und daselbst in der Armee Dienste genommen habe. Auch von ihm war also vor der Hand nichts zu hoffen.
In dieser niederdrückenden Lage erhielt ich von einem benachbarten Gutsbesitzer, Amtmann O., die Aufforderung, gegen ein allerdings sehr geringes Honorar den Unterricht seiner Sohne zu übernehmen. Obgleich mir der Charakter des Mannes nicht eben günstig geschildert wurde, betrachtete ich doch dieses Anerbieten als eine gütige Fügung des Himmels, wobei mich besonders der Gedanke beglückte, meiner armen Mutter in diesen gefahrvollen Zeiten so nahe zu bleiben. Ich eilte daher, den Amtmann brieflich von der Annahme des Engagements zu benachrichtigen, und einige Tage darauf schickte er mir eine Calesche, welche mich nach seinem Gute beförderte.
Ich langte gegen Mittag daselbst an und wurde sogleich durch einen wohlgepflegten Gemüsegarten zu meinem neuen Patron geführt, welcher in einer dunklen Laube bei einer halbgeleerten Flasche Burgunder saß und seine Pfeife rauchte. Ohne bei meiner Begrüsung sich zu erheben, deutete er auf eine in der Laube befindliche Bank und befahl dem Bedienten, welcher mich zu ihm geführt hatte, noch ein Glas und eine Flasche
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Zitationshilfe: | Andolt, Ernst [d. i. Bernhard Abeken]: Eine Nacht. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 22. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 211–287. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/andolt_nacht_1910/39>, abgerufen am 16.07.2024. |