rücke stößt. Das ist die Politik der Natur; Könige und Kammerdiener, Kluge und Dumme üben sie, und es giebt, die meinen, daß die Welt nur durch sie besteht."
Wer hatte diese unglückliche Frau bis zu die¬ sem Aeußersten gereizt? So hatte sie sich nie ihm gezeigt. Sie schien seine Gedanken zu lesen:
"Hat meine Aufwallung Sie erschreckt? Beru¬ higen Sie sich, mein Herr, ich werde auch wieder ruhig werden. Es ist zuweilen Bedürfniß, sich ge¬ gen Menschen auszusprechen, von denen wir glauben, daß sie uns verstehen."
Sie war ans Fenster getreten, aber mit einem Umweg und Seitenblick auf den Spiegel, wie Walter, jetzt aufmerksamer, bemerkte. Sie hatte das Fenster geöffnet, um Luft zu schöpfen, aber sie hatte mit dem Tuche rasch die Toilette ihrer Physiognomie gebessert. Als sie sich zu unserm Bekannten umwandte, war das Gesicht ein anderes, die fieberhafte Aufregung war verschwunden, die Augen stachen noch, aber glühten nicht mehr, es war der lauernde, ernste Aus¬ druck, der in ihren Zügen fesselte und abstieß.
"Ich gab mich Ihnen eben ganz wie ich bin, Sie konnten das geheimste Fältchen in meiner Seele lesen. Ich überlasse Ihnen, davon Gebrauch zu ma¬ chen, wie Sie wollen, denn ich bin nicht so albern, zu glauben, daß ein Rest von Dankbarkeit und Pietät Sie bestimmen sollte, mich zu schonen. Nein, be¬ urtheilen Sie mich, klagen Sie mich an vor der
rücke ſtößt. Das iſt die Politik der Natur; Könige und Kammerdiener, Kluge und Dumme üben ſie, und es giebt, die meinen, daß die Welt nur durch ſie beſteht.“
Wer hatte dieſe unglückliche Frau bis zu die¬ ſem Aeußerſten gereizt? So hatte ſie ſich nie ihm gezeigt. Sie ſchien ſeine Gedanken zu leſen:
„Hat meine Aufwallung Sie erſchreckt? Beru¬ higen Sie ſich, mein Herr, ich werde auch wieder ruhig werden. Es iſt zuweilen Bedürfniß, ſich ge¬ gen Menſchen auszuſprechen, von denen wir glauben, daß ſie uns verſtehen.“
Sie war ans Fenſter getreten, aber mit einem Umweg und Seitenblick auf den Spiegel, wie Walter, jetzt aufmerkſamer, bemerkte. Sie hatte das Fenſter geöffnet, um Luft zu ſchöpfen, aber ſie hatte mit dem Tuche raſch die Toilette ihrer Phyſiognomie gebeſſert. Als ſie ſich zu unſerm Bekannten umwandte, war das Geſicht ein anderes, die fieberhafte Aufregung war verſchwunden, die Augen ſtachen noch, aber glühten nicht mehr, es war der lauernde, ernſte Aus¬ druck, der in ihren Zügen feſſelte und abſtieß.
