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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852.

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rücke stößt. Das ist die Politik der Natur; Könige
und Kammerdiener, Kluge und Dumme üben sie,
und es giebt, die meinen, daß die Welt nur durch
sie besteht."

Wer hatte diese unglückliche Frau bis zu die¬
sem Aeußersten gereizt? So hatte sie sich nie ihm
gezeigt. Sie schien seine Gedanken zu lesen:

"Hat meine Aufwallung Sie erschreckt? Beru¬
higen Sie sich, mein Herr, ich werde auch wieder
ruhig werden. Es ist zuweilen Bedürfniß, sich ge¬
gen Menschen auszusprechen, von denen wir glauben,
daß sie uns verstehen."

Sie war ans Fenster getreten, aber mit einem
Umweg und Seitenblick auf den Spiegel, wie Walter,
jetzt aufmerksamer, bemerkte. Sie hatte das Fenster
geöffnet, um Luft zu schöpfen, aber sie hatte mit dem
Tuche rasch die Toilette ihrer Physiognomie gebessert.
Als sie sich zu unserm Bekannten umwandte, war
das Gesicht ein anderes, die fieberhafte Aufregung
war verschwunden, die Augen stachen noch, aber
glühten nicht mehr, es war der lauernde, ernste Aus¬
druck, der in ihren Zügen fesselte und abstieß.

"Ich gab mich Ihnen eben ganz wie ich bin,
Sie konnten das geheimste Fältchen in meiner Seele
lesen. Ich überlasse Ihnen, davon Gebrauch zu ma¬
chen, wie Sie wollen, denn ich bin nicht so albern,
zu glauben, daß ein Rest von Dankbarkeit und Pietät
Sie bestimmen sollte, mich zu schonen. Nein, be¬
urtheilen Sie mich, klagen Sie mich an vor der

rücke ſtößt. Das iſt die Politik der Natur; Könige
und Kammerdiener, Kluge und Dumme üben ſie,
und es giebt, die meinen, daß die Welt nur durch
ſie beſteht.“

Wer hatte dieſe unglückliche Frau bis zu die¬
ſem Aeußerſten gereizt? So hatte ſie ſich nie ihm
gezeigt. Sie ſchien ſeine Gedanken zu leſen:

„Hat meine Aufwallung Sie erſchreckt? Beru¬
higen Sie ſich, mein Herr, ich werde auch wieder
ruhig werden. Es iſt zuweilen Bedürfniß, ſich ge¬
gen Menſchen auszuſprechen, von denen wir glauben,
daß ſie uns verſtehen.“

Sie war ans Fenſter getreten, aber mit einem
Umweg und Seitenblick auf den Spiegel, wie Walter,
jetzt aufmerkſamer, bemerkte. Sie hatte das Fenſter
geöffnet, um Luft zu ſchöpfen, aber ſie hatte mit dem
Tuche raſch die Toilette ihrer Phyſiognomie gebeſſert.
Als ſie ſich zu unſerm Bekannten umwandte, war
das Geſicht ein anderes, die fieberhafte Aufregung
war verſchwunden, die Augen ſtachen noch, aber
glühten nicht mehr, es war der lauernde, ernſte Aus¬
druck, der in ihren Zügen feſſelte und abſtieß.

„Ich gab mich Ihnen eben ganz wie ich bin,
Sie konnten das geheimſte Fältchen in meiner Seele
leſen. Ich überlaſſe Ihnen, davon Gebrauch zu ma¬
chen, wie Sie wollen, denn ich bin nicht ſo albern,
zu glauben, daß ein Reſt von Dankbarkeit und Pietät
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[61/0071] rücke ſtößt. Das iſt die Politik der Natur; Könige und Kammerdiener, Kluge und Dumme üben ſie, und es giebt, die meinen, daß die Welt nur durch ſie beſteht.“ Wer hatte dieſe unglückliche Frau bis zu die¬ ſem Aeußerſten gereizt? So hatte ſie ſich nie ihm gezeigt. Sie ſchien ſeine Gedanken zu leſen: „Hat meine Aufwallung Sie erſchreckt? Beru¬ higen Sie ſich, mein Herr, ich werde auch wieder ruhig werden. Es iſt zuweilen Bedürfniß, ſich ge¬ gen Menſchen auszuſprechen, von denen wir glauben, daß ſie uns verſtehen.“ Sie war ans Fenſter getreten, aber mit einem Umweg und Seitenblick auf den Spiegel, wie Walter, jetzt aufmerkſamer, bemerkte. Sie hatte das Fenſter geöffnet, um Luft zu ſchöpfen, aber ſie hatte mit dem Tuche raſch die Toilette ihrer Phyſiognomie gebeſſert. Als ſie ſich zu unſerm Bekannten umwandte, war das Geſicht ein anderes, die fieberhafte Aufregung war verſchwunden, die Augen ſtachen noch, aber glühten nicht mehr, es war der lauernde, ernſte Aus¬ druck, der in ihren Zügen feſſelte und abſtieß. „Ich gab mich Ihnen eben ganz wie ich bin, Sie konnten das geheimſte Fältchen in meiner Seele leſen. Ich überlaſſe Ihnen, davon Gebrauch zu ma¬ chen, wie Sie wollen, denn ich bin nicht ſo albern, zu glauben, daß ein Reſt von Dankbarkeit und Pietät Sie beſtimmen ſollte, mich zu ſchonen. Nein, be¬ urtheilen Sie mich, klagen Sie mich an vor der

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Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 4. Berlin, 1852, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe04_1852/71>, abgerufen am 10.05.2024.