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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852.

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mahnungen war von den Lippen der Mutter geflossen,
und immer besann sie sich, daß sie doch noch etwas
Anderes, etwas Neues zu sagen hatte.

Jetzt nahte die Scheidestunde. Adelheid konnte
nicht zum Abendessen bleiben, der Wagen der Hof¬
dame, der sie nach dem Palais bringen sollte, war
angemeldet. Der Vater hatte eigentlich am wenigsten
mit ihr gesprochen. Jetzt legte er seine Arme um
ihre Schultern: "Du, mein geliebtes Kind, mein
Bijou! Nun ich Dich verlieren soll, begreife ich erst,
was ich in Dir gehabt habe. Und was ich hätte in
Dir haben können! Liebe Adelheid, ich hätte Dich
mehr lieben können, dann wäre ich Dir mehr gewe¬
sen und Du mehr mir. Ich hätte Dich besser ver¬
standen, und Manches wäre besser -- vielleicht! Aber
es hat nicht sein sollen. Andre sagen, der Mensch
gehöre zuerst sich selbst und seiner Familie, und dann
erst seiner Pflicht gegen den Staat. Ich verstand es
anders. Gott wird wissen, wer Recht hat. Wenn
Alles in der Welt wechselt, so wechseln wohl auch
die Ansichten über die Pflichten. Aber ich glaube
doch, wer das thut, was er gelernt hat, daß es recht
sei, der thut Recht, und der himmlische Vater wird
ihm vergeben, wenn er dabei auch mal Unrecht
thut. --"

Adelheid an seinem Halse wollte nichts davon
wissen, daß ihr Vater gegen sie Unrecht gethan; sie
habe sich anzuklagen, daß sie nicht alle Pflichten eines
Kindes gegen ihn erfüllt.

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mahnungen war von den Lippen der Mutter gefloſſen,
und immer beſann ſie ſich, daß ſie doch noch etwas
Anderes, etwas Neues zu ſagen hatte.

Jetzt nahte die Scheideſtunde. Adelheid konnte
nicht zum Abendeſſen bleiben, der Wagen der Hof¬
dame, der ſie nach dem Palais bringen ſollte, war
angemeldet. Der Vater hatte eigentlich am wenigſten
mit ihr geſprochen. Jetzt legte er ſeine Arme um
ihre Schultern: „Du, mein geliebtes Kind, mein
Bijou! Nun ich Dich verlieren ſoll, begreife ich erſt,
was ich in Dir gehabt habe. Und was ich hätte in
Dir haben können! Liebe Adelheid, ich hätte Dich
mehr lieben können, dann wäre ich Dir mehr gewe¬
ſen und Du mehr mir. Ich hätte Dich beſſer ver¬
ſtanden, und Manches wäre beſſer — vielleicht! Aber
es hat nicht ſein ſollen. Andre ſagen, der Menſch
gehöre zuerſt ſich ſelbſt und ſeiner Familie, und dann
erſt ſeiner Pflicht gegen den Staat. Ich verſtand es
anders. Gott wird wiſſen, wer Recht hat. Wenn
Alles in der Welt wechſelt, ſo wechſeln wohl auch
die Anſichten über die Pflichten. Aber ich glaube
doch, wer das thut, was er gelernt hat, daß es recht
ſei, der thut Recht, und der himmliſche Vater wird
ihm vergeben, wenn er dabei auch mal Unrecht
thut. —“

Adelheid an ſeinem Halſe wollte nichts davon
wiſſen, daß ihr Vater gegen ſie Unrecht gethan; ſie
habe ſich anzuklagen, daß ſie nicht alle Pflichten eines
Kindes gegen ihn erfüllt.

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[259/0269] mahnungen war von den Lippen der Mutter gefloſſen, und immer beſann ſie ſich, daß ſie doch noch etwas Anderes, etwas Neues zu ſagen hatte. Jetzt nahte die Scheideſtunde. Adelheid konnte nicht zum Abendeſſen bleiben, der Wagen der Hof¬ dame, der ſie nach dem Palais bringen ſollte, war angemeldet. Der Vater hatte eigentlich am wenigſten mit ihr geſprochen. Jetzt legte er ſeine Arme um ihre Schultern: „Du, mein geliebtes Kind, mein Bijou! Nun ich Dich verlieren ſoll, begreife ich erſt, was ich in Dir gehabt habe. Und was ich hätte in Dir haben können! Liebe Adelheid, ich hätte Dich mehr lieben können, dann wäre ich Dir mehr gewe¬ ſen und Du mehr mir. Ich hätte Dich beſſer ver¬ ſtanden, und Manches wäre beſſer — vielleicht! Aber es hat nicht ſein ſollen. Andre ſagen, der Menſch gehöre zuerſt ſich ſelbſt und ſeiner Familie, und dann erſt ſeiner Pflicht gegen den Staat. Ich verſtand es anders. Gott wird wiſſen, wer Recht hat. Wenn Alles in der Welt wechſelt, ſo wechſeln wohl auch die Anſichten über die Pflichten. Aber ich glaube doch, wer das thut, was er gelernt hat, daß es recht ſei, der thut Recht, und der himmliſche Vater wird ihm vergeben, wenn er dabei auch mal Unrecht thut. —“ Adelheid an ſeinem Halſe wollte nichts davon wiſſen, daß ihr Vater gegen ſie Unrecht gethan; ſie habe ſich anzuklagen, daß ſie nicht alle Pflichten eines Kindes gegen ihn erfüllt. 17*

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Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 5. Berlin, 1852, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe05_1852/269>, abgerufen am 24.11.2024.