„Ich gab mich Ihnen eben ganz wie ich bin, Sie konnten das geheimſte Fältchen in meiner Seele leſen. Ich überlaſſe Ihnen, davon Gebrauch zu ma¬ chen, wie Sie wollen, denn ich bin nicht ſo albern, zu glauben, daß ein Reſt von Dankbarkeit und Pietät Sie beſtimmen ſollte, mich zu ſchonen. Nein, be¬ urtheilen Sie mich, klagen Sie mich an vor der
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0071"n="61"/>
rücke ſtößt. Das iſt die Politik der Natur; Könige<lb/>
und Kammerdiener, Kluge und Dumme üben ſie,<lb/>
und es giebt, die meinen, daß die Welt nur durch<lb/>ſie beſteht.“</p><lb/><p>Wer hatte dieſe unglückliche Frau bis zu die¬<lb/>ſem Aeußerſten gereizt? So hatte ſie ſich nie ihm<lb/>
gezeigt. Sie ſchien ſeine Gedanken zu leſen:</p><lb/><p>„Hat meine Aufwallung Sie erſchreckt? Beru¬<lb/>
higen Sie ſich, mein Herr, ich werde auch wieder<lb/>
ruhig werden. Es iſt zuweilen Bedürfniß, ſich ge¬<lb/>
gen Menſchen auszuſprechen, von denen wir glauben,<lb/>
daß ſie uns verſtehen.“</p><lb/><p>Sie war ans Fenſter getreten, aber mit einem<lb/>
Umweg und Seitenblick auf den Spiegel, wie Walter,<lb/>
jetzt aufmerkſamer, bemerkte. Sie hatte das Fenſter<lb/>
geöffnet, um Luft zu ſchöpfen, aber ſie hatte mit dem<lb/>
Tuche raſch die Toilette ihrer Phyſiognomie gebeſſert.<lb/>
Als ſie ſich zu unſerm Bekannten umwandte, war<lb/>
das Geſicht ein anderes, die fieberhafte Aufregung<lb/>
war verſchwunden, die Augen ſtachen noch, aber<lb/>
glühten nicht mehr, es war der lauernde, ernſte Aus¬<lb/>
druck, der in ihren Zügen feſſelte und abſtieß.</p><lb/><p>„Ich gab mich Ihnen eben ganz wie ich bin,<lb/>
Sie konnten das geheimſte Fältchen in meiner Seele<lb/>
leſen. Ich überlaſſe Ihnen, davon Gebrauch zu ma¬<lb/>
chen, wie Sie wollen, denn ich bin nicht ſo albern,<lb/>
zu glauben, daß ein Reſt von Dankbarkeit und Pietät<lb/>
Sie beſtimmen ſollte, mich zu ſchonen. Nein, be¬<lb/>
urtheilen Sie mich, klagen Sie mich an vor der<lb/></p></div></body></text></TEI>
[61/0071]
rücke ſtößt. Das iſt die Politik der Natur; Könige
und Kammerdiener, Kluge und Dumme üben ſie,
und es giebt, die meinen, daß die Welt nur durch
ſie beſteht.“
Wer hatte dieſe unglückliche Frau bis zu die¬
ſem Aeußerſten gereizt? So hatte ſie ſich nie ihm
gezeigt. Sie ſchien ſeine Gedanken zu leſen:
„Hat meine Aufwallung Sie erſchreckt? Beru¬
higen Sie ſich, mein Herr, ich werde auch wieder
ruhig werden. Es iſt zuweilen Bedürfniß, ſich ge¬
gen Menſchen auszuſprechen, von denen wir glauben,
daß ſie uns verſtehen.“
Sie war ans Fenſter getreten, aber mit einem
Umweg und Seitenblick auf den Spiegel, wie Walter,
jetzt aufmerkſamer, bemerkte. Sie hatte das Fenſter
geöffnet, um Luft zu ſchöpfen, aber ſie hatte mit dem
Tuche raſch die Toilette ihrer Phyſiognomie gebeſſert.
Als ſie ſich zu unſerm Bekannten umwandte, war
das Geſicht ein anderes, die fieberhafte Aufregung
war verſchwunden, die Augen ſtachen noch, aber
glühten nicht mehr, es war der lauernde, ernſte Aus¬
druck, der in ihren Zügen feſſelte und abſtieß.
„Ich gab mich Ihnen eben ganz wie ich bin,
Sie konnten das geheimſte Fältchen in meiner Seele
leſen. Ich überlaſſe Ihnen, davon Gebrauch zu ma¬
chen, wie Sie wollen, denn ich bin nicht ſo albern,
zu glauben, daß ein Reſt von Dankbarkeit und Pietät
Sie beſtimmen ſollte, mich zu ſchonen. Nein, be¬
urtheilen Sie mich, klagen Sie mich an vor der
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852/71>, abgerufen am 05.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.